Rechtspfleger: Kampf um rechte Wähler

Mit Herbert Kickl an der FPÖ-Spitze wird das Match um die rechten Wähler wohl neuen Schwung aufnehmen. Was hat die ÖVP unter Sebastian Kurz dieser Zielgruppe bisher geliefert – außer befremdliche Islamlandkarten? Eine Zwischenbilanz.

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Journalisten mit Spezialgebiet Islam dient sie seit bald zehn Jahren als Recherche-Fundus: die Islamlandkarte der Universität Wien mit Namen, Adressen, Telefonnummern und theologischen Einordnungen zu Islam-Vereinen in ganz Österreich. Außerhalb der Redaktionsstuben kratzte das akademische Projekt bislang weder Vereins-Muslime noch Anrainer. Doch vergangenen Dienstag beschäftigten sich plötzlich die obersten Menschenrechtshüter des Kontinents damit: Der Europarat mahnte ein, die
Islamlandkarte „in der gegenwärtigen Form zurückzuziehen“, weil sie „muslimfeindlich und stigmatisierend“ sei. Tatsächlich schwärmten Rechtsextreme – vermutlich „Identitäre“ – umgehend aus und versahen Adressen von Moscheen, die auf der Karte als problematisch eingestuft wurden, mit Schildern: „Achtung! Politischer Islam in deiner Nähe.“
 

Die Karte ging offline und wird nun überarbeitet. ÖVP-Integrationsministerin Susanne Raab verteidigt sie weiterhin mit aller Kraft. Die Oberösterreicherin prägt die Integrationspolitik von Sebastian Kurz seit dessen Zeit als Integrationsstaatssekretär wesentlich mit. In ihre Verantwortung fiel auch die Gründung der neuen Dokumentationsstelle Politischer Islam, die religiös motivierten Extremismus unter die Lupe nimmt. Dass ausgerechnet diese Stelle die Islamlandkarte bei einer Pressekonferenz vorstellte, rückte die darauf verzeichneten 600 Vereine fast zwangsläufig ins Zwielicht. Der Aufschrei durch Muslime sowie die Inszenierung durch Rechtsextreme wäre wohl ausgeblieben, wenn Raab eine neutralere Form der Präsentation gewählt hätte, zum Beispiel in ihrer Funktion als Kultusministerin für religiöse Angelegenheiten.

Bei Bürgern, die den Islam generell ablehnen, konnte die ÖVP mit der Islamisten-Watchlist wohl punkten. Der Kampf um diesen Teil des Elektorats wird mit Herbert Kickl an der FPÖ-Spitze wohl brutal werden. Doch was ist mit gemäßigteren Rechts-Wählern, die sich von Kurz eine substanziell neue Zuwanderungs- und Integrationspolitik erhofften? Ihnen blieb die ÖVP – verglichen mit ihren Versprechen – erstaunlich viel schuldig.

Halb offene Balkanroute

Kaum ein Begriff ist stärker mit dem politischen Aufstieg von Sebastian Kurz verbunden als dieser: Balkanroute. Nach dem Flüchtlings-Superjahr 2015 erweckte Kurz als Außenminister den Eindruck, als habe er die Asyl-Route im Alleingang geschlossen. Heute ist sie allerdings wieder ein Stück weit offen. 2020 gab es rund 15.000 Asylanträge, eine Steigerung um zehn Prozent im Vergleich zu 2019. In den beliebten Fluchtländern Schweden und Deutschland sanken die Anträge im selben Zeitraum um 40 bzw. 26 Prozent. „Wäre die Route offen, würden nicht 10.000 Migranten in Bosnien auf Weiterreise nach Norden warten“, sagt Innenminister Karl Nehammer zu profil. Er setzt nun verstärkt auf den Einsatz von Drohnen gegen Schlepper. Dennoch erwartet er 2020 rund 20.000 Asylanträge, das wäre der Höchststand seit 2017.

Vermurkstes Kinderkopftuch-Verbot

Gleich ganz in die politische Schublade hat die ÖVP ein weiteres Prestigeprojekt gesteckt: das Verbot des Kopftuchs für Schülerinnen unter zehn Jahren; im zweiten Schritt bis 14 Jahre. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hob das entsprechende Gesetz auf, weil der Fokus auf Muslime dem Gleichheitsgrundsatz widersprach. Die Niederlage war freilich absehbar. Hätte die ÖVP die Kleidervorschrift religionsneutral formuliert, hätte das Gesetz eher gehalten. Doch dafür war die Rücksicht der ÖVP auf katholische (Kreuze) oder jüdische Symbole (Kippa) zu groß.

Zwei weitere Beispiele von folgenloser türkiser Härte: die Kürzung der Mindestsicherung für Flüchtlinge – sie wurde vom VfGH gekippt. Und die Kürzung der Familienbeihilfe für EU-Ausländer – sie brachte Österreich auf europäischer Ebene ein Vertragsverletzungsverfahren ein.

Substanzielle Symbolgesetze

Nicht von Richtern, sondern von der Realität außer Kraft gesetzt wurde das türkise „Burka“-Verbot. In Zeiten der Maskenpflicht wird aus einem normalen Kopftuch schnell eine Vollverschleierung – eine Methode, die Touristinnen aus Saudi-Arabien bereits vor Covid-19 anwendeten. Als Symbolgesetz dafür, wo Österreich die Grenzen antiwestlicher Lebensweisen zieht, taugt das Burka-Verbot allemal.

Auch Symbolpolitik im buchstäblichen Sinn wurde gemacht – in Form neuer Verbote extremistischer Zeichen, etwa der Symbole der kurdischen Arbeiterpartei PKK, der ultranationalistischen Ustascha aus Kroatien oder der Grauen Wölfe aus der Türkei sowie der rechtsextremen Identitären, der Hamas und des sogenannten „Islamischen Staates“. Diese Verbote sensibilisieren. Und sie haben auch Folgen. So musste ein Mitarbeiter der Wiener Linien im Vorjahr seinen Dienst quittieren, nachdem er in Uniform den Wolfsgruß der Grauen Wölfe gezeigt hatte.

Peinlicher „Zwischenerfolg der Islamisten“

Das Verbot von Symbolen ist das eine; das Verbot von Vereinen, in denen Hass gegen den Westen gepredigt und Jugendliche indoktriniert werden, das andere. Bereits im Juni 2018 veranlasste die türkis-blaue Regierung die Schließung von sieben Moscheen. Alle sperrten wieder auf. „Ein Zwischenerfolg der Islamisten. Wir müssen nun noch fitter werden“, kündigte Nehammer – damals noch ÖVP-Integrationssprecher – im profil an. Doch die ÖVP biss sich am Vereinsrecht die Zähne aus. Nach dem Terroranschlag vom 2. November 2020 machten die Behörden die berüchtigte Tewhid-Moschee im 12. Gemeindebezirk dicht. Der Attentäter hatte sie wiederholt mit anderen Dschihadisten aufgesucht. Heute ist sie wieder offen.

Durchgeboxt hat die ÖVP dagegen ein umfassendes Anti-Terror-Paket. Es enthält einen neuen Straftatbestand namens „religiös motivierter Extremismus“. Staatsfeindliche Verbindungen konnten allerdings bereits davor verfolgt werden. Manche Richter werten den neuen Straftatbestand deshalb als Phantom-Gesetz. Mehr zur öffentlichen Sicherheit beitragen könnte die Fußfessel für Dschihadisten nach Haftentlassung, solange diese noch als radikalisiert gelten. Oder das neue Aussteigerprogramm für Dschihadisten, „Kompass“. Beides sind Projekte, die bereits in den ÖVP-Koalitionsregierungen mit der SPÖ und der FPÖ angestoßen wurden und die auch den Koalitionswechsel zu den Grünen überlebten.

Werthaltige Flüchtlingskurse

Besonders deutlich zeichnet sich die türkise Handschrift in den Wertekursen ab. Seit 2017 sind Flüchtlinge verpflichtet, Schulungen über das Leben in Österreich zu absolvieren. Für Frauen aus patriarchalen Gesellschaften sind diese Kurse über Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Demokratie, Menschenrechte oder Antisemitismus oft die erste Gelegenheit, ohne männliche Aufsicht mit westlichen Lebenswelten in Berührung zu kommen. Im Herbst wird die Dauer der Kurse von acht auf 16 Stunden erhöht.

Schon unter Türkis-Blau wurde die Betreuung und Rechtsberatung von Asylwerbern verstaatlicht, mit dem Motiv, die Asylverfahren in der neu geschaffenen Asyl-Agentur BBU zu beschleunigen. Das damit verbundene Ziel, Menschen ohne Chance auf Asyl rascher reinen Wein einzuschenken, wurde dadurch teilweise erfüllt.

Umstrittener – was ihren Nutzen betrifft – bleiben die Deutschklassen in den Schulen. In einer groß angelegten Befragung der Uni Wien beklagten Lehrer die Abgrenzung der Schüler, was deren fehlerhaftes Deutsch erst „kultiviere“. Nach dem ersten Jahr wären 80 Prozent der Deutschklassen-Schüler in den normalen Unterricht übergewechselt, entgegnet das Ministerium. Im vergangenen Wintersemester hätten es trotz Corona und Distance-Learning immerhin 33 Prozent geschafft. „Das ist keine Stigmatisierung“, zieht Bildungsminister Heinz Faßmann eine positive Bilanz.

Fazit: Bei weniger radikalen Reformen ist die türkise Handschrift in der Integrationspolitik durchaus erkennbar. Von den härtesten Ansagen an die rechte Wählerschaft blieben hingegen nur Überschriften: Achtjährige Schülerinnen dürfen weiter Kopftuch tragen, die Mindestsicherung für Flüchtlinge ohne Deutschkenntnisse ist nicht gekürzt, berüchtigte Moscheen stehen weiterhin offen, die Balkanroute ist wieder halb offen. Doch im populistischen Match um die härtere Ausländerpolitik waren Überschriften schon immer wichtiger als konkrete Einträge auf der Reform-Landkarte.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.