„Voll Sonne und Rauch”

Sizilien: Ort zwischen Traum und Albtraum

Sizilien. Ein Ort zwischen Traum und Albtraum

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Die Ausschussware ist prominent platziert. In der Buchhandlung Feltrinelli in der Via Etnea findet sich gleich beim Eingang, inmitten der Stapel mit den preisreduzierten Büchern, auch die Jesus-Biografie von Joseph Ratzinger. Dem Alterswerk des ehemaligen Papstes bleibt es dennoch erspart, schnöde verramscht zu werden. Die meisten Bücher zieren Aufkleber mit Rabattpreisen, das Cover des ebenfalls ermäßigten Ratzinger-Werks bleibt von derartiger Profanität unberührt. Selbst zum Schleuderpreis ist das Buch im Fachgeschäft in der Via Etnea schwer an den Mann, die Frau zu bringen, der merkantile Himmel anderswo.

Auf der Haupteinkaufsstraße Catanias, die den Ätna, den launenhaften Hausberg der sizilianischen Ostküstenstadt, im Namen trägt, herrscht an diesem Spätwinterabend Anfang März Alltag: Kommen und Gehen, Schlendern und Hetzen. Einige Frauen mit Kindern auf dem Arm, Einkäufer in der Kassenschlange des grell erleuchteten Supermarkts; eine Männerrunde, unter einem Pavillondach um einen Tisch versammelt, auf den die Kartenspieler aller Altersklassen in rätselhaftem Takt ihr Blatt klopfen, ein Durcheinander von Fachsimpelei und Freudengeschrei. Einsatzfahrzeuge stecken im Stau. Folgetonhörner im Dauerbetrieb, blaues Lichtzucken an den umliegenden Häuserwänden. Motorradfahrer vollführen zwischen den von Autokolonnen gebildeten Blechschluchten gewagte Manöver.

Die Kulisse für das abendliche Welttheater in Siziliens zweitgrößter Stadt bilden grau-schwarze Gebäudefassaden. Mitte des 16. Jahrhunderts wurde die Stadt nach einem Ausbruch des Ätna nahezu vollständig zerstört. Der bleifarbene Lavastein, mit dem Catania in barockem Stil wiedererbaut wurde, prägt den Ort bis heute.

Im Buchgeschäft mit der Fassade in kräftigem Orange und dem Schriftzug "Feltrinelli“ herrscht dagegen bedächtige Ruhe. Die angemessene Annäherung an das ehemalige Oberhaupt der katholischen Kirche findet ohnehin im rückwärtigen Teil des labyrinthischen Literaturgroßkaufhauses statt, auf Höhe der meterlangen Regale mit internationaler Belletristik. Joseph Ratzinger ist hier eine kleine literarische Leistungsschau in Form einer Auswahl aktueller, ex-päpstlicher Schriften zum Vollpreis gewidmet, eine Hommage in Form eines Bücherturms, hüfthoch und mit Konterfei, dazu eine Botschaft, die so klingt, als müsse man sich mit den neuen Begebenheiten erst behutsam vertraut machen: "Il papa si è dimesso.“ Der Papst ist zurückgetreten. Auch hier wecken die Bücher wenig Interesse.

Der Literatur ist nicht nur in diesem Fall Misstrauen entgegenzubringen. Insbesondere was die Geschichte Siziliens im 21. Jahrhundert betrifft, ist kritische Lektüre notwendig. Das Bild des von drei Meeren umspülten und von etwas mehr als fünf Millionen Menschen bewohnten Eilands mit seinen rund 1000 Küstenkilometern wurde in zahllosen Romanen, Gedichten, Novellen und Erzählungen mystisch überhöht und glorifiziert. Das hängt einerseits mit der Historie zusammen. Sizilien war jahrtausendelang Mittelpunkt der mediterranen Welt: Griechen, Römer, Vandalen, Araber, Normannen, Spanier, Franzosen und Habsburger stritten um die Vorherrschaft auf der größten Insel im Mittelmeer, die aufgrund ihrer Lage vor den Toren des Kontinents bis zur Entdeckung Amerikas als Nabel der europäischen Welt galt. Andererseits besangen die Italien-Liebhaber Goethe und Schiller in pathetischen Versen auch immer die Insel, auf der die deutschen Poeten die Ideale der Antike verwirklicht sahen: "Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn.“ Schiller setzte dem Städtchen Siracusa ein Denkmal. Generationen von Gymnasiasten mussten Zeilen voller Emphase auswendig lernen: "Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande.“ Sizilien wurde stets zweckdienlich ausgebeutet: als Sehnsuchtsinsel in den Schriften der Dichter, als mythischer Geburtsort der Mafia in Hollywood, als Wirtschaftsstandort, der den Weltmarkt bis heute mit Zitrusfrüchten, Olivenöl, Wein und Semola, dem landestypischen Hartweizenmehl, versorgt.

