Martin Puntigam: Friss Staub!

Wo gibt es die beste Supererde im Universum - und wie bereitet man sie zu? Martin Puntigam kennt die besten Rezepte der Erdküche.

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Anmerkung: Der folgende Artikel erschien ursprünglich in der "profil Wissen"-Ausgabe vom 15. Juni 2016

Je nachdem, wer misst, beträgt das Alter der Erde zwischen 6000 und rund 4,5 Milliarden Jahre. 5975 beziehungsweise rund 4,5 Milliarden Jahre lang war das auch die einzige Erde, die wir gekannt haben. Aber im Jahr 1991 wurde mit der Entdeckung des ersten Exoplaneten alles anders, denn seitdem wissen wir, dass auch um andere Sonnen Planeten kreisen. Vermutet hat man das schon lange, aber belegt werden konnte es erst Ende des 20. Jahrhunderts. Seit Kurzem könnten es sogar deutlich mehr sein, denn die Pressestelle der NASA hat im Mai 2016 bekanntgegeben, dass ihr einschlägig erfolgreichster Außendienstmitarbeiter Kepler 1284 nagelneue Planeten zur Strecke gebracht hat, davon ein knappes Drittel aus Gestein, also erdähnlich, wie gesagt wird. Ein paar davon sind sogar Supererden, ganz wenige in der habitablen Zone, wo es Leben geben könnte! Allerdings nur, wenn man mit den Augen eines Astronomen draufschaut, der unter drei, vier Lichtjahren gar nicht vom Sessel aufsteht.

Für eine Molekularbiologin ist eine Supererde grundsätzlich etwas anderes. Schon Erde, aber nicht in anderen Sonnensystemen zu Hause, sondern zum Greifen nahe. Grob gesagt das, was sich unter der Wiese befindet, auf die man mit den Kindern oder auch dem Hund zum Spielen hingehen kann.

Oben Gras, nicht zersetztes Pflanzenmaterial, und wenn man mit einem Spaten in die Wiese hineinsticht, dann folgen in der Reihenfolge ihres Erscheinens Grasnarbe, ein Bereich mit dunkler Erde, anorganischem und organischem Material, wie etwa Wurzeln, Regenwürmer, tote Maulwürfe, der von der Familie feierlich beerdigte Goldhamster und so weiter. Aus Sicht des Molekularbiologen handelt es sich dabei allerdings lediglich um Proteine, Kohlenhydrate, Fette. Ein auf der Straße zusammengeführter Igel besteht daraus genauso wie eine Katze oder eine Kröte, die es nicht mehr rechtzeitig auf die andere Seite geschafft hat. Für andere Menschen mögen das bedauerliche Kreaturen sein, aber rein molekularbiologisch betrachtet handelt es sich um verschieden große Ansammlungen von Protein-, Kohlenhydrat- und Fettmolekülen. Wir selber sind übrigens auch nichts anderes und Erde eben auch nicht.

Erdsuppe und Erditiramisu

Und weil es sich dabei lediglich um Moleküle handelt, kann man damit vieles machen, auch kochen. Das wird zumindest in Japan in einem Feinschmeckerlokal gemacht und an der Karl-Franzens-Universität Graz. Wenn dort wer sagt: "Friss Staub!", dann ist das quasi eine Essenseinladung. Ganze Menus werden mittlerweile im Geschmackslabor an der Mur gemeinsam mit dem Schweizer Koch Rolf Caviezel entwickelt und zubereitet, beginnend mit Erdsuppe, über Schweinsbraten im Erdmantel mit Wurzelgemüse bis zum Erdtiramisu. Und natürlich Erdkaffee.

Wie aber kommt man auf die Idee, Erde zu essen? Naheliegend ist es nicht, und nur selten passiert es, dass bei einer Essenseinladung der Gastgeber begrüßt mit: "Schuhe bitte anlassen, ich muss dann eh zusammenkehren, ich brauche die Erde für die Suppe."

Erde zu essen klingt allerdings ungewöhnlicher als es ist, zumindest wenn man die Kulturgeschichte der letzten Jahrhunderte durchforstet. Denn so weit wir über Aufzeichnungen verfügen, haben Menschen zu allen Zeiten in allen Gesellschaften aus unterschiedlichen Gründen Erde gegessen. Der Fachausdruck dafür lautet Geophagie, also "Erde fressen". Es war in der Regel kein Massenphänomen, aber ist regelmäßig und überall auf der Welt vorgekommen. Der Naturforscher Alexander von Humboldt berichtete davon genauso wie der Mediziner Georg Buschan und der Anthropologe Berthold Laufer in seinem einschlägigen Standardwerk "Geophagy". Gründe, warum Menschen Erde auf den Speiseplan gesetzt haben, gibt es viele, etwa Nahrungsmittelknappheit, medizinische Gründe und natürlich religiöse. Die bizarren Sachen haben zu allen Zeiten in allen Religionen immer einen gemütlichen Hauptwohnsitz gefunden.

Bergmehl und Steinbutter

Bereits ab dem Mittelalter gibt es Berichte, dass in Europa während Hungersnöten Bergmehl und Steinbutter gegessen wurden. Bei Bergmehl handelt es sich um ein bröseliges, gipsartiges Gestein, das man als Streckmittel für herkömmliches Mehl verwenden konnte, bei Steinbutter um sehr fetthaltigen Ton, den sich Bergarbeiter als Butterersatz aufs Brot gestrichen haben. Man kann sich das grob gesagt ein wenig so vorstellen, dass mit Bergmehl Brötchen gebacken wurden, die man über die Stollenmauer gezogen hat, und fertig war die Butterstulle. Eigentlich sehr grob gesagt. Denn Vergnügen war das natürlich keines, und im Jahre 1617 haben in Deutschland aufgrund einer Hungersnot Menschen in Dessau sogar so viel Bergmehl abgebaut, dass der Berg schließlich eingestürzt ist. Wenn allerdings wieder genug echtes Essen da war, wurden Bergmehl und Steinbutter umgehend vom Speiseplan gestrichen.

Welche medizinischen Indikationen könnte es geben, um Erde zu verzehren?

Es gibt Aufzeichnungen des griechischen Arztes Galen aus dem 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, der rote Tonerde gegen Durchfall verabreicht hat. Gegen Durchfall oder wenn man welchen haben möchte? Gegen, Sie werden staunen. Es dürfte sich um einen ähnlichen Mechanismus handeln, wie man ihn heute noch von manchen Heilerden kennt, die ja auch antibakteriell wirken können. Aber natürlich nicht müssen.

Im 14./15. Jahrhundert hat man der terra sigillata, einer rötlichen Tonerde, an europäischen Königshäusern allerdings so große Wirkung zugetraut, dass sie zu praktisch allen Mahlzeiten gegessen wurde. Nicht so sehr, um Durchfall zu vermeiden, sondern vor allem, um Vergiftungen abzuhüten. Sollte die Nahrung vergiftet sein, haben König und Königin erhofft, dass das Gift in Kombination mit der Erde Brechreiz auslöse. Also Durchfall nein danke, aber Brechreiz ja bitte. Ob die Erde rot sein sollte, damit es auch farblich was hergibt für den Hofstaat, wenn der vergiftete Herrscher mit dem Porzellanlenkrad fährt, ist allerdings nicht überliefert.

Die religiöse Verwendung von Erde hatte hingegen oft nur am Rande mit Verzehr zu tun. Es gab zwar auch Bräuche, im Rahmen derer Heiligenfiguren aus Erde geformt und zum Schutz vor Krankheiten oder als Heilmittel schnabuliert wurden, aber sehr oft beließ man es bei der Andeutung. Etwa so wie das Kippen einer Schaufel voller Erde ins offene Grab, wie man das bei uns kennt. In antiken Riten, etwa in Mexiko, spielte die Erdverehrung aber keine geringe Rolle. In vorindustrieller Zeit, als man noch keine Kunstdünger kannte und internationale Lebensmittelbörsen, musste die Erde noch beschworen werden, damit es immer genug zu essen gab. Im Rahmen von Zeremonien zu Ehren des Gottes Tezcatlipoca wurde deshalb musiziert, in alle vier Himmelsrichtungen auf einer Tonflöte. Anschließend steckte der Flötenspieler seinen Finger in die Erde und aß diese. Also nicht die Finger, sondern das bisschen Erde, das am Finger haften blieb. Nachdem der Vorkoster fertiggeschmaust hatte, tat es ihm die Festgemeinde gleich, allerdings ohne vorangegangenes Flötenspiel, was insgesamt als Zeichen der Verehrung verstanden wurde. Tezcatlipoca war damals als Gottheit zuständig für die Nacht und den Wind. Vor beiden haben sich Menschen seit jeher und teilweise natürlich völlig zu Recht gefürchtet, und bevor man wusste, was Elektrizität ist und wie Stürme entstehen, war in der Regel ein Gott die beste Erklärung für Naturkatastrophen und Finsternis.

Finger in die Erde

Auch dem Kriegsgott Huitzilopochtli wurde auf ähnliche Weise die Aufwartung gemacht. Finger in die Erde und danach nicht abschlecken, sondern küssen, vielleicht damit es nicht zu Verwechslungen kam und sich plötzlich gar kein Gott mehr zuständig fühlte, weil er dachte, die Anrufung hätte dem Amtskollegen gegolten. Dass dieser Brauch heute noch Nachhall im Land der späteren Eroberer findet, wenn der Ballermann-Hit "Finger im Po - Mexiko" gegrölt wird, stellt allerdings eine deutlich zu freie Deutung zeremonieller Kontinuitäten dar.

Dass die rohe Erde nicht gleich in großen Happen verzwickt worden ist, spricht wiederum für die Routine der antiken Mexikaner. Denn bei der Wahl der Speiseerde sollte man achtsam sein. Längst nicht jede Erde ist zum Verzehr geeignet.

Einfach in den Garten gehen, sich eine Handvoll Erde holen und auf dem Weg in die Küche schon ein bisschen naschen, ist beispielsweise nicht zu empfehlen.

Erde aus dem Garten zu essen, ohne Untersuchungen, ohne Vorbehandlung kann im wahrsten Sinne des Wortes in die Hose gehen. Dann rumpelt es kurz im Gedärm und ein erstklassiger Durchfall meldet sich gehorsamst zum Dienst.

Denn in der Erde finden wir organisches Material, wie wir bereits wissen.

Und überall, wo es organisches Material gibt, finden sich auch viele Mikroorganismen.

Pathogene, also krankmachende Mikroben können für Durchfall sorgen, aber auch noch Schlimmeres. Ins Gras beißen hat zwar als Sprachbild einen ganz anderen Ursprung, könnte aber ungünstigstenfalls auch hier die Folge sein. Wer nun denkt: "Ess ich halt nicht ab Hof, kauf ich eben, was die Industrie zu bieten hat und besorge fürs Abendmahl vorbehandelte Blumenerde aus dem Baumarkt", der macht es nicht viel besser. Um den Preis möglichst niedrig zu halten, werden diese Erden mitunter mit Klärschlamm versetzt, also gestreckt. Das bedeutet, dass das, was man in den Kanal runterlässt, in die Kläranlage kommt und dort behandelt wird, als Teilzeitmitarbeiter der Blumenerde wieder retourkommt. Zumindest ist das theoretisch nicht ausgeschlossen. Es kann also sein, dass man sich so selber wieder trifft. Was man, wenn es nur um betriebswirtschaftliche Erwägungen ginge, eigentlich sogar noch billiger haben könnte.

Wenn man also in Japan oder an der Uni Graz ein Stück von Mutter Erde verzehrfertig macht, dann wird die vorher gründlich auf Schadstoffe untersucht und davon befreit. Anders als bei Supererden im Weltall, auf denen man hofft, Leben zu finden, ist das bei der Supererde in der Küche nicht erwünscht. Erst nach gründlicher Vorbehandlung wird gekocht und aufgetischt. Das schmeckt zwar letztlich immer noch nach Erde, und es knirscht beim Essen zwischen den Zähnen, aber deshalb geben sie im Geschmackslabor ja auch so köstliche Sachen wie Schweinsbraten, Wurzelgemüse, Mascarpone und in Kaffee getauchte Biskotten rundherum, damit man die Erde nicht so merkt.

MARTIN PUNTIGAM ist Solokabarettist & Master of Ceremony der "Science Busters". Nächste Termine im Stadtsaal Wien: 13.9.: "Das Universum ist eine Scheißgegend"; 14.9.: Blade feat. Gunkl; 17.10.: "Bierstern, ich dich grüße"(Premiere der neuen Show).