Wortschöpfungsgeschichte

Wie das Lesen unser Gehirn verändert

Lesekompetenz. Wie das Lesen unser Gehirn verändert

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Dieses neumodische Zeug war ihm ein Gräuel. Es handle sich um eine krasse Fehlentwicklung mit unabschätzbaren Folgen für die Gesellschaft, mahnte der große Denker. Er prophezeite enorme Risiken für den geistigen Zustand der Menschheit, warnte vor einer Verlotterung der Sprache, vor einer Verkümmerung der Merkfähigkeit und dem Verlust eines tieferen Verständnisses von Wörtern. Die Jugend werde bloß wahllos und unreflektiert Unmengen von Information aufsaugen, jedoch ohne sinnstiftende Interpretation und Gewichtung.

Es handelt sich nicht etwa um einen zeitgenössischen Literaten alter Schule, der die Computerära oder den Trend zu elektronischen Lesegeräten beklagt. Die Kritik ist zweieinhalb Jahrtausende alt und stammt vom griechischen Philosophen Sokrates, der sich vehement gegen die Verbreitung der Schrift wehrte. Sokrates war Verfechter des gesprochenen Wortes, der akkuraten Analyse von Sätzen im Dialog. Geschriebenen Text hielt er für minderwertig und der mentalen Reifung des Menschen für abträglich.

Durchaus ähnlich klingen heute die Einwände, wenn es um neue Varianten des Lesens geht, besonders in digitaler Form. Womöglich erleben wir „jetzt wieder einen sokratischen Moment“, meint die amerikanische Neurowissenschafterin Maryanne Wolf, die das Center for Reading and Language Research leitet. Auch die Salzburger Germanistin Doris Schönbaß argumentiert in einer Analyse zur Zukunft der Lesekultur, der gegenwärtige Wandel könnte „Historiker später vielleicht einmal dazu veranlassen, genau jene Jahre, die wir durchleben, als Beginn eines neuen Zeitalters anzusetzen“. Tatsächlich glauben viele Experten, dass die Menschheit in Bezug auf das Lesen zurzeit die größte Umwälzung seit der Erfindung der Schrift erfährt – und damit gravierende Änderungen bei einer Fertigkeit, die als bedeutendste humane Kulturleistung erachtet wird.

Erhitzte Gemüter
Innovationen im Bereich des Lesens waren stets von höchster Sensibilität begleitet. Heftiger Widerspruch regte sich nicht nur beim Übergang von mündlicher Überlieferung zur Schrift. Ebenso irritiert waren kritische Geister der Neuzeit, als gebildete Menschen plötzlich begannen, im Stillen zu lesen – man fand das unerhört, denn bis dahin war es üblich gewesen, Texte laut vorzutragen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist es nun der Schwenk zu E-Books und Tablets sowie zur zunehmenden Nutzung des Internets als Informationsquelle, der die Gemüter erhitzt. Sind wir nicht gerade Zeugen einer Entwicklung, lautet die häufig artikulierte Sorge, welche auf lange Sicht die Lesekompetenz zersetzt, Muße und Konzentration beeinträchtigt, die angeblich ohnehin grassierende Lesemüdigkeit noch weiter verschärft und einem wirklichen Verständnis des geschriebenen Worts entgegenwirkt?

Ob nun mit Blick auf die fortschreitende Digitalisierung oder aufs Bildungsniveau im Allgemeinen – Studien zu Lesefreude und Lesefähigkeit erfahren stets ein hohes Maß an Aufmerksamkeit, vor allem, wenn der Fokus auf die junge Generation gerichtet ist. Erst kürzlich wurden die Daten zur jüngsten PISA-Erhebung publiziert, und in Bezug auf das Lesen boten sie wenig Grund zur Freude. Zwar scheint sich die Kompetenz der österreichischen Kinder zuletzt graduell gebessert zu haben, doch im internationalen Vergleich schneiden heimische Kids immer noch bescheiden ab (siehe Kasten am Ende). Auffallend oft hapert es am dürren Wortschatz, wie ein Wiener Gymnasiallehrer berichtet: Das Durcharbeiten eines Buches sei ins Stocken geraten, als die Klasse über die Begriffe „morsch“ und „Fäulnis“ stolperte – die Kinder hätten schlicht nicht gewusst, was diese Wörter bedeuten.

Eine Untersuchung von Doris Schönbaß unter mehr als 1000 Schülern benennt eine mögliche Ursache. Literatur gilt nicht gerade als cool, besonders nicht bei Burschen, zudem sinkt der Zuspruch mit der Zeit. Für 78 Prozent der 14-Jährigen hat Lesen ein „niedriges Image“, bei den Zehnjährigen liegt dieser Wert noch um fast 20 Prozentpunkte darunter. Welche Folgen dies in späteren Jahren haben könnte, wird immer öfter im Rahmen von Tagungen erörtert, bei denen Experten die Zukunft des geschriebenen Wortes debattieren. Die Kernfragen lauten: Existiert noch ausreichend Interesse an jenen fast 7000 literarischen Werken, die pro Jahr in Österreich auf den Markt gelangen? Und wird man noch Gefallen daran finden, Regale mit gedruckten Büchern zu befüllen? Oder freunden sich jene Konsumenten, die nicht ohnehin andere Freizeitbeschäftigungen bevorzugen, zunehmend mit elektronischen Lesegeräten an, wie Prognosen andeuten, die bis Ende dieses Jahres von zehn bis 15 Prozent Umsatzanteil durch E-Books ausgehen?

Auch die Zeitungs- und Zeitschriftenbranche hält intensiv Ausschau nach einer zukunftskompatiblen Positionierung. Lesen sei nachgerade „konstitutiv für die Orientierung des Bürgers in einer demokratischen Gesellschaft“, postulierte der Medienforscher Matthias Rath Ende November bei einer Enquete des Verbandes Österreichischer Zeitungen (VÖZ). Die regelmäßig ermittelten Lesedefizite müsse man daher als „demokratiepolitischen Skandal“ erachten. VÖZ-Geschäftsführer Gerald Grünberger ergänzte, Printmedien seien gleichsam Motor einer „unabhängigen und vitalen Demokratie“.

Doch wie die Menschen motivieren, sich auf Basis kluger Sachtexte politisch zu orientieren? Wie, andererseits, sie vom Zauber guter Literatur überzeugen, von jenem von Psychologen „Flow“ genannten Erlebnis, das sich einstellt, wenn der Leser ganz und gar in einer Geschichte versinkt und mit deren Protagonisten verschmilzt? Bedarf es wirklich einer neuen, zeitgemäßen Verpackung, um das geschriebene Wort, gleich ob fundierte Information oder packende Belletristik, schmackhaft zu machen?
Mittlerweile hat sich eine Wissenschaft vom Lesen etabliert, die jedoch kaum mehr als zwei Jahrzehnte alt ist und sich vorwiegend mit elementaren Fragen wie jener befasst, warum der Mensch überhaupt liest und was dabei auf neuronaler Ebene geschieht. Dennoch lassen sich aus den Daten der jungen Disziplin bereits manche Empfehlungen ableiten, und als gewiss darf vor allem eines gelten: Die Bedeutung des Lesens für den humanen Geist kann kaum überschätzt werden.

Kulturelle Errungenschaften
Ausgangspunkt vieler Überlegungen ist der Umstand, dass das Hervorbringen von Schrift – anders als zum Beispiel von Sprache – keine genetische Wurzel hat. Während die Neigung zu verbaler Artikulation im Erbgut des Homo sapiens fix verankert ist, unternahm der Mensch hunderttausende Jahre keinen Versuch, seine Lautäußerungen niederzuschreiben und für die Nachwelt zu konservieren. Die Innovation einer vollständigen Schrift glückte vor kaum mehr als 5000 Jahren: die Formulierung des Alphabets im antiken Griechenland (siehe Kasten am Ende). Schreiben und Lesen sind keine evolutionären Errungenschaften, sondern kulturelle, die auf Lernprozessen basieren – und auch heute individuell erlernt und trainiert werden müssen, um sie zu erhalten. „Die entsprechenden Schaltkreise und Nervenbahnen werden erst gebildet, wenn man hunderte Male mit Buchstaben und Wörtern konfrontiert worden ist“, erläutert Neuroforscherin Maryanne Wolf, die das Lesen für eine der „bemerkenswertesten Einzelerfindungen der Geschichte“ hält.
Mit modernen Messmethoden kann die Wissenschaft heute ziemlich genau erklären, wie die Buchstaben in unser Gehirn gelangen und was dort mit ihnen geschieht. Nur in der Fovea, dem Zentrum der Netzhaut, ist die Auflösung optischer Reize hoch genug, um Lesen zu ermöglichen. Zugleich erfasst dieser Bereich bloß 15 Grad des Sehfeldes, weshalb der Blick beim Lesen eines Textes unablässig hüpft – und zwar in sogenannten Sakkaden. Vier bis fünf solche Intervalle sind in jede Lesesekunde gepfercht, und pro Sakkade nehmen wir zehn bis zwölf Buchstaben auf. Derart fließt Geschriebenes in winzigen Häppchen in den Kopf, wobei unser sensorisches Instrumentarium derart geschmiert läuft, dass ein guter Leser 400 bis 500 Wörter pro Minute bewältigt.

Mittlerweile lässt sich sogar der detaillierte Weg der Wörter durchs Gehirn beobachten, indem man aufzeichnet, nach welchen Zeitabständen Nervenzellen an welcher Stelle neuronale Aktivität verraten. Etwa 150 Millisekunden nach der visuellen Identifizierung eines Wortes weiß das Gehirn, was es damit anstellen soll. Es schickt die Buchstabenkombination zunächst in die linke Schläfenregion des Hinterhaupts. Dieser Bereich, eingebettet zwischen Sprach- und visuellen Arealen, ist nach Ansicht des französischen Kognitionspsychologen Stanislas Dehaene gewissermaßen das Alphabetmodul des Menschen – und zwar unabhängig von der Muttersprache. Ob Deutsch, Chinesisch oder Hebräisch: Bis auf geringfügige Abweichungen reagiert stets derselbe Schaltkreis im Gehirn auf geschriebene Wörter. Einen indirekten Beweis für die Funktion dieses Areals liefern manche Patienten, die an einer Schädigung dieses Abschnitts der Schläfenregion leiden: Ihr Sehvermögen ist einwandfrei – doch von einem Tag auf den nächsten sind sie unfähig, auch nur einen Buchstaben zu lesen. Es gebe demnach, so Dehaene, „Mikrobereiche in der Hirnrinde, die Wörtern gewidmet sind“. Erst nach weiteren 100 Millisekunden treten auch andere Areale in Aktion, darunter solche, die für Sprachverarbeitung und Bedeutungszuweisung zuständig sind.

Dass der Mensch überhaupt über einen Wortschaltkreis im Gehirn verfügt, ist im Grunde verblüffend: Obwohl ihm die Biologie die Neigung zum Lesen nicht ins Genom geprägt hat, verfügt er über hochspezialisierte Hirnabschnitte dafür. Dehaene vertritt die These des „neuronalen Recycling“: Ursprünglich für andere Zwecke bestimmte Bereiche des Gehirns seien gleichsam umgewidmet worden, um das gesprochene Wort in Symbole zu transformieren. Konkret handle es sich dabei um visuelle Zentren, die zunächst der Erkennung von Objekten und Mustern dienten. Teile des Sehzentrums hätten sich damit neu verschaltet und ans Lesen angepasst.

Die Basis ist jedoch evolutionär: Einst könnte es von großem Vorteil gewesen sein, signifikante Formen möglichst rasch zu identifizieren – sei es die Spur eines Raubtieres oder eine besondere geometrische Konstellation von Materialien, die zur Herstellung eines Werkzeugs inspirierte. Dehaenes Argumentation zufolge strotzt die Natur regelrecht vor „Protobuchstaben“: die T-Gestalt eines Astes, ein L, durch zwei aufeinander stoßende Kanten gebildet, die vielfältigen Formen des O. Im Lauf der Jahrtausende sei ein „von den Neuronen bevorzugtes Formenalphabet“ gediehen, das uns heute das Lesen erlaubt – woraus auch die Annahme resultiert, dass die nun gebräuchlichen Schriftzeichen keineswegs willkürlich sind, sondern letztlich dem Vorbild der Natur gehorchen. Buchstaben entstanden nach dieser Theorie nicht zufällig, sondern wurden unbewusst genau so entwickelt, dass sie den Präferenzen des Gehirns entsprechen, welches bei all seiner potenziellen Plastizität dazu nicht über Gebühr nachjustiert werden musste. „Unser Sehsystem hat aus seiner Evolution genau so viel Flexibilität geerbt, dass es auch als Lesegehirn verwendet werden kann“, glaubt Dehaene.
Wie sehr Nervenzellen auf Schrift reagieren, konnten Forscher vor einigen Jahren quasi im Zeitraffer beobachten: Nachdem einer Gruppe kolumbianischer Analphabeten das Lesen beigebracht worden war, suchten die Forscher nach Veränderungen im Gehirn dieser Personen. Und tatsächlich: Der Lernprozess führte zu einer Verdichtung der grauen Hirnsubstanz. Zudem festigten sich die Verbindungen zwischen manchen neuronalen Regionen. Eine andere Studie, publiziert im Herbst des Vorjahres, deutet darauf hin, dass Lesen die soziale Kompetenz stärkt. Probanden, die häufig gute Literatur mit differenziert und lebensnah gezeichneten Charakteren konsumierten, schnitten bei psychologischen Tests besonders gut ab, wenn sie etwa die emotionale Befindlichkeit von auf Fotos dargestellten Personen beurteilen sollten.

Im Hinblick auf die aktuelle Debatte um Stellenwert und Zukunft des Lesens stellt sich die Frage: Gelten die neuronalen Vorzüge nur für das klassisch gedruckte Wort? Oder sind Präsentationsform und Verpackung ohne Belang? Eine erste Antwort liefert der US-Psychiater Gary Small, der die Gehirne von Probanden verglich, die Informationen entweder konventionellen Buchseiten entnehmen oder sie im Internet per Suche aufstöbern mussten. Bei der ersten Gruppe wurden genau jene Hirnareale stimuliert, die auch Dehaene als zentral für das Lesen erachtet: visuelle Regionen in der linken Hemisphäre. Die Suchmaschinengruppe dagegen zeigte besondere Aktivität in Gehirnabschnitten, die mit komplexen Entscheidungen assoziiert sind. Der Umgang mit neuen Medien, so die Konklusio von Small, führe vermutlich zur Umschaltung auf andere neuronale Bahnen.

Überdies scheinen Konzentration und Durchhaltevermögen beim Konsum elektronischer Literatur limitiert: Länger als drei bis zehn Minuten verweilt kaum jemand bei einem digitalen Text – jedenfalls im Web, spezifische Erhebungen zu E-Books stehen noch aus. Durchaus denkbar jedenfalls, dass die schier unendliche Fülle an Lesestoff, die ein digitales Gerät suggeriert, den Impuls entfacht, rasch weiterzugleiten, vielleicht gleich nebenan noch Spannendes zu finden. Geschickte Navigation und die rasche Bewältigung von Massen an Information werden dadurch nachweislich gefördert, doch die Aufmerksamkeitsspannen schrumpfen, wie eine weitere Untersuchung nahelegt: Bei dem Test ging es darum, stimmige von nicht stimmigen Begriffen zu unterscheiden. Menschen mit großer Neigung, die Freizeit am Bildschirm zu verbringen, hatten mit zunehmender Dauer des Tests Schwierigkeiten, die passende Antwort zu geben – sie ermüdeten, was gleichzeitig durchgeführte Hirnstrommessungen verrieten.

Neuroforscherin Maryanne Wolf hält angesichts solcher Ergebnisse eine gewisse Skepsis gegenüber neuen Leseformen wohl für angebracht. Wolf stellt die Frage in den Raum, „ob typische junge Leser die Analyse eines Textes und die Suche nach tieferen Ebenen der Bedeutung nicht als zunehmend anachronistisch empfinden“.

Andere Experten vertreten eine pragmatischere Sicht der Dinge und meinen sinngemäß: Hauptsache, es wird überhaupt gelesen. Das wahre Gegensatzpaar lautet vielleicht gar nicht analog versus digital, sondern ganz einfach Lesen versus Nichtlesen. Zumindest ein Indiz dafür lieferte die jüngste PISA-Studie: Kinder mit besonders geringer Lesekompetenz hatten keineswegs nur Schwierigkeiten mit gedrucktem Text – mit digitaler Information kamen sie sogar noch schlechter zurande. In den Erhebungen der Germanistin Doris Schönbaß wiederum stellte sich heraus, dass die passionierten E-Book-Fans nicht jene sind, die bedrucktes Papier verschmähen. Tendenziell zeigt sich vielmehr: Wer Lesen schätzt, nutzt beides. Wer Literatur für lästigen Ballast hält, keines von beiden. So gesehen sei es in jedem Fall erfreulich, wenn die Entscheidung zugunsten der Literatur falle, so Schönbaß, ganz gleich, ob traditionell oder digital: „Es ist in beiden Fällen ein Sieg der Lesekultur.“

Was im Nervennetzwerk von Menschen geschieht, denen Lektüre weitgehend fremd ist, verrät eine Studie vom November des Vorjahres: Den Versuchsteilnehmern wurden Satzreihen präsentiert, wobei sich manche davon zu konsistenten Aussagen fügten, andere jedoch keinen Sinn ergaben. Hirnstrommessungen zeigten anschließend, was in den Köpfen geübter respektive ungeübter Leser ablief: Bei Ersteren reagierten die Neuronen auf die verschiedenen Satztypen auffällig anders, bei den wenig trainierten Lesern hingegen traten keine nennenswerten Unterschiede zutage. Was letztlich bedeutet: Das Hirn dieser Personen bemerkte kaum eine Differenz zwischen sinnvollen Sätzen und wirrem Gestammel.

Infobox I

Zeichen der Zeit
Die Entwicklung der Schrift: von frühen Piktogrammen bis zum ausgereiften modernen Alphabet.

• In prähistorischen Höhlen finden sich neben Tierzeichnungen auch Punkt- und Strichmuster, die eine frühe Form von Symbolen darstellen könnten. Ähnliche Muster wurden in Knochen eingraviert.

• In Mesopotamien nutzten Menschen vor rund 10.000 Jahren kleine Objekte aus Ton, die wohl dem Zählen und Rechnen dienten – und die Leute vielleicht auf die Idee brachten, abstrakte Vorstellungen könnten generell festgehalten werden.

• Als erste richtige Schrift gilt die Keilschrift der Sumerer, die sich vor rund 5300 Jahren etablierte und aus Dutzenden von Zeichen bestand, welche in der Regel mit Schilfrohrspitzen in Lehm geritzt wurden.

• Etwa um dieselbe Zeit entwickelten die Ägypter ihre Hieroglyphenschrift, mit der sich Gegenstände, Werkzeuge, Personen, Teile des Körpers und Formen bezeichnen ließen.

• Erst die Erfindung der Alphabete bot ­jedoch die Möglichkeit, durch geschickte Kombination weniger Zeichen sämtliche Phänomene der Welt sowie auch nicht ­Figurales wie Emotionen und Gedanken festzuhalten und für die Nachwelt „einzufrieren“. Zunächst wurde dazu ein Satz von Konsonanten verwendet, wie etwa auf der Sinai-Halbinsel vor rund 3700 Jahren. Das erste vollständige Alphabet, das auch Vokale einschloss, war schließlich das griechische.

Infobox II

Erbsünden
Der Hauptgrund für mangelnde Leselust ist sozialer Natur – Konkurrenz durch elektronische Medien ist zweitrangig.
Zumindest auf den ersten Blick suggerieren die meisten Daten, dass Lesen beständig an Stellenwert verliert – und damit auch die Leseleistung sinkt. Nicht einmal eine Viertelstunde täglich, so zeigen Umfragen, bringen die Österreicher für Lektüre auf, dagegen sitzen sie fast zwei Stunden vor dem TV-Apparat. Für mehr als die Hälfte der 14- bis 15-jährigen Mädchen hat Lesen einen niedrigen Stellenwert, bei den Buben in dem Alter sind es sogar fast 80 Prozent.

Doch die Defizite sind kein Phänomen unserer Tage: Zwar attestierte die jüngste PISA-Studie einem Fünftel der österreichischen Schüler, am Ende der Pflichtschulzeit nicht in der Lage zu sein, den Sinn gedruckter Information zu erfassen – doch vergleichbare Untersuchungsreihen unter Erwachsenen zeigen, dass die Lesekunst früher keineswegs ausgereifter war. Besonders miserabel las die Nachkriegsgeneration, seit damals steigt die Lesefähigkeit kontinuierlich an. Allerdings fällt es heute mehr ins Gewicht, wenn Menschen geschriebenen Text unzulänglich verstehen. Kaum mehr ein Job in der Ära des allgegenwärtigen Computers, in dem dies nicht bedeutsam sei, argumentiert die Salzburger Germanistin Doris Schönbaß.

Aus all dem ergibt sich aber auch der Schluss, dass nicht die Nutzung digitaler Geräte die Leseleistung schmälert – auch wenn die beträchtlich erweiterten Möglichkeiten der Freizeitgestaltung durch Handys oder Computerspiele das Lesen konkurrenzieren. Der wichtigste Faktor ist jedoch sozialer Natur: Haben schon die Eltern kaum Freude am Buch, überträgt sich dies meist auch auf den Nachwuchs, wie Erhebungen zeigen, wonach die Lesekompetenz mit der Zahl der Bücher im Haushalt der Eltern korreliert. In dieser Studie sagten 13 Prozent der Jugendlichen, bei ihnen daheim gebe es maximal zehn Bücher, bei einem Drittel zwischen standen 25 bis 100 Werke im Regal. Nur neun Prozent berichteten von 500 oder mehr Büchern.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft