Pharmariese verklagt Wiener Start-up-Unternehmen

Pharmariese verklagt Wiener Start-up-Unternehmen

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Es klingt wie das Lehrbeispiel einer geglückten Unternehmensgründung: Ein Team junger Mediziner, Betriebswirte und Softwareexperten ersinnt einen klugen Geschäftsplan, gewinnt potente Investoren, staubt Forschungsförderungen ab und realisiert 2011 ein innovatives Start-up. Bald folgen Preise für die gelungene Gründung, und es zeigt sich: Die Idee war goldrichtig. Diese bestand darin, medizinische Erkenntnisse über Wechselwirkungen von Medikamenten in eine komfortable Datenbank zu speisen und einschlägigen Berufsgruppen zur Verfügung zu stellen - vor allem Klinikärzten und Apothekern, die dank dieses elektronischen Nachschlagewerks nun per Tastendruck abfragen können, ob sich etwa zwei Arzneien, die sie einem Patienten verschreiben möchten, miteinander vertragen. Die wissenschaftlichen Basisinformationen stammen dabei von renommierten internationalen Forschungsinstituten, und mit diesem Wissen wird die Datenbank gefüttert und laufend erweitert.

Pharmariese Sanofi klagt

Die ersten drei Geschäftsjahre verliefen durchaus erbaulich für die Wiener Diagnosia Internetservices GmbH. Mittlerweile ist der Kundenstock auf mehr als ein Dutzend Spitäler gewachsen, die Softwaretools wie "Diagnosia Enterprise“ nutzen, um Arzneiwechselwirkungen zu prüfen. Im vergangenen Oktober aber wurde das friktionsfreie Entrepreneurklima jäh getrübt. Da erhielten die beiden Gründer, der Wirtschaftsinformatiker Marco Vitula und der Mediziner Lukas Zinnagl, Post von einem der bekanntesten Pharmakonzerne. Sanofi-Aventis schickte ein zweiseitiges Schreiben, in dem in harschem Ton ein "Rechtsanspruch auf Unterlassung, Beseitigung und Schadenersatz“ erhoben wurde. Ferner wurde ein Forderungskatalog beigefügt, dessen Akzeptanz "unverzüglich, das heißt heute bis 18.00 Uhr, schriftlich zu bestätigen“ sei. Rechtliche Schritte behalte man sich vor.

Was hatte die kleine Wiener Softwareschmiede verbrochen, um einen bedeutenden Player der Pharmabranche derart in Rage zu versetzen? Diagnosia hatte einem Medikament von Sanofi, dem Schmerzmittel Novalgin, Wechselwirkungen zugeordnet, die dem Hersteller ganz und gar nicht gefielen. Sanofi verlangte deshalb die Löschung aller entsprechenden Einträge vom Webportal. Zudem wurde insistiert, "binnen drei Tagen alle Nutzer der Plattform, die ärztlichen Leiter aller Krankenanstalten in Österreich, die Leiter aller Anstaltsapotheken und Medikamentendepots über die Richtigstellung“ zu informieren. Überdies müsse eine Richtigstellung in der Apothekerzeitung geschaltet werden.

Jungunternehmer geben nicht nach

Nach dem ersten Schock prüften Zinnagl und Vitula den Sachverhalt. Die medizinischen Daten generieren schließlich nicht sie selbst, weshalb sie ihre Experten kontaktierten - darunter das schwedische Karolinska Institut, eine Hochburg der internationalen Wissenschaft, an der alljährlich auch die Nobelpreise verliehen werden. Die Experten zeigten sich verblüfft über das Begehren von Sanofi und urteilten, die Angaben von Diagnosia seien wissenschaftlich fundiert. Daher beschieden die Jungunternehmer dem Pharmakonzern, man könne den Forderungen nicht nachkommen. Sie hätten es sich zum Prinzip gemacht, argumentieren sie, stets die Patientensicherheit hochzuhalten und gänzlich unabhängig von der Industrie zu agieren. Würde man sich nun den Begehrlichkeiten eines Konzerns beugen, ramponierte dies erstens das Image, und zweitens gehe es, wenigstens theoretisch, um die Gesundheit von Menschen. Tatsächlich zählen die Wechselwirkungen verschiedener Präparate zu den oft unterschätzten Risiken im Gesundheitsbereich.

Freilich war Zinnagl und Vitula klar, dass sie mit ihrer Antwort ein höchst ungleiches Match in Kauf nahmen. Im Dezember reichte Sanofi tatsächlich Klage wegen Kredit- und Rufschädigung ein, wobei das entsprechende Schriftstück just am Nachmittag des 23. Dezember zugestellt wurde. Überdies begehrte der Konzern eine Einstweilige Verfügung, um die Inhalte auf der Diagnosia-Site einzuschränken - was im Jänner abgewiesen wurde. Am Dienstag dieser Woche sollte nun der Prozess beginnen - vorigen Freitag Nachmittag wurde der Termin jedoch auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Streitwert beträgt knapp 20.000 Euro.

Kann gut sein, dass die Causa in einen Gutachterstreit mündet, um die Kernfrage zu klären: Wer hat eigentlich Recht? Und worum im Detail geht es überhaupt?

Welcher Wirkstoff fällt in welche Klasse?

Im Vorfeld pochte Sanofi auf mehrere Punkte, etwa folgenden: Medikamente lassen sich - je nach biochemischer Struktur und Wirkprofil - definierten Klassen zuordnen, und einer der Knackpunkte ist nun die Frage, in welche Klasse Novalgin respektive dessen Wirkstoff Metamizol fällt. Eine dieser Kategorien, der zum Beispiel das Schmerzmittel Aspirin zugerechnet wird, heißt Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR). Eine dokumentierte Interaktion dieser NSAR - also ein unliebsamer Effekt bei gleichzeitiger Verschreibung mit bestimmten anderen Präparaten - ist ein erhöhtes Blutungsrisiko: die Gefahr, dass die Blutgerinnung beeinträchtigt wird. Diagnosia gibt in der Online-Datenbank auf Basis der zugelieferten Studien an, Metamizol könne ähnliche Effekte zeitigen wie die NSAR-Gruppe. Indirekt wird damit ein Zusammenhang zwischen Novalgin und einem potenziellen Blutungsrisiko hergestellt.

Unter anderem daran stößt sich Sanofi: Die Wirksubstanz Metamizol sei gar kein NSAR, weshalb alle damit in Verbindung gebrachten Informationen unzulässig und zu löschen seien.

Als Laie könnte man nun denken, dass es doch ein Leichtes sein müsste zu beantworten, ob etwas in die Schublade A oder B gehört, gleichsam Fisch oder Fleisch ist. Doch leider nein: In vielen deutschsprachigen Lexika wird Metamizol als Substanz eingestuft, die per definitionem kein NSAR sei. Das britische Kompendium "Stockley’s Drug Interactions“ hingegen ordnet Metamizol sehr wohl dieser Gruppe zu, genau wie Ausführungen der EMA, der europäischen Arzneimittelagentur. Und an anderer Stelle heißt es: Metamizol werde manchmal als NSAR bezeichnet, manchmal aber nicht. Der finnische Pharmakologe Kari Laine wiederum, einer der Berater von Diagnosia, vertritt die Ansicht, die Klassifikationsdebatte sei ohnehin Haarspalterei: Denn Tatsache sei, dass Studien dem Präparat aufgrund biochemischer Merkmale ähnliche Wechselwirkungen zuschrieben wie den klassischen NSAR. Und nichts anderes verrate das Informations-Tool des Wiener Start-ups.

Uneinigkeit bei Experten

Der auf den ersten Blick kleinlich wirkende Konflikt beleuchtet letztlich ein prinzipielles und recht beunruhigendes Phänomen: Mitunter sind Experten in Bezug auf die präzise Wirkung von äußerst populären Medikamenten völlig uneins. Novalgin ist noch dazu eine Art Spezialfall: Es kam bereits 1922 auf den Markt, in Österreich in den 1950er-Jahren. Es ist damit ein sehr altes Medikament - und schlecht erforscht, weil damals gänzlich andere Standards der medizinischen Prüfung galten. Fragt man Forscher, wie Novalgin überhaupt wirkt, lautet die Antwort: Wir wissen es nicht wirklich. Entsprechend schwierig ist eine unzweifelhafte Zuordnung zu einer konkreten Substanzklasse - wobei hinzukommt, dass auch diese Klassen einer historischen Entwicklung unterworfen sind. Je mehr Medikamente auf den Markt kommen und je vielfältiger die Wirkweisen sind, desto kniffliger wird es, ein Präparat in eine vor Jahrzehnten definierte Gruppe zu packen.

Und laufend produziert die Forschung neue Ergebnisse, mehr als je zuvor in der Geschichte. Unternehmen wie Diagnosia aktualisieren ihre Datenbanken daher permanent anhand jüngster Evidenz, um den Kunden im klinischen Alltag Orientierung zu ermöglichen. Hätte Sanofi, so sagt Lukas Zinnagl, nur den fachlichen Diskurs gesucht, hätte man die Positionen austauschen und eventuell Informationen auf der Website adaptieren können, sofern wissenschaftlich begründet.

Aber warum sofort die harte Gangart? Warum die Androhung juristischer Schritte? Sanofi Österreich verweigert profil gegenüber dazu jede Stellungnahme: Zu laufenden Verfahren äußere man sich nicht.

Dass der Konzern wenig Begeisterung für unfreundliche Information zum Thema Novalgin aufbringt, ist aber einleuchtend: Österreich und auch Deutschland sind Länder, in denen sich das Schmerzmittel großer Beliebtheit erfreut. In anderen Staaten - darunter im angloamerikanischen Raum, in Schweden und Japan - wurde Novalgin vom Markt genommen oder nie zugelassen. Grund dafür waren zwar seltene, dann aber teils gravierende Nebenwirkungen. In unseren Breiten dagegen erlebe Novalgin fast eine Art Renaissance, wie eine Wiener Pharmakologin berichtet. Sanofi bewirbt das Medikament unter dem Motto: "Raus aus dem Schmerz.“

Was man nun tatsächlich über dessen Effekte behaupten darf, wird vermutlich der ins Haus stehende Prozess zeigen, wann immer er nun beginnt - und vielleicht erörtert der Richter sogar die grundlegende Frage, wie genau die Fachwelt eigentlich weiß, welche Präparate sie ihre Patienten schlucken lässt.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft