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Nach dem Brexit: Emotional ist der EU-Austritt bereits vollzogen

Nach dem Brexit: Emotional ist der EU-Austritt bereits vollzogen

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Minuten nach Bekanntgabe des Ergebnis zum Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der europäischen Union sind die Effekte dieser nationalen Entscheidung bereits deutlich spürbar: der Pfund verliert rund 20% seines Werts, der FTSE 100 Index fällt um 274 Punkte und laut Google wird die Suchanfrage “buy gold” 500% häufiger getippt als zuvor. Die Bank of England aktiviert den Ende Mai geleakten Geheimplan "Project zur Bookend" zur Rettung des Pfund im Falle eines Brexit.

Alles in allem scheint das Abstimmungsergebnis gereicht zu haben, um die zuvor oft beschworene Minikrise in den englischen Märkten auszulösen - und das ganz ohne eine ministerielle Einreichung der berühmten in Artikel 50 des Lissabon Vertrags beschriebenen Austrittsnotiz, die die 2-jährige Verhandlungsfrist einleiten würde. In den Pressekonferenzen zeichnet sich indes ein interessantes Bild ab. David Cameron zeigt sich diplomatisch und sprachgewandt wie gewöhnlich, als er seinen Rücktritt für Oktober (den Parteitag der Tories) bekannt gibt. Zwischen den Zeilen jedoch eine weitere Ankündigung: Es wird nicht Cameron sein, der die Austrittsnotiz einreicht.

Es wirkt, als ob die allgemeine Anbiederung der EU gegenüber den über Austritt sinnierenden Briten in Kälte umgeschlagen hätte.

Die offiziellen, im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Verhandlungen werden bis Oktober nicht beginnen. Auch Boris Johnson lässt ungewöhnliche Töne in seiner Pressekonferenz. Er lobt Cameron in aller Ehrlichkeit für seinen Dienst am Vaterland, versichert der jungen Generation (unter 25-Jährige haben mit etwa 70% für einen Verbleib in der Union gestimmt) dass Britannien durch seinen Austritt “nicht weniger europäisch werden würde als vorher.” Man habe überdies “keine Hast” in die Verhandlungen einzutreten. Man wünsche sich die Union als starken Partner für die Zukunft.

Die Größen der Union hingegen wirken not amused, ernst, entschlossen. EVP-Vorsitzende Weber lässt schon früh per Twitter wissen “Austritt ist Austritt” und es werde “keine Sonderbehandlung” geben für das Königreich. Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz folgen mit ähnlichen Aussagen. Jedoch nicht nur über die Umgangsweise mit den Abtrünnigen ist man sich einig - “man müsse die Dinge nun beschleunigen” gibt Juncker einer französischen Journalistin zu verstehen.

Das politische Katz-und-Maus-Spiel zwischen EU und UK nimmt also immer verwirrendere Züge an. Es wirkt, als ob die allgemeine Anbiederung der EU gegenüber den über Austritt sinnierenden Briten in Kälte umgeschlagen hätte. Der britische Austrittskämpfergeist hingegen scheint hingegen einer Form von versöhnlich-ängstlicher Schadensbegrenzung zu weichen. Britannien beschwichtigt, Europa ist beleidigt. England spielt auf Zeit, Europa hat genug vom Spielen.

Emotional ist der Austritt aus der Union bereits vollzogen.

Aus britischer Sicht bringt ein herauszögern des Austrittsgesuches einen klaren Vorteil. Auch wenn Verhandlungen offiziell erst mit Einreichung beginnen dürfen, können bis dahin vorsichtig die vorläufigen Positionen der Verhandlungspartner - also des Europarats und damit die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 Mitgliedsländer - ausgetestet werden. Vorausgesetzt, dass bereits Positionen vorhanden sind; zuletzt wurde von vielen noch das Fehlen des berüchtigten Plan B beklagt. Weiters können europäische Strukturen bis zum Ende der 2-Jahres-Frist (oder einem früheren Verhandlungsende) verwendet werden, um die Wirtschaft zu stabilisieren, oder zumindest langsam an kommende Umstände gewohnt werden. So könnte beispielsweise eine mit "Project Bookend" einhergehende kontrollierte Entwertung des Pfunds, gemeinsam mit bestehenden EU Freihandelsabkommen, einen Plus im Exportgeschäft zur Folge haben. Auch würde es dem Wirtschaftsdozenten der Stadtverwaltung Frankfurt Markus Frank die Zeit geben, sich auf 20.000 angekündigte “Migranten” aus dem Kapitalmarkt in London einzustellen.

Auch wenn die Bürokratie noch auf sich warten lässt, und der heutige Tumult an den Börsen erst der Absprung zum möglichen Köpfler der britischen Wirtschaft ist: Emotional ist der Austritt aus der Union bereits vollzogen.