Der Johnny-Jordaan-Platz mit Musiker-Denkmal.

Ende des Elysiums: Eine Reise nach Amsterdam

Amsterdam hat den Ruf einer Flüchtlingsarche. Joseph Roth fand hier Zuflucht vor der Verfolgung durch die Nazis, Anne Frank verbarg sich 25 Monate lang in einem Hinterhaus. Auf die aktuelle Auswandererwelle reagiert die Kapitale zwiespältig. Reise in eine Stadt im Umbruch.

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Man wohnt hier ganzjährig auf fest verankerten Schiffen. Streckt ein Baum auf einer der Gassen der Stadt seine Zweige vor ein Wohnzimmerfenster, freuen sich die Anrainer über den „Giebelgarten“. In ehemaligen Kirchen treten Popstars auf, das einstige Gefängnis beherbergt ein Spielcasino. Das Ziel ist die egalitäre Gesellschaft, die sich paradoxerweise eine Königsfamilie leistet. In Amsterdam gehen unterschiedliche Dinge ziemlich gut zusammen.

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Die Stadt mit ihren 800.000 Einwohnern, die sich aus bis zu 150 unterschiedlichen Nationalitäten zusammensetzen, wurde früh zu einem Inbegriff der Toleranz und Offenheit. Bereits im 17. Jahrhundert wird Amsterdam nach den Worten des zeitgenössischen Philosophen Pierre Bayle zur „großen Flüchtlingsarche“. Der massenhafte Zuzug von Fremden steht am Beginn des sogenannten „Goldenen Zeitalters“. Amsterdam steigt zu den bedeutendsten Städten des damaligen Europas auf, wird eine wirtschaftliche und koloniale Großmacht. Australien trägt im 17. Jahrhundert den Namen Neuholland. Juden aus Portugal, Polen aus Deutschland, Hugenotten aus Frankreich finden hier eine neue Heimat. In den Nachbarstaaten werden Frauen als Hexen verbrannt, und von religiösem Fanatismus motivierte Todesurteile sind an der Tagesordnung. In Amsterdam dagegen wird eine neue, von Miteinander und Solidarität bestimmte Form bürgerlichen Lebens geprobt. Viele Amsterdamer kennen noch heute den zweiten Namen für die urbane Region: Mokum, nach dem hebräischen Wort „Makoom“ für Stadt. Juden wurden in Spanien und im Frankreich des 17. Jahrhunderts verfolgt – in Amsterdam waren Religions- und Handelsfreiheiten garantiert. Von Coenraad van Beuningen, einem Amsterdamer Regenten der Zeit, ist der Satz überliefert: „Sire, angesichts der Tatsache, dass alle Länder sie verjagen, muss Amsterdam sie eben aufnehmen!“ Im Begijnhof, einer Grünwohnanlage im Zentrum, in der sich das älteste, um 1470 erbauten Haus der Stadt findet, heißt die Englisch-Presbyterianische Kirche seit über 400 Jahren Fremde mit einem Portalspruch willkommen: „Within these walls let noone be a stranger.“ Elysische Zustände. Ein Teil der Geschichte Amsterdams lässt sich mit Flüchtlingsgeschichten erzählen. Mit der wahrhaft beschämenden Gegenwart der Flüchtlingskrise tut sich Amsterdam dagegen sonderbar schwer.

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Für Els Snick ist die Stadt Expeditionsterrain. Quirlig streift die Literaturwissenschafterin durch Amsterdam, immer auf der Suche nach Spuren des österreichischen Journalisten und Romanciers Joseph Roth, der 1936 auf der Flucht vor dem NS-Regime nach Holland emigriert war. Snick, 49, sichtet jeden Hinweis, seit ihr vor mehr als zehn Jahren auf dem wöchentlichen Büchermarkt am Het Spui im Amsterdamer Zentrum ein Exemplar von Roths Roman „Hiob“ aus dem Jahr 1933 in die Hände fiel, erschienen bei Allert de Lange, Amsterdam, einem der wichtigen deutschen Exilliteraturverlage. Snick wollte auf dem Buchbasar Lektüre für eine längere Zugsfahrt kaufen. Autor und Verlagsforschung ließen sie seitdem nicht mehr los. „Damals ging mir blitzartig auf, dass ein Teil des kulturellen Erbes in den Niederlanden gerettet wurde.“

Roth ist ihre Passion. Sie hat 2009 die Amsterdamer Dependance der Joseph-Roth-Gesellschaft gegründet. Snick sorgte dafür, dass zwei Erinnerungsplaketten in Amsterdam an Joseph Roths Exilodyssee, in der die Stadt eine wichtige Zwischenstation war, erinnern, eine davon in einem Café, die andere an einem Hotel. Sie ist den Weg des Schriftstellers durch Deutschland und Österreich nachgereist und hat in denselben Hotels wie Roth, dem das Unterwegssein Dauerzustand war, übernachtet. Sie erzählte großflächig tätowierten Hoteleignern von dem berühmten historischen Gast – und erntete ratloses Schulterzucken. Spricht Els Snick über Roth, überzeugt sie sich mit prüfendem Blick, wie weit ihr Gegenüber bereit ist, ihrer schier endlosen Liebesgeschichte mit dem Autor zu folgen. Ihre Begeisterung tendiert gelegentlich zur Besessenheit.

In beigem Staubmantel folgt sie den Schriftstellerspuren durch Amsterdam. „Rothwandeling“, lacht sie. Roth-Wandern. In ihrer beutelartigen Handtasche steckt der Roman „Rechts und links“, von Roth 1929 publiziert. Sie liest die 150-Euro-Erstausgabe.

Man muss sich Roth in Amsterdam als kleinen Teufel in engen Röhrenhosen, über die Schultern drapiertem Sakko und schütterem Scheitel vorstellen, der seine eigene Bosheit genießt, Frauen mit Handkuss und Wienerischem Timbre begrüßt, ein Glas Genever, holländischen Wacholderschnaps, vor sich auf dem Tisch, mit einem Gesicht, in dem sich inmitten des Gelächters, Geredes und Gezisches wohl wenig Frohes spiegelt. Es gibt ein Foto von Roth, auf dem er Mitte 1936 in einer Männerrunde zu sehen ist, in einem Lokal in der Nähe des Amsterdamer Hauptbahnhofs. Die Tischrunde blickt aufschneiderisch in die Kamera. Roth dagegen wirkt abwesend, als ob er längst anderswo sei. Keine Pose, er sitzt einfach da. Mit leerem Blick, wie ein Verurteilter.

Man sollte zugleich aufpassen, denn Roth ist ein Autor, der eine Schleppe von Legenden hinter sich her zieht. Es ist schwer zu sagen, ob die Amsterdamer Kneipengeschichten von Roth stimmen. Aber sie klingen gut, wie auch die Geschichte von Roths Beerdigung, die im Streit endete, als sich Ende Mai 1939 am Grab ein katholischer Priester, ein Rabbi und ein Kommunist einfanden. „Der Priester wollte aus dem Neuen Testament lesen, der Rabbi den Kaddisch sprechen. Der Kommunist beteuerte, Roth habe nie an Gott geglaubt“, erzählt Snick die Anekdote. Ein Durcheinander, wie es schöner nicht zu haben ist. „Seine Literatur dagegen ist schiere Genauigkeit, die Bilder, die er von Menschen zeichnet, sind so exakt wie stimmig.“

1936 ist Roth im Eden Hotel untergebracht. Vier Monate lang lebt und arbeitet er in dem traurigen Häuschen mit den vielen Zimmern inmitten eines Dickichts desolater Behausungen, damals wie heute Rotlichtviertel der Stadt. Roths Roman „Die Beichte eines Mörders“ entsteht hier. Der Schriftsteller findet Familienanschluss, ein Mitarbeiter des Eden bringt ihn um ein kleines Vermögen. Gut möglich, dass Roth den Fall in der hier bis heute ansässigen Polizeistation meldet.

An einer der Wände des „Café Scheltema“, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, ist eine kleine, matt gewordene Goldtafel mit eingeprägtem Roth-Zitat und grammatikalisch bedingtem Rechtschreibfehler angebracht: „Dass bin ich wirklich: böse, besoffen, aber gescheit.“ Dazu der Hinweis, dass Roth hier oft Gast gewesen sei. Es lassen sich über zehn weitere Kaffeehäuser, Trinkhallen und Hotels finden, in denen Roth in seiner Amsterdamer Zeit regelmäßig verkehrte. Im „Café Reynders“ und im „Café Americain“ am Leidseplein, einst Klaus Manns bevorzugtes Kaffeehaus, heute touristischer Brennpunkt im Herzen der Stadt, ließ Roth seine Zechtouren regelmäßig ausklingen. Im „Scheltema“ mit seinen dunkel vertäfelten Wänden arbeitete Roth und hielt als Großmeister der scharfen Beobachtungskunst Hof. Alles hat hier seinen Platz.

Das Ofenrohr durchschneidet pittoresk den Raum, wie gemeißelt hängen die Geschirrtücher an Haken. Wenige Gehminuten entfernt, versteckt sich das „Café De Engelse Reet“ in einer der verwinkelten Gassen, ein weiteres Roth-Kaffeehaus, das sich mit einer kleinen Plakette schmückt. Dieses Café zählt wie das „Scheltema“ zur Kategorie der sogenannten „braunen Kneipen“. Tabakrauch beizte diese Lokale während Jahrzehnten zu lichtlosen, dunklen Orten. Der Besitzer des „Engelse Reet“ kippt ein Bild, dahinter cremeweiße Wandfarbe. An den Wänden auch hier Fotos in Sepiatönen aus Wirtschaftswundertagen mit jungen Männern, die in die Kamera lachen. Verlorene Glorie. Lebendige Museen, die in der Hochsaison von Touristenströmen belagert sind. Joseph Roth, dessen Flucht vor dem NS-Terror dunkle Zeitgeschichte illustriert, kennt hier kaum jemand.

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Amsterdamer Fluchtgeschichte auch im Schloss des Kinozaren. Abraham Icek Tuschinski, geboren in der Nähe des heutigen Łódź, eine Stadt anhaltender antijüdischer Pogrome, entschließt sich mit 17 Jahren zur Emigration. In Holland wird er Besitzer einer Kinokette, in der sogenannten Teufelsecke, „Duvelshoek“, heute im Zentrum Amsterdams, lässt er 1921 einen Filmprachtbau errichten. Die Häuser entlang den Kopfsteinpflastergassen werden niedergerissen, um Tuschinskis Traum zu verwirklichen. Der Volksmund nennt den kleinen Mann mit der notorischen Vorliebe bald „Napoleon von der Teufelsecke“. Noch immer recken sich die grünen Türme des palastartigen Baus neben den puppenhaften Häuserensembles der großgewachsenen Kleinstadt stolz in den Himmel. Im Foyer: Grandeur der alten Zeit – Holzschnitzereien, ein kreisrundes, in vielen Farben strahlendes Deckenlicht, Polstermöbel, Wandmalereien, ein Bilderbuchanblick. Klein-Hollywood in Zentral-Amsterdam. Im Mai 1940 wird Tuschinski enteignet und 1943 in Auschwitz vergast.

Theater Tuschinski: Traum des Kinozaren

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Die Denkmäler von Spinoza und Multatuli, eine Erinnerungsplakette im ehemaligen Arbeiterviertel Jordann erzählen weitere Geschichten vom Entkommen und Vertreiben. Der Philosoph und Diamantenschleifer Spinoza, 1632 in der Nähe der Mose-und-Aaron-Kirche am Waterlooplein geboren, wurde seinerzeit als agnostischer Gottessucher von aufgebrachten Frömmlern an den Stadtrand verbannt. Die Aufgabe des Staats sei die Freiheit, ziert ein Spinoza-Spruch inzwischen das Steinmonument für den Denker bei der Stopera, der Konzerthalle der Stadt. Eduard Douwes Dekker (1820–1887) verlieh sich als Schriftsteller das Pseudonym Multatuli. In seinem Roman „Max Havelaar oder Die Kaffeeversteigerung der niederländischen Handelsgesellschaft“, der weitaus angriffiger ist als die Kritteleien eines im 19. Jahrhundert verhafteten Romanciers, prangerte er die kolonialen Geschäfte seines Landes in Niederländisch-Ostindien an. Die Geschichte der nationalsozialistischen Okkupation wird in Amsterdam seit Jahren zaghaft aufgearbeitet, das unbarmherzige Wüten der Holländer in ihren Kolonien harrt noch weitestgehend der kritischen Sichtung. Angefeindet und verfolgt, flüchtete Multatuli ins deutsche Exil. Die Familie Blaeu schließlich, ein weitverzweigter Clan von Emigranten aus Antwerpen, vermaß die Welt des 17. Jahrhunderts. Globen, Schiffskarten und Navigationshilfen, mit deren Unterstützung Holland sein Kolonialreich absicherte, wurden bei Blaeu in einer der Seitenstraßen der Bloemgracht hergestellt, eine Gedenktafel erinnert daran. Weltoffenheit war der Schlüssel zum Erfolg.

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In Amsterdam finden selbst Massenmord und Affenhaus zusammen. Der österreichische Romancier Robert Menasse hat darüber in der kleinen großen Geschichte „Das Ende des Hungerwinters“ erzählt, einer parabelhaften Reflexion über das Erinnern und Erzählen. Menasse berichtet darin von einer Gruppe von Juden, die im Winter 1944 im Amsterdamer Zoo, monatelang verborgen im Affenhaus, Verfolgung und Krieg im nationalsozialistisch besetzten Holland überdauerten. Aufspürung, Hunger und Kälte sind ständige Bedrohungen, in schmutzstarrende Pelzmäntel gehüllt versuchten die Asylanten im Affenkäfig auszuharren. „Es gibt ein Foto von Vater, Mutter und mir, das gleich nach der Befreiung gemacht wurde“, lässt Menasse seinen Ich-Erzähler Max berichten: „Wir stehen da wie kostümierte Affen in unseren dicken dreckigen Pelzen.“ Der Vater in der Erzählung, den die schemenhaft langen Schatten der Vergangenheit noch lange nach Kriegsende quälen, spricht, wie Joseph Roth in seinen Amsterdamer Stammkneipen, dem Genever zu. Sein Leben, das sich in einem Augenblick mit finsterem Weltgeschehen schnitt, konnte der im Käfig verborgene Vater nur weiterführen, weil er den Affenwärter anflehte: „Ich will etwas, was kein Affe kann. Lesen. Ein Buch.“ Gemeinsam mit dem Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“, in dem Menasse den Amsterdamer Spuren seines mutmaßlichen Vorfahren Rabbi Menasseh ben Israel folgt, den Rembrandt 1636 porträtierte, bildet die Hungerwinter-Geschichte zentrale Abschnitte der jüdischen Historie Amsterdams ab.

Auf das von den Nationalsozialisten durchgeführte gigantische Experiment der Entmenschlichung der jüdischen Bevölkerung reagierten die Amsterdamer am 25. Februar 1941. An diesem Tag kam es in der seit Mai 1940 besetzten Stadt infolge der Massenverhaftung von Juden zum Generalstreik. Das Standbild des Dockarbeiters am Jonas Daniël Meijerplein erinnert an den Februarstreik. Das Museum nebenan gedenkt des vertriebenen, vernichteten jüdischen Lebens. Nach dem Krieg nimmt Amsterdam die Worte „Heldenhaft, entschlossen, barmherzig“ in das Stadtwappen auf.

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Klischeehaft präsentiert sich die Einkaufsstraße, die vom Stadttheater am Leidseplein wegführt. In den Schaufenstern lange Reihen von Stoffschuhen mit Spitz, die Mimikry des klobigen Traditionsholzschuhs. Kleiderstangen voller T-Shirts und Pullover mit den ewiggleichen Mega-Joints, giftgrünen XXL-Marihuana-Blättern, „Amsterdam“-Schriftzügen, deren Buchstaben im Weichdrogennebel verwischen. Vor dem Lokal mit den vielen Plätzen und eingeschweißten Speisekarten ein Wachmann mit der Präsenz eines Weidebullen, Knopf im Ohr, das schüttere Haar zu einem dünnen Rossschwanz gedreht, geschult im Keilen und, falls erforderlich, Austeilen. Ein Kerl, in dessen Umkreis nicht allzu viel Gutes gedeiht. Und dann wieder, gleich nebenan, etwas abseits der endlosen touristischen Spirale, ein Lokal mit wackligen Tischen, an denen sich zwanglos eine Freundesrunde zum Vormittagsbier versammelt. Amsterdam ist eine schnelle Metropole. Das Stadtbild wird von jungen Menschen auf Fahrrädern geprägt, die sich in höllischem Tempo über die Fahrwege schlängeln.

Statistisch ist die Stadt abgezirkelt. Jeder Reiseführer reiht die Zahlen auf, bis hin zu den Hebebalken, die giebelnah aus vielen Häusern ragen. 425 unterschiedliche historische Typen von Kranhilfen, mit denen bis heute Umzüge in den Häusern mit den steilen Treppen bewerkstelligt werden, wurden gezählt. 1281 Brücken führen über Wasserwege, 13.659 Holzpfähle stützen den auf sumpfigem Gebiet errichteten Königlichen Palast auf dem Dam-Platz. „In Amsterdam hängt immer alles zusammen. Nimmt man einen Pfeiler raus, stürzt der Rest dominogleich“, stichelt Reinhold Bertlein.

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Bertlein ähnelt dem jungen Manfred Krug, der aus den Kulissen einer Folge von „Liebling Kreuzberg“ zu treten scheint. Bertlein, 62, ist Journalist und Reisebuchautor, seit 30 Jahren lebt der Berliner in Amsterdam, seinen Vornamen hat er ortsüblich zu „Rein“ verkürzt. Die Stadt kann ihn noch immer überraschen, dem romantischen Obskurantismus vieler seiner Stadtführerkollegen folgt er nicht. Der redselige Ironiker nähert sich Amsterdam mit den Mitteln des Humors, nach Maßgabe der Recherche.

Es ist ein Mittwochnachmittag mit wechselndem Wetter. Eine herbstliche Sonne scheint. Entlang der Grachten, der berühmten Kanäle mit den ruhigen Wassern, spiegeln sich Bäume und die Fassaden der Hausboote. Dann wieder drückt der Himmel wie ein schwerer grauer Deckel, Regen prasselt. Auch beim Wetter gehen in Amsterdam unterschiedliche Dinge zusammen.

Bertlein trägt eine selbsttönende Brille, die sich bei Sonnenschein verdunkelt. Die Brillengläser wechseln immer wieder die Farbe. In seiner schwarzen Lederjacke führt der Stadtwanderer mit den dunklen Turnschuhen einen Regenschirm spazieren, den er sehr schnell aufspannen kann. Man merkt die Übung.

