Gastkommentar Ewald Palmetshofer: Verrohungen

Gastkommentar Ewald Palmetshofer: Verrohungen

Welcher Kampf nach der Wahl noch lange nicht geschlagen ist.

Drucken

Schriftgröße

Die Versuchung ist groß, nach der endlich und diesmal sogar unanfechtbar gültig geschlagenen Wahl und angesichts der Geröllhalden an von Herzen gefallenen Steinen zur politischen Tagesordnung zurückzukehren. Und vermutlich wird genau das passieren, was angesichts der Überreiztheit und der argumentativen, fast schon zwanghaften Wiederholungsschleifen der letzten Wochen zugegeben einer Befreiung gleichzukommen scheint: endlich anderes, endlich weiter – mit der Hoffnung auf einen sanften Schleier des Vergessens über die Verwerfungen der letzten Wochen und Monate –, zurück zur Tagesordnung.

Dieser Wahlkampf aber ist in die Tiefe vorgedrungen, hat gegraben und geschürft und etwas zutage befördert, das sich zwar vergessen, jedoch nicht so einfach wieder ent-sorgen lässt. Und ich rede nicht von jenem viel beschworenen Graben, sondern von einer Entdeckung im tiefen Inneren unserer Gesellschaft. Dort hat eine schleichende Veränderung stattgefunden, und dieser Wahlkampf hat dies sowohl befördert als auch ans Licht gebracht: Wir verhärten. Wir verrohen. Unsere Fähigkeit, von anderen Menschen berührt zu werden, unsere Anrührbarkeit durch die anderen droht zu verkümmern. Man mag diese Fähigkeit Anstand nennen, Achtung, Respekt, Mitgefühl oder auch Menschlichkeit. Es geht schlicht um das innere Vermögen, dass uns der andere Mensch – ob nah oder fern, Freund, Fremder oder politischer Gegner – noch irgendwie als Mensch anzurühren vermag. Dieses Mindestmaß an Anerkennung und Würde des anderen ist bedroht – nicht nur virtuell in den sozialen Medien und nicht nur in Österreich, sondern überall, global, auf der Straße und in der politischen Auseinandersetzung und Kultur. Im vergangenen einjährigen Wahlkampf wurden wir sozusagen im österreichischen Kleinen Zeuginnen und Zeugen, mit welchen Strategien man dieses Mindestmaß hier und an vielen anderen Orten abgräbt und unterwandert.

Wir oder nichts

Es gibt eine gemeinsame innere Logik der aktuellen Populismen (von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung bis zur FPÖ), Identitätspolitiken (AfD, Identitäre), europäischen Nationalismen, neoliberalistischen Ideologien und religiösen Fundamentalismen. Im Herzen all dieser unterschiedlichen Strömungen, die die politischen Auseinandersetzungen und Krisen der Gegenwart bestimmen, gibt es ein gemeinsames Credo, das da lautet: „Wir sind alles – und zwar nur wir!“ Damit mobilisieren die Populisten ihre Wählerinnen und Wähler, damit operieren die Identitären und Nationalisten, darauf gründet die Ideologie der ungezügelten Märkte – „Ich bin der Markt – und ich bin alles!“ –, und darauf beruhen die religiösen fundamentalistischen Ideologien. Sie alle spalten die Welt und die Menschen.

Aber sie spalten nicht zwischen Gut und Böse, rechts und links oder „wir“ und „ihr“. Die Sache ist komplizierter: Sie spalten zwischen „wir“ und „nichts“, zwischen „Wir-sind-alles“ und „Ihr-seid-nichts“, zwischen der vermeintlich einzigen legitimen Wirklichkeit und Gemeinschaft einerseits und dem Nichts, dem ohne Bedeutung, ohne Sinn, Wert, Berechtigung und Relevanz andererseits. Es gibt nur das eine, also uns, und nur das hat Wert, also wir, und alles andere gibt es nicht, hat also keinen Wert, keine Relevanz und kann daher verschwinden, kann ausgeblendet, übergangen, beleidigt oder im schlimmsten Fall verdroschen, angezündet oder vernichtet werden.

Das lernen wir aus diesem Wahlkampf. Und dieses „Wir-oder-nichts“ arbeitet an der Abschaffung unserer Anrührbarkeit durch die anderen (sie sind ja schließlich auch nichts). Es zerreißt die Menschheitsfamilie, vergiftet das politische Klima und die politischen Auseinandersetzungen und bedroht das Menschliche. Der andere ist egal, er oder sie ist gleichgültig – das heißt, er oder sie ist uns ungleich. Seine Regungen, Interessen oder Nöte sind nicht von Belang. Der andere ist ein illegitimer anderer. Als Ungleicher steht er völlig jenseits unserer Anrührbarkeit. Die Sprache seiner Argumente, seiner Lebensäußerungen, seiner Bedrängnisse oder seiner Rechte gilt von da an als unverständliches Geplapper, als Belästigung, heimtückische Hinterlist oder Lüge.

Struktureller Putschversuch

Aber nicht genug damit. Die neuen Spalter arbeiten gründlich – nicht nur in Österreich. Sie knöpfen sich alles vor, was sich ihnen entgegenstellen könnte: die Emotionen der Menschen, die politischen Institutionen und natürlich die Sprache.

Im Feld der politischen Gefühle betreiben sie eine perfide Psycho- und Emotionspolitik. Andauernd wird die Gefühlswelt der „Wir-Gleichen“ benannt und als von politischer Bedeutung ins Treffen geführt. Sie sind die einzigen Träger politisch relevanter und legitimer Gefühle. Man wertet die eigene Psyche auf, während einem die emotionalen Regungen der anderen suspekt sind oder einfach nichts zur Sache tun – bloße Weinerlichkeit der „Gutmenschen“, linker Krawall oder Befindlichkeiten der Abgehobenen.

