Zurück aus der Zukunft - die ewige Bildungsreform

Bund oder Länder - oder beide? Gesamtschule oder Gymnasium - ja, nein, vielleicht, weiß nicht? Seit über einem Jahrhundert debattieren SPÖ und ÖVP hitzig, aber ergebnislos dieselben Fragen.

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Alle freuten sich auf ihre eigene Art. "Das Bildungssystem geht in eine neue Zeit“, tönte Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek staatstragend, Staatssekretär Harald Mahrer griff zur Formulierung: "Das ist fast geil.“

Seit Jänner wurde verhandelt, vergangene Woche die Bildungsreform vorgestellt, die durchaus interessante Details beinhaltet, etwa das zweite Kindergartenjahr. Zwei Dauerprobleme des heimischen Schulsystems werden aber, wieder einmal, vertagt. Das hat Methode - seit vielen Jahrzehnten.

148 Jahre Föderalismusstreit

Wer hat im Schulwesen das Sagen? Bis zum Jahr 1867 war die Antwort darauf eindeutig: die Kirche. Ab da wurde es knifflig - und ein endloser Streit zwischen Bund und Ländern um die Bildungshoheit begann, der bis heute mit derselben Verve und im Grunde mit denselben Argumenten geführt wird wie in der Monarchie und in der Ersten Republik.

148 Jahre Föderalismusdebatte im Schnelldurchlauf: 1867, in der kurzen Phase der liberalen Mehrheit im Reichsrat, wurde das Muster beschlossen, das bis heute dominiert: Die Grundsatzgesetzgebung im Schulwesen galt als Domäne des Reichsrates, die Ausführungsgesetze konnten die Länder der damaligen Doppelmonarchie festlegen.

Man kann es nicht aus der Erinnerung bannen, welch Schindluder die Länder mit der Schule getrieben haben.

Im Jahr 1920 dann, in den Aufbaujahren der Ersten Republik, waren die unversöhnlichen Standpunkte zwischen SPÖ und ÖVP bereits bezogen, die bis heute alle Schulreformen blockieren. Für die Sozialdemokratie donnerte im September 1920 Karl Leuthner ein flammendes Plädoyer für Zentralismus in den Nationalratssitzungssaal: "Man kann es nicht aus der Erinnerung bannen, welch Schindluder die Länder mit der Schule getrieben haben.“

Nicht minder leidenschaftlich konterte für die Christlichsozialen Leopold Kunschak, einer der späteren Mitgründer der ÖVP, mit einer Hommage an den Föderalismus: "Die Länder sind historische Individualitäten. Den Ländern Gewalt anzutun, diese zu verleugnen oder zu unterdrücken, würde bedeuten, dem Staat, noch bevor er gebildet ist, den Nachruf zu scheiben.“

Man konnte sich nur darauf einigen, sich nicht zu einigen, ließ die Verfassung ohne Schulfrage schreiben und verhängte eine Nachdenkpause. Die dauerte immerhin 42 Jahre lang - und änderte an den ideologischen Differenzen zwischen SPÖ und ÖVP so gut wie nichts.

Darüber konnten auch die Festreden am 18. Juli 1962 im Parlament nicht hinwegtäuschen. Für die ÖVP freute sich zwar Ludwig Weiß, dass "an einem bedeutungsvollen Tag in der Geschichte der Republik ein fast 100-jähriger Schulkampf beendet ist“, für die SPÖ lobte Otto Winter: "Der Stellungskrieg ist vorbei.“ Mit großem Pomp wurde ein klassischer großkoalitionärer Kompromiss zwischen Zentralisten und Föderalisten beschlossen: Der Bund sollte für Schulgesetze zuständig sein - und die Länder für deren Vollziehung.

Damit blieben eigentlich alle Fragen offen. Und ausreichend Deutungsspielraum, in dem Landeshauptleute in regelmäßigen Abständen auf die Verländerung der Schulverwaltung pochen - und Unterrichtsminister mehr Macht für den Bund einfordern konnten.

