Biomimetik: Heimische Wissenschafter imitieren Naturpatente

Biomimetik: Heimische Wissenschafter imitieren Naturpatente

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Der Eiffelturm, Stahlbeton und der Klettverschluss haben etwas gemeinsam. Ihre Erfinder und Erbauer nahmen sich die Natur zum Vorbild und schufen nützliche, zweckmäßige oder zumindest ansehnliche Dinge, die aus der Welt nicht mehr wegzudenken sind. Sie studierten genau, wie Knochen, Pflanzenwurzeln und Klettfrüchte aufgebaut sind, und lernten daraus, wie sie funktionieren, enormen Kräften standhalten – und durch welche Prinzipien die natürlichen Strukturen den menschlichen Patenten teilweise weit überlegen sind.

Heute können Wissenschafter und Ingenieure die Natur mit modernen Instrumenten bis ins kleinste Detail analysieren und sogar einzelne Moleküle bei der Arbeit beobachten. Was sie dabei erfahren, revolutioniert vielleicht bald die Medizin, Technik und Energieversorgung – wie einst die Stahlkonstruktionen und Eisenbeton die Architektur und Baukunst.

Die heutigen Flugzeugingenieure wissen, dass sie vieles von fliegenden Lebewesen lernen können.

Auch einige österreichische Forscher leisten Bemerkenswertes auf diesem Gebiet, das Biomimetik heißt und den Transfer natürlicher Phänomene auf humane Technologie bezeichnet. Ob extrem abriebfeste und schmutzabweisende Beschichtungen, selbst trocknende Wundverbände oder neuartige Klebstoffe – Pate standen Geschöpfe wie zum Beispiel Eidechsen und Insekten, denen die Experten ihre Geheimnisse entlockten und diese in innovative Entwicklungen überführten.

Die Idee, den Einfallsreichtum der Natur auszubeuten, ist schon alt. Der erste, der technische Lösungen ganz gezielt von ihr abkupfern wollte, war das italienische Universalgenie Leonardo da Vinci. An der Wende zur Neuzeit beobachtete er akribisch, wie Fledermäuse, Flugsamen und Vögel fliegen. Er erkannte, dass die Vogelfedern beim Abwärtsschlag eine geschlossene Fläche bilden, die sich bei der Aufwärtsbewegung wieder öffnet. Er zeichnete und konstruierte diverse Fluggeräte, mit denen er Menschen ermöglichen wollte, sich in die Lüfte zu erheben. Gemeinsam mit seinem Assistenten Tomaso Masini testete da Vinci sie an einem Berghang nahe Florenz. Die Flugversuche scheiterten allerdings, weil die menschliche Muskelkraft nicht den nötigen Auftrieb erzeugen kann, um das Gewicht eines Menschen zu heben, und Masini brach sich dabei je nach Überlieferung ein Bein oder mehrere Rippen.

Doch auch die heutigen Flugzeugingenieure wissen, dass sie vieles von fliegenden Lebewesen lernen können. So sind die sogenannten Winglets am Ende der Flügelspitzen den Flügeln von Bussarden, Kondoren und Adlern nachempfunden. Sie verursachen statt eines großen Luftwirbels am Ende des Flügels mehrere kleinere, was den Luftwiderstand schrumpfen lässt. Aktuell testen zum Beispiel deutsche Techniker, wie man Flugzeuge beim Sinkflug leiser machen kann. Ihre Vorbilder sind Eulen, die beinahe lautlos auf ihre Beute zugleiten.

Auch das Konstruktionsprofil des Eiffelturms ist an die Natur angelehnt, und zwar an das Prinzip von Oberschenkelknochen.

Der französische Gärtner Joseph Monier wiederum war es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts leid, dass seine Holztröge nie sehr lange hielten. Angeregt vom Design der Agavewurzeln, bei denen ein Festigungsgerüst (Sklerenchym) mit einem biologischen Gewebe (Parenchym) ausgestaltet ist, umhüllte er für einen Pflanzentrog ein Drahtgewebe mit Zement und schuf so den ersten „Eisenbeton“. Später konstruierte er damit Felsengärten, baute Wassertanks aus Eisenbeton, Brücken und eine Treppe zu seinem Büro oberhalb der Werkstatt.

Auch das Konstruktionsprofil des Eiffelturms ist an die Natur angelehnt, und zwar an das Prinzip von Oberschenkelknochen. Bei ihnen ist das mineralische Gerüst optimal nach der Zug- und Druckspannung ausgerichtet, und ihre sogenannten Spannungstrajektorien überschneiden sich im Raum stets rechtwinkelig. Maurice Koechlin, der Konstrukteur des Eiffelturms, studierte die Knochen, war fasziniert vom Design und verwendete es unter anderem für seinen berühmten Bau im Zentrum von Paris. Ein aktuelles Beispiel für Biomimetik am Bau sind die schlanken Stahlrohre für Windkraftanlagen: Ihre Vorbilder sind Getreidehalme.

Was ihn zunächst vermutlich ärgerte, bescherte dem Schweizer Ingenieur Georges de Mestral eine einträgliche Erfindung. Wenn er mit seinen Hunden in der Natur spazieren ging, musste er anschließend die lästigen Früchte der großen Klette aus deren Fell und seinem Gewand zupfen, weil sie daran hängen blieben. Eines Tages legte er eine Klettenfrucht unter sein Mikroskop und sah, dass ihre winzigen, elastischen Häkchen auch beim gewaltsamen Entfernen aus der Kleidung und den Hundehaaren nicht abbrechen. Er untersuchte sie genauer und entwickelte nach ihrem Vorbild den textilen Klettverschluss, den er 1951 zum Patent anmeldete.

Auch die Haftung von Autoreifen haben Ingenieure nach einem biologischen Vorbild verbessert: So wie sich die Pfotenballen von Katzen bei Richtungswechseln verbreitern, damit sie mehr Grip haben, geschieht dies nun auch mit dem Profil von modernen Autoreifen.

Heutzutage können die Wissenschafter winzigste Strukturen sichtbar machen und das Zusammenspiel einzelner Moleküle untersuchen. Basierend auf dem gewonnenen Wissen entwickelten sie etwa bereits Nano-Oberflächen für Outdoorjacken, die wie Lotosblätter oder Salamanderhaut jeden Schmutz abperlen lassen, ahmten die pflanzliche Photosynthese nach oder fanden neue Möglichkeiten für medizinische Diagnosen.

Eine Kreatur namens Marmor-Querzahnmolch

In Wien richten Experten gerade ihre Aufmerksamkeit auf eine Kreatur namens Marmor-Querzahnmolch, der eine besondere Verteidigungsstrategie verfolgt: Der Molch klebt Angreifern ihre fresslustigen Mäuler zu. Dazu sondern seine Hautdrüsen eine Art Sekundenkleber aus, den der Biologe Janek von Byern von der Universität Wien für medizinische Zwecke nachbauen will. „Der Klebstoff hält sehr gut auf trockener Haut und wäre perfekt, um oberflächliche Wunden zu schließen“, erklärt er. Derzeit gebe es nur giftige Cyanoacrylat-Klebstoffe, der Salamanderkleber hingegen sei vollkommen unbedenklich. „Wir wissen derzeit aber chemisch nur ganz grob, wie er zusammengesetzt ist“, sagt von Byern. Er bestünde jedenfalls aus Eiweiß- und Zuckerstoffen, die eine große Menge Wasser abgeben, wenn sie aus den Hautdrüsen des Molches ausgeschieden werden. „Dadurch härtet der Klebstoff in ein paar Sekunden aus“, so der Biologe.

Aktuell untersucht er mit Kollegen, welche Bestandteile für die Klebefunktion des Sekrets verantwortlich sind. „Wenn man den verantwortlichen Klebe-Eiweißstoff kennt, könnte man ihn genau nachbauen und zum Beispiel mit Hefezellen für die Medizin produzieren“, sagt von Byren. Außerdem untersucht er Klebstoffe von Meerestieren, die als Organ- oder Knochenklebstoffe einsetzbar wären.

Der Sandfisch kann zwar schwimmen, aber nicht im Wasser, sondern im Wüstensand. Er ist nämlich eine Eidechse und kein Fisch. Zu seinem Namen kam er, weil er sich mit Schwimmbewegungen im Sand fortbewegt. Das machen ihm unter anderem seine Schuppen möglich, die eine sehr geringe Reibung besitzen und extrem abriebfest sind.

Komplexe Zuckerschicht

„Wir haben die Reibung, Elastizität und Härte dieser Schuppen gemessen, sie mit Licht- und Elektronenmikroskopen angesehen und chemisch analysiert“, erklärt Werner Baumgartner vom Institut für Medizin- und Biomechatronik der Universität Linz. Dabei habe er mit seinen Kollegen entdeckt, dass diese Schuppen – wie auch jene anderer Reptilien, Säugetierhaare und Vogelfedern – überwiegend aus Keratinen bestehen, aber zusätzlich von einer komplexen Zuckerschicht umhüllt sind. Die Forscher beschichteten damit Kunststoffe und Autolack und konnten zeigen, dass der Zuckerguss eine extrem geringe Reibung und hohe Abriebfestigkeit gewährleistet. „Die Reibung von Teflon ist deutlich höher, die Sandfisch-Beschichtung schlägt sie also deutlich“, erklärt Baumgartner. Man müsse aber noch testen, wie beständig sie gegen Öle und andere Mittel sowie gegen hohe Temperaturen ist.

Neben kratzfesten, nicht verschmutzenden Autolacken wäre die Sandfisch-Beschichtung etwa für Solarpanele interessant, meint er. „Sie stehen sehr oft in sandigen und staubigen Gebieten, und wenn dort öfter Sandstürme wehen, hat man bald Milchglasscheiben und keine Solarpanele mehr“, so Baumgartner. Die Beschichtung würde aber nicht nur ihre Oberfläche schützen, sondern auch dafür sorgen, dass Sand und Staub von schräg gestellten Panelen gut abrutschen.

Die Schuppen der Texanischen Krötenechse, der australischen Dornteufel und der arabischen Krötenechsen haben einen anderen Trick auf Lager, den Baumgartner untersucht. Sie können mit Ihrer Körperoberfläche Feuchtigkeit „ernten“. „Diese Tiere leben alle in trockenen Gebieten, wo sie Wasser sehr effizient aufnehmen und ja keinen Tropfen verlieren möchten“, erklärt er. Die Schuppen dieser Tiere sind sehr wasseranziehend (hydrophil), und wenn ein Wassertropfen darauf fällt, zerstäubt er nicht in alle Richtungen, sondern verteilt sich sofort. Dafür sind haarfeine Kanäle zwischen den Schuppen verantwortlich, die das Wasser in Richtung Mund transportieren, fand Baumgartner heraus.

„Wir haben diese Kanalform entschlüsselt und Kunststoffprototypen gebaut, wo Flüssigkeiten aufgenommen werden und in eine bestimmte Richtung laufen“, sagt der Forscher. Verwenden könne man solche Kanäle in winzigen Analysegeräten oder etwa bei Windeln sowie Wundverbänden, um die Feuchtigkeit vom Körper wegzutransportieren.

Haftpads anstelle von Saugnäpfen

Um an senkrechten und überhängenden Wänden oder Pflanzen emporzuklettern, besitzen Tiere verschiedene Haftorgane an den Beinen. Bei Geckos, Fliegen und Spinnen sind diese haarig, bei Ameisen, Stabheuschrecken und manchen Käfern flächig, erklärt Baumgartner: „Ihre Oberfläche ist eine glatte Membran, und darunter liegt ein interessanter Unterbau aus miteinander vernetzten Fasern und schwammartigen Strukturen.“ Mit seinem Team hat der Forscher solche flächigen Haftorgane als Haftpads nachgebaut. „Wir kriegen damit nicht ganz die Haftkräfte der haarigen Kollegen hin, sind aber ganz nahe bei jenen der Stabheuschrecke“, so Baumgartner. Glattflächige Haftorgane könne man allerdings leichter herstellen, besser reinigen, und sie seien robuster gegen Verschleiß als solche mit strukturierter Oberfläche.

Man könnte solche Haftpads anstelle von Saugnäpfen für Maschinen verwenden, die Dinge hochheben sollen. Sie lassen sich leicht und rückstandsfrei lösen und sind auch für poröse Materialien wie Grobspanplatten, Porenbeton und Styropor geeignet, bei denen man Vakuumsaugglocken verwenden und eventuell auch einen darunterliegenden Gegenstand mit heben würde.

Einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt Günther Knör vom Institut für Anorganische Chemie der Universität Linz. Er möchte Krebs quasi mit dem Lichtschalter ausknipsen. Dafür hat er sich verschiedene natürliche Prinzipien abgeschaut. „Landwirte wissen schon lange, dass ihre Kühe in der Sonne Probleme bekommen, wenn sie Johanniskraut fressen. Es enthält nämlich Hypericin, eine rote Substanz, die mit Licht und Sauerstoff reagiert und Zellen schädigen kann. Photosensibilisierung durch Farbstoffe ist ein bekanntes Phänomen“, erläutert Knör. Gemeinsam mit Kollegen entwickelte er einen neuen Farbstoff, der gut vom Körper aufgenommen wird und sich vor allem an der DNA von Krebszellen anlagert.

„Wenn man das Gewebe bestrahlt und so den Farbstoff zum Leuchten bringt, kann man einen Tumor exakt lokalisieren“, erklärt er. „Doch wir sind noch einen entscheidenden Schritt weitergegangen.“ Die Forscher verpassten der Substanz eine zusätzliche Funktion: die Fähigkeit, den DNA-Doppelstrang wie mit einer molekularen Schere zu zerschneiden. „Der Stoff hat die Eigenschaften einer Nuklease, eines natürlich vorkommenden Enzyms. Er ist zunächst völlig ungiftig, aber seine zerstörerische Wirkung kann gezielt eingeschaltet werden“, so Knör. Wenn sich der Farbstoff in den Tumorzellen angereichert hat, wird er durch Belichtung aktiviert und baut photokatalytisch das Erbgut ab. So können die entarteten Zellen nicht mehr unkontrolliert weiter wachsen.

Kanisterweise Treibstoff

Dem Linzer Forscher ist es außerdem gelungen, den Vorgang der natürlichen Photosynthese mit künstlichen Substanzen nachzuahmen. Wie in den Pflanzen kann man so die Solarenergie auf direktem Weg in Form von chemischen Stoffen speichern. Die Energieausbeute ist bei der artifiziellen Photosynthese sogar etwa doppelt so hoch wie bei der natürlichen, weil dafür ein paar Zwischenschritte weniger notwendig sind.

Bei Knörs Prinzip wird genau wie im lebenden Organismus bei Bestrahlung mit Sonnenlicht der biochemische Energiespeicherstoff NAD(P)H gebildet. Während bei Pflanzenzellen das Photosystem jedoch aus 15 Eiweißstoffen besteht, sind laut Knör bei der künstlichen Variante nur zwei entscheidende Komponenten notwendig. Einerseits ein grüner, wasserlöslicher Farbstoff, der das Chlorophyll der Pflanzenzellen ersetzt, Licht aufnimmt und gleichzeitig den ersten Energiespeicherschritt antreibt. Danach wird im künstlichen Blatt die Anreicherung von NAD(P)H durch einen weiteren Katalysator beschleunigt.

„Dieser Stoff kann als biologische Variante von solarem Wasserstoff als erneuerbarem Energieträger aufgefasst werden“, erklärt er. Zusammen mit dem Treibhausgas CO2 werden in der Natur daraus Zucker und Stärke als Langzeitspeicherstoffe gebildet. Knör koppelte an die künstliche Photosynthese von NAD(P)H ebenfalls weitere Reaktionen. Damit erzeugt er etwa den hochwertigen Brennstoff Butanol.

Klingt nach hochkomplexer Chemie, doch unter dem beabsichtigten Ergebnis kann sich vermutlich jeder etwas vorstellen. Knör: „Mithilfe des Sonnenlichts und biomimetischen Katalysatoren gewinnt man also einen flüssigen Treibstoff, den man in Kanister füllen und auch Jahre später noch verwenden kann.“