Man diskreditiert das politische System, beschmutzt das Ansehen seiner Institutionen, verleumdet die politischen Mitbewerber und die sogenannte „Elite“ und etabliert sich selbst als einzig legitimer Gegenentwurf. Dies verschleiert, dass die Spalter selbst Teil jenes Systems sind, das sie verleumden. Man versucht das Feld, auf dem man politisch siegen möchte, derartig zu vergiften, dass man nach dem eigenen Sieg darauf nicht mehr geschlagen werden kann. Am demokratisch legitimierten Weg nach oben zerstört man die demokratische Leiter, auf der man hochgestiegen ist, und tritt sie in den Dreck. Man baut hier schon mal für die Zukunft vor. Dies kommt einem leisen, schleichenden, strukturellen Putschversuch gleich.

Ähnliches versucht man auf dem Feld der Sprache. Politische Gegner, Kommentatorinnen, Kritiker, Journalistinnen oder Medien allgemein werden als abgehobene Elite, als Professoren, Feministinnen, Extremisten, Hautevolee oder von den Menschen entfremdete Upperclass diskreditiert. Die Spalter verbünden sich scheinbar mit den angeblich „einfachen“ Menschen, indem sie die Kritiker zu einer eigenen, zu verachtenden Klasse stigmatisieren. Damit sollen Kritik und politische Debatte ihre gesellschaftliche Legitimation verlieren. Wer Kritik übt, ist ein „Nicht-wir“. An ihrer Kritik werdet ihr sie erkennen … Man muss die Kritiker aussondern, dann hat es auch mit der Kritik ein Ende.

Wie weiter?

Aber warum dies alles hier nochmals in Erinnerung rufen? Die Wahl ist doch schon geschlagen! Ja, das ist sie. Aber die politische Arbeit geht weiter. Und sie hat genau mit dem umzugehen, was diese Wahl zutage gefördert hat. Mit kristallener Klarheit hat sie den neuen politischen Stil der Spaltung in „wir“ oder „nichts“ enthüllt. Und sie hat uns die breite, ausgeklügelte und gefährliche politische Strategie der FPÖ im praktischen Vollzug vor Augen geführt. Und nicht zuletzt erkennen wir darin die Taktiken sämtlicher Populisten und Radikalen, von Le Pen bis Trump. Erschreckend deutlich geworden ist, wie tief diese politische Praxis und Rhetorik bereits in unser Inneres vorgedrungen ist, wie sie – gemeinsam mit den globalen Praktiken ähnlicher Logik – unsere Verrohung vorangetrieben hat. Und sie hat gezeigt, wie sehr sich Verrohung und verrohende Politik gegenseitig bedingen und vorantreiben. Die Politik hat in gleicher Weise verrohte Menschen herausgebildet wie auch die Menschen – also die Wählerinnen und Wähler – verrohte Politiker hervor- oder nach oben gebracht haben.

Unsere Abstumpfung und Verhärtung befördert diese Politiken – und vice versa. Es ist, als hätten wir es in der politischen Auseinandersetzung neuerdings mit einem analogen Echoraum – wie jener in den sozialen Medien – zu tun. Politikerinnen und Politiker – rechts wie links – scheinen zu glauben, wir würden nur mehr rohes, stumpfes Sprechen verstehen, als ob alles andere nicht mehr zu uns durchdringen würde. Für die Verrohung und Verluderung der politischen Sitten, für unsere innere Abstumpfung und Verhärtung sind wir letztendlich alle gemeinsam verantwortlich.

In Begriffe geronnene politische Überzeugungen

Nichts ist daher dringlicher, als in der politischen und öffentlichen Auseinandersetzung und Debatte die Rhetoriken und Taktiken der populistischen Spaltungen und der Abwertung und Verhöhnung der anderen aufzuzeigen, zu benennen und alternative politische Modelle anzubieten, ohne jemals in die gleiche, rhetorische „Wir-oder-nichts“-Falle zu tappen. Dafür ist es unerlässlich, politische Begriffe wieder mit politischer Bedeutung zu füllen und sie aus dem Griff der Populisten zu befreien. Und hier ist die Linke in gleicher Weise gefordert wie die Konservative und bürgerlich Liberale. „Solidarität“ meint eben nicht bloß die Selbst-Anerkennung einer „Wir“-Gemeinschaft, sondern die Anerkennung der Not und der Rechte auch der anderen, meint Verzicht und Hingabe.

„Gleichheit“ meint eben nicht das äußerliche Gleich-Sein in Aussehen, Herkunft oder kulturellen oder religiösen Gepflogenheiten, sondern Gleichheit ALLER Menschen ALS Menschen, ohne Ansehen aller möglichen Unterschiede und auch schwer auszuhaltender Differenzen. Dies sind in Begriffe geronnene politische Überzeugungen. Um sie gilt es als unverzichtbarer, nicht vertagbarer Teil jeder Tagesordnung zu kämpfen, zu debattieren, zu ringen – gerade jetzt, wenn es wieder zurück zu den politischen Tagesgeschäften geht –, auf eine Weise, die die politischen Gegner oder auch Mitbewerber nicht zu Nichtsen erklärt.

Ewald Palmetshofer, geboren 1978 in Linz, ist Dramatiker. Eine Sammlung seiner vielfach ausgezeichneten Theaterstücke erschien bei S. Fischer („faust hat hunger und verschluckt sich an einer grete“). Seine Marlowe-Neudichtung „Edward II. Die Liebe bin ich“ wurde 2015 uraufgeführt. Palmetshofer lebt in Basel.