Alessandra Schininà, 1963 in Wien geboren, hegt ihrer italienischen Heimat gegenüber ebenfalls zwiespältige Gefühle. Die quirlige Literaturprofessorin sitzt in einem Café in der Via Etnea, schon auf dem Sprung ins einige Straßen entfernte Teatro Angelo Musco, eine mittelgroße Bühne, benannt nach dem Hans Moser Catanias. Zuvor möchte die Grillparzer-Spezialistin aber noch eine Kleinigkeit essen. Sie bestellt dickflüssigen Kakao, in dem der Löffel fast von allein steht, die Cocktailkirsche der Süßspeise mit weißer Glasur legt sie auf den Tellerrand. "Bis vor einigen Jahren“, so die Professorin, "erlebte Catania eine regelrechte Blüte. Diese Zeiten sind leider vorbei. Das Gesundheitssystem liegt im Argen, Zugfahren ist ein Vabanquespiel, die Mülltrennung funktioniert nicht, der Ätna überzieht die Stadt immer wieder mit einer schwarzen Ascheschicht.“ Dennoch kann sich die Professorin ein Leben in Wien erst nach ihrem Pensionsantritt vorstellen. Die Offenheit der Menschen hier, das verlässlich gute Wetter durchkreuzten bisher die Pläne für einen Ortswechsel. Viele Sizilianer stellen sich ihre Insel als kleinen Kontinent vor. Alessandra Schininà gönnt sich einen abschließenden Happen Süßes. Sie zahlt und eilt in Richtung Theater. Seit 15 Jahren ist in Ostsizilien erstmals wieder ein Stück Thomas Bernhards zu sehen. "Alla meta“, das Frühwerk "Am Ziel“, erzählt die Geschichte eines pathologischen Mutter-Tochter-Konflikts im Künstlermilieu. Das Theaterplakat von "Alla meta“ zeigt ein Kind, das an Progerie leidet, einer Krankheit, die bereits Säuglinge überschnell altern lässt.

Ein großer Teil der literarischen Texte zum Thema Sizilien, die sich längst zum wankenden Papierberg türmen, taugt allenfalls zum historischen Zeugnis, zur Sinnbild-Idylle, zum Kitsch-Kuriosum. Mit den Krisen und Konflikten der Gegenwart hält die Literatur kaum Schritt, Erzählungen und Romane österreichischer Provenienz mit Handlungsort Sizilien bilden da keine Ausnahme. Hugo von Hofmannsthal erliegt in den 1920er-Jahren in einem Reise-Essay der Landschaft Siziliens und der Lebensart des "Insellands“, das dem Poeten "groß, weit, mächtig, unabsehbar“ scheint. Selbst das "Werden der Gesteine“ glaubt der Autor beobachten zu können. Ein Nachklang von Hofmannsthals Hochgestimmtheit findet sich auch im Roman "Empedokles’ Turm“ (1998) der niederösterreichischen Schriftstellerin Barbara Neuwirth, in dem eine Vierergruppe den Gipfel des Ätna erklimmt, jenes Höhenzugs, der von den Menschen in Catania und Umgebung bis heute liebevoll "Berg der Berge“ apostrophiert wird: "Sie waren auf der Spitze der Welt, sie sahen bis an die äußersten Flanken des Horizonts, und alle Farben der sichtbaren Welt mischten sich in den Ländern und Himmeln und Meeren wie auf einer Palette, wo eine Malerin sie für das Abbild des Paradieses gerade vermischt hatte.“ In Sizilien, der Metapher für den Süden schlechthin, scheint Erlösung gewiss: "Der Vulkan verdrängte Gefühle und Gedanken, die unten in der Ebene noch wichtig gewesen waren.“ Den umgekehrten Weg wählt der Vorarlberger Erzähler Wolfgang Hermann. In dem Langgedicht "Schlaf in den Fugen der Stadt“ (1993) begibt sich Hermann in die dunklen Nischen Catanias. Der Küstenort erscheint zur Abwechslung ästhetisiert als ein Ort von zweifelhafter Schönheit, als eine "Stadt voll Ruß und voll Schmutz und voll Sonne und Rauch“. Hermann müsse wohl, sagt Alessandra Schininà, als sie mit schnellen Schritten der Premiere des Bernhard-Stücks entgegeneilt, Catania während einer seltenen Schlechtwetterphase einen Besuch abgestattet haben. Das Düstere in der Literatur schätzt sie nicht besonders. Die Realität hat genug davon zu bieten.

Auch in Sizilien, lange Jahre das Armenhaus Europas, kursieren Meldungen über Massenentlassungen und verheerende Wirtschaftsdaten, die Jugendarbeitslosigkeit hat alarmierende Ausmaße erreicht, die offiziellen Zahlen sprechen von über 50 Prozent. In traditionellen Fremdenverkehrsregionen wie Messina, Taormina und Pantálica mit seinen Höhlengräbern oder entlang der Zyklopenküste, an welcher der einäugige Riese Polyphem dem flüchtenden Odysseus übellaunig jene Felsbrocken hinterhergeschleudert haben soll, die heute noch aus dem Meer ragen, herrscht unbeschwerter touristischer Alltag, selbst das Bordell mit dem Hinweis "Sexy Bunga“ am Portal avanciert zum Fotomotiv. In weiten Teilen des Landes ist der Immobilienmarkt indes eingebrochen, der Brauch des Grundstückserwerbs weitestgehend zum Erliegen gekommen: In Sizilien, dessen Bevölkerung während Jahrtausenden von Besetzern und Adelsfamilien feudalherrschaftlich ausgeblutet wurde, zählt es zum guten Ton, eigenes Land kraft eigener Leistung zu erwerben. Die landeseigene Fluglinie "Wind Jet“ ging kürzlich pleite, die Erweiterung des Flughafens wurde auf unbestimmte Zeit verschoben; die direkte Verbindungsstraße zwischen Catania und Morgantina ist seit Monaten durch eine Dauerbaustelle unterbrochen; die rund 3,5 Kilometer lange Brücke über die Straße von Messina, die Verbindung zum italienischen Festland, ist seit 1968 in Planung. Auf Sizilien werden von Politikern gern Grundsteine gelegt, die dazugehörigen Bauten selten realisiert.

Wer erleben will, wie weit auch die Literatur von der Realität überholt wurde, sollte sich ins Hinterland aufmachen, in die fremdenverkehrsmäßige Einöde mit ihrem herbem Charme, die im Gegensatz zu den touristisch erschlossenen Orten nahe der Ostküste viel vom wirtschaftlichen Umbruch, von sozialen Spannungen, von widerständigem Verhalten erzählt. Zum Beispiel der um 1870 eröffnete Zugbahnhof Dittaino, 20 Minuten Autofahrt von Catania entfernt. Von hier aus brachen zahllose Auswanderer im 19. Jahrhundert nach Übersee auf, von hier machten sich in den 1970er-Jahren die so genannten "Gastarbeiter“ auf den Weg Richtung Wirtschaftswunder. Heute verkehren nur noch selten Züge. Totes Gleis.

Piazza Armerina wiederum ist berühmt für die wenige Kilometer vom Ortskern entfernte Villa Casale mit ihren Mosaiken, eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Siziliens. Als Erzbischofssitz ist die 25.000-Einwohner-Gemeinde Zentrum des katholischen Siziliens. Weit mehr als 30 Gotteshäuser und Klöster, eines davon mit Gründungsjahr 1142, befinden sich infolge der klammen Staatskasse in verschiedenen Abstufungen des baulichen Verfalls. Schilderwälder mit einer verwirrenden Fülle an Hinweisen leiten den Besucher von sakralen Gebäuden mit abbröckelndem Putz zu ehemaligen Konventen mit eingeschlagenen Fensterscheiben. Jüngst ergriff die Stadtpolitik die Initiative - und sagte dem hierorts gepflegten Totenkult den Kampf an. Die Einwohner scheint es wenig zu kümmern, dass jede öffentliche Benachrichtigung eines Ablebensfalls in Form plakatgroßer Todesanzeigen an den Hauswänden nun behördlicher Genehmigung bedarf. Optimistisch in die Zukunft, so ließe sich die Botschaft der amtlichen Initiative umschreiben. Die engen Gassen der Stadt sind nach wie vor übersät mit Todesmeldungen.

Aidone schließlich, wenige Kilometer von Piazza Armerina entfernt, ist eine 5000-Seelen-Gemeinde im Nirgendwo. Nach jahrelangem juristischen Streit mit US-Sammlern, die unrechtmäßig in den Besitz der "Venus von Morgantina“, einer mehr als zwei Meter hohen Frauenstatue aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert, und eines beachtlichen Silberschatzes gekommen waren, sind die Antiquitäten nun wieder in einem zum Museum umgewandelten Kloster ausgestellt. Aidone liegt im Hochland und ist häufig in dichten Nebel gehüllt. Touristen verirren sich noch selten in den Ort. Die kleinen steinernen Medusenhäupter, die in antiker Zeit als Schutz vor bösen Geistern in Hauseingängen zu finden waren, wurden vorsorglich in eine unbeachtete Ecke des Museums verräumt.

Auf der Bühne des Teatro Angelo Musco klopft die Hauptdarstellerin, die sich eindrucksvoll durch Bernhards "Am Ziel“ monologisiert, mit einem Gehstock den Takt zu den Worten. Wie eine böse Märchentante mit Larvenmaske wirkt die Mutter im Stück, in einen roten Mantel mit dunkelgrauem Kunstfellkragen eingehüllt, fröstelnd im Ohrensessel sitzend. Bernhard auf Italienisch hört sich an wie melodiöses Poltern, wie ein erboster Singsang ohne Satzzeichen.

Das Publikum spendet der Protagonistin kräftigen Applaus und verlässt zügig den Saal. Mit dem wunschlosen Unglück der Bernhard-Figur scheinen die Zuschauer einiges anfangen zu können. "Wunschlos glücklich“ lässt sich als Phrase kaum ins Italienische übersetzen. "Confusa e felice“, ein Hit der aus Catania stammenden Liedermacherin Carmen Consoli, der bereits als Redewendung im Italienischen angekommen ist, ließe sich als vages Äquivalent nehmen: verwirrt und glücklich. Wunschloses Glück gehört nicht zur sizilianischen Welt

Reise. Viele österreichische Autoren haben weit über die Landesgrenzen hinaus ihre biografischen und literarischen Spuren hinterlassen: Die Klagenfurter Dichterin Ingeborg Bachmann lebte und starb in Rom; der k. u. k. Literat Franz Werfel thematisierte in seinem 1933 veröffentlichten Historienepos "Die vierzig Tage des Musa Dagh“ den Völkermord an den Armeniern durch die türkischen Belagerer; die Indien-Visiten von Büchner-Preisträger Josef Winkler finden sich als vielfältiges literarisches Echo in dessen Werk. Nach der 2008 unternommenen Erkundung zentraler literarischer Schauplätze der Donaumonarchie und den zwischen 2010 und 2012 publizierten poetischen Spurensuchen - etwa in Tel Aviv, Kopenhagen, Kairo, Los Angeles, Costa Rica, China, Griechenland, Abu Dhabi, Rio de Janeiro und Istanbul - begibt sich profil in einer neuen mehrteiligen Serie auf die Fährte der historischen und gegenwärtigen Spuren, die Österreichs Literatur im Ausland hinterlassen hat: unter anderem in Island, Sizilien, Kuba, Argentinien und der Ukraine.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.