Amsterdam-Spezialist Bertlein neben Multatuli-Denkmal 
an der Singelgracht

8000 Menschen, schüttelt Bertlein auf dem Weg zum Anne-Frank-Haus den Kopf. 8000 Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak nehme Holland in den kommenden Wochen auf, Schuld daran trage auch Geert Wilders. Der Rechtspopulist mit der geföhnten Betonfrisur fordert, die Einwanderung in den Niederlanden strikt zu beschränken. Bertlein setzt dagegen auf die Historie. Wer auf die europäischen Flüchtlingsströme von heute blickt, mag sich einen Begriff von Amsterdam im 17. Jahrhundert machen. 100.000 Einwohner sollen damals in der Stadt gelebt haben, rund ein Drittel davon Flüchtlinge. Integration ist in Amsterdam aber keine ganz einfache Sache mehr. Die Holländer sind ein kleines Volk, das mit seinen geringen sozialen Unterschieden durchlässiger als andere scheint, aber nach außen hin auch verschlossener wird. „Von ihrem Ruf, ein Soziallaboratorium zu sein, im dem die Gegensätze verschmelzen, verabschiedet sich die Stadt immer mehr“, sagt Bertlein mit Bedauern in der Stimme. Toleranz stehe inzwischen immer häufiger für Ignoranz. „Ik, ik, ik“, das sei die neue Losung. Ich. Ich. Ich.

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Die berühmteste Flüchtlingsgeschichte der Stadt nahm ihr Ende in der Prinsengracht 263–267. Im selben Häuserkarree steht auch ein Jugendstilhaus mit den Buchstaben EHLB auf dem Dachfirst. Das Gebäude in der Keizersgracht 174–176 beherbergte einst eine Versicherungsgesellschaft, später die Zentrale einer Umweltschutzorganisation. In den Jahren der deutschen Okkupation Amsterdams war hier der Hauptsitz der Gestapo untergebracht, praktisch in Sichtweite zum Hinterhausversteck in der Prinsengracht. Die Dinge kommen in Amsterdam auch auf düstere Weise zusammen.

Plakat für Anne-Frank-Musical

An dieser Adresse verbergen sich ab Juli 1942 die Familien Frank und van Pels (und ab November 1942 der Zahnarzt Fritz Pfeffer). Otto Franks Tochter Anne, geboren und aufgewachsen in Frankfurt, schreibt ihr später berühmt gewordenes Tagebuch. Jedes Jahr besuchen das Anne-Frank-Haus über 1,3 Millionen Touristen. Im Strom der Besucher kommt sich Nikolas Reisecker, 18, manchmal verloren vor. Der Oberösterreicher leistet hier seit einigen Wochen seinen Zivildienst ab. Mit dem Haus ist er vertraut, die Geschichte Anne Franks kennt er auswendig. In dem Ausstellungsraum mit dem Modell des Verstecks weist er auf einen Fehler hin. „Die räumlichen Verhältnisse waren in Wirklichkeit viel enger“, sagt Reisecker, zerrissene Jeans, Pferdeschwanz. Es sind die Details, die bedrücken: An einer Wand sind Bleistiftstriche, mit denen das Wachstum der Frank-Schwestern dokumentiert wurde. Eine Landkarte aus vergilbtem Zeitungspapier zeigt Europa im Krieg, das Vorrücken der Alliierten auf Hitler-Deutschland, von den Menschen im Asyl mit drei weißen, 15 orangen, roten, schwarzen und dunkelblauen Nadelköpfen markiert. Gegen Ende der Ausstellung liegt ein Buch mit Hunderten Seiten unter Glas, aufgeschlagen auf der Seite 208. „Frank, Annelies Marie Sara, 31. März 1945, Bergen-Belsen“, gibt das Totenbuch Auskunft über den nach wie vor unsicheren Sterbetag. Einmal im Jahr werden drei Tage und Nächte lang sämtliche Namen der 10.300 ermordeten Juden Hollands verlesen.

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Wie ein steinernes Mahnmal für die bedachtsame Annäherung an die drängenden Probleme der Gegenwart wirkt die Inschrift im pseudoklassizistischen Betonriegel, der das ehemalige Gericht und das aufgelassene Gefängnis im Zentrum Amsterdams überspannt. Auf der architektonischen Sünde ist ein weithin sichtbarer Spruch eingemeißelt, wie auf einem römischen Gutshof: „Homo sapiens non urinat in ventum.“ Der weise Mensch, so der Appell, pinkle nicht gegen den Wind.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.