148 Jahre nach dem Ausbruch des Kampfes zwischen Föderalisten und Zentralisten im Schulwesen entschieden sich Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und Staatssekretär Harald Mahrer, den Streit nicht zu lösen - und eine neue Behörde zu kreieren: die Bildungsdirektionen, ein exakter Bund-Länder-Zwitter. Damit steht der Fortsetzung der Endlosdebatte um die Bildungshoheit nichts im Weg, bis zur nächsten angeblichen Bildungsreform.

103 Jahre Schulversuch

Wie lange muss ein Schulversuch dauern, bis erste aussagekräftige Ergebnisse vorliegen? In Österreich lässt sich die Frage aus Erfahrung so beantworten: Unter einem Jahrhundert geht gar nichts. Das ist wahrscheinlich Weltrekord.

Im Jahr 1922 startete Otto Glöckel, der Präsident des Wiener Stadtschulrates, unter internationaler Beachtung den damals weltweit größten Schulversuch: An 18 Wiener Schulen ließ er die gemeinsame Schule für 10- bis 14-Jährige erproben, eine frühe Version der Gesamtschule, die eigentlich wissenschaftlich ausgewertet werden sollte, letztlich im Jahr 1927 bloß in einen Kompromiss mündete: Die Trennung in Hauptschule und Gymnasium blieb, sie bekamen aber idente Lehrpläne. Diese Form der dadaistischen Scheinlösungen sollte Schule machen.

Wir müssen den Mut haben, das 120 Jahre alte, zum großen Teil unverändert gebliebene Gymnasium dem modernen Leben anzupassen.

49 Jahre, ein Bildungsvolksbegehren, etliche Bildungsreformkommissionen und viele ideologische Debatten später war man wieder so weit wie im Jahr 1922: Die Gesamtschule wurde im Schulversuch erprobt. "Wir müssen den Mut haben, das 120 Jahre alte, zum großen Teil unverändert gebliebene Gymnasium dem modernen Leben anzupassen“, argumentierte der SPÖ-Abgeordnete Hubert Zankl im Jahr 1971 im Nationalrat - und fand überraschend viel Zustimmung bei der ÖVP.

Deren steirischer Abgeordnete Adolf Harwalik, ein ehemaliger Hauptschuldirektor, hielt ein aus heutiger Sicht bemerkenswertes Plädoyer für die gemeinsame Schule: "Das heißumstrittene Thema der Gesamtschule verlangt ein offenes Wort. Mir ist ihre ideologische Verdächtigung unsympathisch. Die Gesamtschule hat ihre Anhänger in allen weltanschaulichen Lagern und nichts zu tun mit der sogenannten Einheitsschule. Nun müssen die Schulversuche beweisen, ob mit der Gesamtschule die Überwindung der nicht zu leugnenden Mängel unseres Schulsystems gelingt.“

Mit einer derartigen Rede würde er heute von den Gymnasium-Fans unter seinen Parteifreunden pikierte Blicke ernten. 1971 aber schien der Weg für Reform frei - wenn auch SPÖ und ÖVP hitzig darüber stritten, wie viel Prozent der Schulen zur Modellregion werden sollten. Man einigte sich auf zehn Prozent und eine genaue Evaluierung dieser Schulversuche, die dann die endgültige Entscheidung bringen sollte, ob die Gesamtschule eingeführt - oder ad acta gelegt wird.

44 Jahre nach diesen energischen Beschlüssen und guten Vorsätzen verkündeten SPÖ-Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer vergangene Woche den Schritt zurück in die Zukunft: Die Gesamtschule soll, wieder einmal, in Modellregionen getestet werden, diesmal in maximal 15 Prozent der Schulstandorte. Die Evaluierung ist für das Jahr 2025 vorgesehen, exakt 103 Jahre nach dem ersten großen Schulversuch zur Gesamtschule.

Wenn das bisherige Muster fortgesetzt wird, kommt die Evaluierung nie. Dafür ungefähr im Jahr 2055 der nächste Anlauf für Schulversuche.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin