Robert Treichler: All unsere Verachtung

Der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko soll wissen, dass er mit jedem Verbrechen einer Zelle in Den Haag näher kommt.

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Nein, was das staatliche belarussische Fernsehen am Donnerstagabend ausgestrahlt hat, war kein „Interview“ mit dem inhaftierten Dissidenten Roman Protassewitsch. An seinen Handgelenken sah man deutliche Spuren von Misshandlungen, und noch augenfälliger war der erschreckende psychische Zustand des 26-Jährigen, der am 23. Mai zusammen mit seiner Partnerin bei einem Linienflug vom belarussischen Geheimdienst entführt worden war. Nur Menschen im Besitz ihrer Grundrechte können ein Interview geben. Wenn ein gefolterter Gefangener unter Zwang eine Selbstanklage in die Kamera spricht und dabei den Diktator lobt, ist das nichts als ein beklemmender Beleg für die systematischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, der sich eben dieser Diktator schuldig macht.
 

Was der gebrochene Protassewitsch unter unmenschlichem Druck gesagt hat, ist völlig irrelevant und wertlos wie ein Geständnis in einem Schauprozess. Die zwei Fragen, die von der internationalen Gemeinschaft geklärt werden müssen, lauten: Wie bekommt man Protassewitsch – und die anderen politischen Gefangenen in Belarus – frei? Und: Wie kann man Diktator Alexander Lukaschenko und seine Schergen zur Verantwortung ziehen?
Wirtschaftlicher und politischer Druck auf das Regime in Minsk zeigen bisher kaum Wirkung, und solange Russlands Präsident Wladimir Putin Belarus bei all seinen Untaten zur Seite steht, können auch Sanktionen wenig ausrichten. Notwendig sind diese dennoch. Die EU wird in der kommenden Woche weitere Maßnahmen gegen belarussische Regierungsmitglieder und Angehörige der belarussischen Luftwaffe diskutieren und aller Voraussicht nach beschließen.

Das Argument, Sanktionen, die nicht das gewünschte Ziel erreichen, seien sinnlos, ist ein Zeichen für Prinzipienlosigkeit. Ihre Bedeutung besteht erstens darin, das Leben der Täter unangenehmer zu machen, und zweitens in ihrer symbolischen Botschaft: Sie sind Ausdruck unserer Verachtung.

Verachtung soll nicht unterschätzt werden. Sie ist eine emotionale, aber wohlüberlegte Reaktion gegenüber einem Barbaren, dessen wir – noch – nicht habhaft werden können. „Es gibt kein Schicksal, das nicht durch Verachtung überwunden werden kann“, schrieb der existenzialistische Philosoph Albert Camus, und das gilt auch für das Schicksal der – vorübergehenden – Machtlosigkeit angesichts der Tatsache, dass der Westen Protassewitsch nicht zu Hilfe kommen kann.

Als US-Präsident Joe Biden kürzlich in einem Interview auf die Frage, ob er Putin für einen „Killer“ halte, mit „Ja, das tue ich“ antwortete, hielt ich das zunächst für einen Fehler. Inzwischen glaube ich, dass Biden damit recht hatte, die Wahrheit auf vermeintlich undiplomatische Weise auszusprechen. Putin ist verantwortlich für den Mordanschlag auf Alexej Nawalny, und er deckt das verbrecherische Regime von Belarus. Dass die USA und auch Europa mit Russland in vielen Fragen kooperieren müssen, hindert Biden nicht daran, den korrekten Begriff „Killer“ auf Putin anzuwenden.

Es ist die Aufgabe der freien Welt, ihrer Verachtung für Menschenrechtsverletzer Taten folgen zu lassen. Dafür gibt es die internationale Strafjustiz. Alexander Lukaschenko mag sich sicher fühlen. Belarus ist dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nicht beigetreten, und im UN-
Sicherheitsrat, der per Resolution den IStGH beauftragen kann, Ermittlungen aufzunehmen, schützt ihn das Veto Russlands. Doch diese Sicherheit ist trügerisch.

Beim IStGH in Den Haag läuft bereits eine vorgerichtliche Prüfung wegen Anschuldigungen gegen belarussische Behörden. Es ist möglich, dass sich das Gericht für zuständig erklärt. Ein Präzedenzfall dafür war das Verfahren wegen Verbrechen gegen Rohingya-Muslime aus Myanmar, die in das Nachbarland Bangladesch geflohen waren. Myanmar ist nicht Mitglied des IStGH, wohl aber Bangladesch, als indirekt von den Verbrechen betroffener Drittstaat.
Auch auf seine Immunität als Staatschef sollte sich Lukaschenko nicht verlassen.

Slobodan Milošević war Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, als das Haager Tribunal Anklage gegen ihn erhob; Charles Taylor war Präsident von Liberia, als der Sondergerichtshof für Sierra Leone einen Haftbefehl gegen ihn ausstellte; Omar al-Bashir, zum Zeitpunkt der Anklage des IStGH wegen Genozids in Darfur Präsident des Sudan, sitzt in einem Gefängnis in Khartum, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er bald nach Den Haag ausgeliefert wird.

Im Fall Lukaschenko werden längst Zeugenaussagen wegen erzwungener Emigration, Folter und anderer Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesammelt. Das Video des misshandelten Roman Protassewitsch wird als weiteres Beweisstück dienen.

Alexander Lukaschenko soll wissen, dass er mit jedem neuerlichen Verbrechen, das er anordnet, einer Zelle in Den Haag näher kommt, auch wenn er sich jetzt noch hinter Putin verstecken kann.

Und eines Tages wird Alexander Lukaschenko hoffentlich die zivilisierteste Form der Verachtung zu sehen bekommen. Einen Schuldspruch.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur