Little Britain: Wie schlecht geht es Großbritannien?

Regierungsversagen, Brexit, Wirtschaftsflaute und ständige Terrorgefahr: Selten zuvor war es um Großbritannien so schlecht bestellt wie jetzt - ausgerechnet nach einer Wahl, deren Ausgang das Land eigentlich stabilisieren sollte.

Drucken

Schriftgröße

Halifax liegt in Yorkshire, hoch oben im Norden Englands. Hier rauchten im 19. Jahrhundert die Schornsteine, die Stadt war für die Produktion von Wolle berühmt. Heute ist Halifax nur noch für eine Bank gleichen Namens bekannt, die aber auch längst von einem größeren Geldinstitut geschluckt wurde. Doch auch nach dem Niedergang der Industrie blieb die Stadt fest in den Händen der linken Labour Party, der Stimme der britischen Arbeiter.

Es war ein kleiner Affront, dass Theresa May noch im Mai ausgerechnet hier das Parteiprogramm der Conservative Party präsentierte. Damals lag Labour in den Umfragen so schlecht, dass es den Konservativen opportun erschien, sogar im Kernland des Gegners auf Stimmenfang zu gehen.

Doch statt zum Auftakt eines Triumphs für May wurde Halifax zu ihrem Waterloo. Die britische Regierungschefin wollte sich mit vorgezogenen Wahlen eine breite Mehrheit für die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel sichern - und scheiterte am Donnerstag vergangener Woche grandios. Zwar sind die Tories mit 318 von 650 Mandaten nach wie vor die stärkste Partei im britischen Parlament; die absolute Mehrheit, die Mays Vorgänger David Cameron im Jahr 2015 errang, ist jedoch weg.

Stattdessen kann sich ihr Herausforderer Jeremy Corbyn nun als Sieger fühlen, ohne die Wahl tatsächlich gewonnen zu haben. Seine Labour-Partei legte 29 Mandate zu - unnötig zu erwähnen, dass auch Halifax wieder rot wählte.

Doch damit geht Großbritannien, seit Jahrhunderten ein Pfeiler der Stabilität in Europa, mit einem "hung parliament“, in dem keine Partei eine Mehrheit hat, in einen weiteren chaotischen Sommer. Das Vereinigte Königreich wirkt plötzlich wie der kranke Mann Europas. "Britannien muss sich mit ähnlichen politischen Pathologien herumschlagen wie der deutschsprachige Raum vor 100 Jahren“, konstatiert der indische Autor Pankaj Mishra im profil-Interview (siehe Seite 44). Das ehemalige britische Empire ist heute ein zur Mittelmacht geschrumpftes Inselvolk und tut sich äußerst schwer damit.

Hinzu kommt, dass sich das Land nach dem Brexit-Votum aus der EU zurückziehen muss. Das ist der schlimmste Akt von Selbstbeschädigung einer europäischen Nation seit 1945. Erste Folgen machen sich schon bemerkbar: Die britische Wirtschaft wuchs in den ersten Monaten des Jahres 2017 nur noch um 0,2 Prozent - und damit am schwächsten in der gesamten EU.

Im Vereinigten Königreich, das so stolz auf den Grundsatz "Keep calm and carry on“ war, ist nichts mehr sicher.

Die Spätfolgen der Abwendung von Europa dürften aber noch viel schmerzhafter werden. Sowohl die Schotten als auch die Nordiren könnten sich angesichts des EU-Austritts von Großbritannien verabschieden. Die schottischen Nationalisten haben zwar bei der aktuellen Wahl 21 Sitze eingebüßt und werden das Vorhaben, ihr 2014 gescheitertes Unabhängigkeitsreferendum zu wiederholen, nicht so schnell wahrmachen. Doch vom Tisch ist die Gefahr, dass Großbritannien auf Little England schrumpft, nicht.

Das Vereinigte Königreich geht in eine lange Phase harter Verhandlungen mit äußeren und inneren Gegnern. In dem Land, das so stolz auf den Grundsatz "Keep calm and carry on“ war, ist nichts mehr sicher.

Drei Terroranschläge innerhalb von drei Monaten haben die britische Gelassenheit tief erschüttert. Die politische Führung wurde in nur zwölf Monaten fast komplett ausgewechselt. Jetzt droht auch noch Regierungschefin Theresa May ein Abgang auf Raten. Großbritannien geht im weltweiten Umbruch einen Sonderweg. Die Engländer lassen die Slim-fit-Phase des kontinentaleuropäischen Populismus aus. Ihre Spitzenkandidaten waren zwei trockene, silberhaarige Anti-Populisten - zumindest im Stil. Steif und unnatürlich wirkte die 60-jährige konservative Regierungschefin Theresa May über weite Strecken. Ihr 68-jähriger Herausforderer Jeremy Corbyn hat zwar zum ersten Mal in 40 Jahren seine Garderobe gewechselt und trägt nun dunklen Anzug mit roter Krawatte - den Mief der 1970er-Jahre konnte er aber nicht abschütteln.

Doch gerade die Vintage-Atmosphäre des Klassenkampfs scheint vor allem jungen Wählern zu gefallen - das Gefühl, einem Anti-Establishment-Aufstand im Stil von Corbyns US-amerikanischem Vis-à-vis Bernie Sanders anzugehören, ebenfalls. Das schreckt zwar die Banker und Bentley-Fahrer, ein Hauch von revolutionärer Euphorie kann dem depressiven Land nach sieben Jahren Sparpolitik aber nicht schaden. Sie könnte der Opposition helfen, die Minderheitsregierung von Theresa May vor sich herzutreiben, um einen harten Brexit zu verhindern.

In Waterloo verlor Napoleon seine allerletzte Schlacht, der gesamte Kontinent ging danach einen anderen Weg. Die Niederlage von Halifax wird nicht so bedeutend für die europäische Geschichte werden. Dass Theresa May sie politisch überleben wird, darf aber bezweifelt werden.

Ein Interview mit dem Schriftsteller Pankaj Mishra über die Krise Großbritanniens, den Wahlerfolg von Jeremy Corbyn und Brexit-Befürworter finden Sie zudem in der aktuellen profil-Ausgabe.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz