„Wir erleben das Ende des Märchens”

Ägypten: Das Scheitern der islamischen Demokratie

Ägypten. Nahost-Experte Gilles Kepel über den Arabischen Frühling und das Scheitern der Demokratie

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Interview: Tessa Szyszkowitz

Zweieinhalb Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings droht die revolutionäre Bewegung in Ägypten zu scheitern. Auch im zweiten Anlauf zu Demokratie und Freiheit sind politisches Chaos und Gewalt das vorläufige Ergebnis. Die Nation, die Anfang 2011 geeint gegen Langzeitherrscher Hosni Mubarak protestierte, ist tief gespalten. Die Demonstranten am Tahrir-Platz, die vorvergangene Woche den Sturz des Muslimbruders Mohammed Mursi erzwangen, können noch nicht abschätzen, was sie damit tatsächlich erreicht haben. Vergangenen Freitag versammelten sich seine Anhänger zum "Marsch der Millionen“.

Ägypten verfügt zwar über neue Machthaber, die für die Zeit bis zu den Neuwahlen im Amt bleiben sollen. Doch deren Legitimität steht auf wackeligen Beinen. Die Muslimbrüder sollen an der Regierung beteiligt werden, setzen aber ihrerseits auf Blockade. Auch die Tamarrod-Bewegung, die maßgebliche Kraft hinter den Anti-Mursi-Protesten, fühlt sich übergangen. Als "diktatorisch“ bezeichneten ihre Repräsentanten die Verfassungserklärung von Übergangspräsident Adli Mansur, nur Stunden, nachdem Einzelheiten des Dekrets bekannt geworden waren. Die Demokratiebewegung hat zwar zum zweiten Mal die unbeliebte Staatsspitze vertrieben, doch wie 2011 sieht sie auch heute hilflos dabei zu, wie andere von der Revolution profitieren.

Ist das Experiment einer islamischen Demokratie in Ägypten gescheitert? Welche Gefahren gehen von den Ereignissen aus, und was bedeuten sie für die gesamte Region? Die kulturelle Krise der arabischen Gesellschaften sei tief greifend, sagt der französische Nahost-Experte Gilles Kepel im Gespräch mit profil und warnt: "Ägypten ist der Riese des Nahen Ostens. Wenn er umfällt, dann reißt er unter Umständen den ganzen Nahen Osten mit.“

profil:
In Ägypten droht längst mehr als nur der Verlust der Demokratie. Es geht um den Staat selbst - das bevölkerungsreichste arabische Land könnte im Bürgerkrieg versinken.
Gilles Kepel: Der Zusammenbruch des Staates ist tatsächlich eine reale Gefahr. In den vergangenen zwei Jahren wurde das soziale Gefüge Ägyptens zerstört. Heute gibt es zwei Lager, die gegeneinander kämpfen. Die Nicht-Islamisten wissen genau, was ihnen drohte, bliebe Präsident Mohammed Mursi an der Macht. Die Muslimbrüder auf der anderen Seite werden der Armee nie verzeihen, dass sie ihnen den Wahlsieg gestohlen hat. Natürlich lehnen sie jetzt jede weitere Beteiligung am "demokratischen“ Prozess ab. Die Muslimbrüder wurden zwar abgesetzt, doch sie haben immer noch viel Macht, und diese werden sie dazu benutzen, jeden konstruktiven Schritt zu behindern.

profil:
War es Mursis persönliche Schuld, dass der Ausgleich zwischen den verschiedenen Kräften in Ägypten gescheitert ist?
Kepel: Mursi war die falsche Besetzung. Doch die Islamisten haben insgesamt einen furchtbaren Fehler gemacht: Sie haben es nicht geschafft, ihre Basis zu verbreitern. Die Muslimbrüder haben sich sektiererisch verhalten. Mursi setzte etwa Adel el-Khayat als Gouverneur von Luxor ein, ausgerechnet einen Mann, der im politischen Flügel einer Partei sitzt, deren militärischer Arm, die Gamat Islamiya, 1997 für den Terroranschlag auf Touristen in Luxor verantwortlich war. Diese Gruppe will die Einführung der Scharia, die Trennung von Frauen und Männern, das Verbot von Alkohol. All das ist verheerend für einen Ort wie Luxor, der vom Tourismus abhängig ist. Diese Entscheidung hat alle Ägypter empört, die nicht nur über die religiöse oder säkulare Gesellschaft nachdenken, sondern sich Sorgen darum machen, wie es mit der Wirtschaft dieses verarmten Landes weitergehen soll.

profil: Ohne die Kooperation der Muslimbruderschaft wird Interim-Premier Hazem al-Beblawi aber kaum regieren können. Repression allein - die alte Methode der Armee - bringt im heutigen Ägypten niemand mehr zum Schweigen.
Kepel: In der Opposition werden die Muslimbrüder genauso destruktiv sein, wie sie es in der Regierung waren. Sie wurden jahrzehntelang verfolgt, gefoltert, umgebracht. Widerstand gegen ein von der Armee gestütztes Regime ist für sie die natürliche Form des politischen Kampfes.

profil: Haben die Muslimbrüder also nur strategisch falsch gehandelt? Hätte die Demokratie mit den Islamisten an sich funktionieren können?
Kepel: Wir erleben jetzt das Ende des Märchens, das davon handelt, dass Islamisten und Demokratie glücklich verheiratet sein können. Im Arabischen Frühling sollte uns weisgemacht werden - begleitet von der PR-Trommel des TV-Senders Al-Jazeera -, dass nach Jahrzehnten westlicher Kolonisierung und Unterdrückung durch Armeen und Diktatoren endlich die arabischen Völker selbst mit einer für sie authentischen Regierungsform an die Macht kommen. Eine strahlende Zukunft stand demnach der arabischen Welt bevor: Bärtige Männer, begleitet von verschleierten Frauen, vereinen harmonisch Scharia und Demokratie und leben dabei auch weiterhin glücklich von den Einkünften aus dem Ölgeschäft.

profil: So abstrus war die Idee der Selbstbestimmung unter heikler, aber wohl notwendiger Einbeziehung lokaler Traditionen auch wieder nicht.
Kepel: Nein, diese Fabel glaubt jetzt keiner mehr. Die kulturelle Krise der arabischen Gesellschaften reicht viel zu tief. Sie stehen zwischen ihrem zivilisatorischen und religiösen Erbe und den Anforderungen eines postmodernen, multipolaren Zeitalters. Es war bewegend zu sehen, wie groß die Euphorie über die neue Freiheit war. Es war auch klar, dass nach Jahrzehnten der Unterdrückung diese Begeisterung ihren Ausdruck in übersteigerter Form finden würde - in nationalistischer oder religiöser Ausprägung. Bei den ägyptischen Muslimbrüdern aber schlug vor allem die paternalistische und in der Vergangenheit wurzelnde Vorstellung von Gesellschaftsordnung durch. Nach dem demokratischen Sieg konnten sie mit großer Mehrheit ungehindert schalten und walten. Das dachten sie zumindest.

profil: In der Türkei und in Tunesien haben die Islamisten aber durchaus und nicht unbedingt erfolglos versucht, demokratisch zu regieren. Das haben Sie selbst diese Woche in der französischen Tageszeitung "Le Monde“ am Beispiel der tunesischen Regierungspartei Ennahda beschrieben.
Kepel: Der geistige Führer der tunesischen Islamisten, Rached Gannoushi, hat eine andere Wahl getroffen als Mursi in Ägypten. Die Islamistenbewegung Ennahda war in Tunesien in der Minderheit, als sie an die Macht kam. Und sie übernahm ein Land, in dem der Staat stärker und die Armee schwächer war als in Ägypten und in dem die säkulare Gesellschaft viel stärker ausgeprägt ist. Deshalb hat Gannoushi von Beginn an auf Kompromiss und Ausgleich gesetzt. Mursi dagegen hat alle seine Karten von Anfang an verspielt.

profil: Die ägyptische Armee könnte sich an den türkischen Generälen ein Beispiel nehmen: Sie drängten 1997 den ersten islamistischen Ministerpräsident Necmettin Erbakan aus der Regierung, lösten aber das Parlament nicht auf und ließen eine neue Islamistenpartei unter Recep Tayyib Erdogan zu den nächsten Wahlen zu. Erdogan gewann auch und regierte bis zu den Unruhen in diesem Sommer das Land 15 Jahre lang für türkische Verhältnisse relativ demokratisch.
Kepel: Es ist doch immer das Gleiche. Die Türkei befindet sich heute in der gleichen Situation wie Ägypten: Wenn die Islamisten entschieden haben, dass sie so stark sind, dass sie keinen Kompromiss mehr nötig haben, dann werfen sie alle Konzessionen über Bord. In der Türkei waren sie vorsichtig. Dort hat es Jahre gedauert. In Ägypten waren die Muslimbrüder machttrunken und haben den demokratischen Anschein nie gewahrt.

profil: Ist Ägypten also eher mit Algerien zu vergleichen? Dort warfen die Generäle die Islamisten 1992 aus der Regierung.
Kepel: Auch dieser Vergleich hinkt, denn die Islamische Heilsfront war in Algerien längst nicht so stark, wie es die Muslimbrüder heute in Ägypten sind.

profil: Dort wird es der Demokratie auch deshalb so schwer gemacht, weil die laizistischen Demonstranten zwar die Revolution begonnen haben, insgesamt aber nicht stark genug waren, sie auch zu führen. Jetzt sitzen alle jene zusammen im Lager gegen die Islamisten, die gerade noch erbittert gegeneinander gekämpft haben: die Armee, die Polizei, die Überreste der Mubarak-Loyalisten und die Demokraten. Kann diese bizarre Koalition überhaupt funktionieren?
Kepel: Die säkularen Demokraten sind zu schwach, um allein gegen die Islamisten zu kämpfen - und auch zu schwach, um Ägypten zu regieren. Jeder weiß das. Mohammed el-Baradei und sein Bündnis aus 35 Gruppen lehnt den Plan der Übergangsregierung ab, weil er nicht eingebunden war. Es ist allen klar, dass die Demokraten die Armee brauchen, um sie vor den Islamisten zu schützen.

profil: Westliche Regierungen wie die USA oder die EU-Staaten helfen mit ihrer diplomatischen Duldung mit, in Ägypten eine Art "geführte Demokratie“ zu installieren. Ist das nicht beschämend?
Kepel: Welche Duldung? Die Reaktionen sind doch sehr zurückhaltend. Den Amerikanern war die Regierung der Muslimbrüder nicht unangenehm. Sie machten im Prinzip ja, was Washington in strategischer Hinsicht verlangte: Der Friedensvertrag mit Israel wurde eingehalten. Deshalb wurde US-Botschafterin Anne Patterson auch bei den Protesten ausgebuht. Die Demonstranten hatten eindeutig das Gefühl, dass die Amerikaner etwas zu stark mit den Islamisten kooperiert haben.

profil: Die Golfstaaten haben Ägypten diese Woche kräftige Finanzhilfe angeboten. Milliarden Dollar aus Katar, Kuwait und Saudi-Arabien sollen nach Kairo fließen, um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu verhindern. Was wollen die arabischen Königshäuser im Austausch für ihre Petrodollars?
Kepel: Alle arabischen Staaten haben Interesse daran, dass das Land nicht im syrischen Szenario versinkt, sondern sich eher am tunesischen Beispiel orientiert. Insgesamt hat der Arabische Frühling eine furchtbare Bilanz präsentiert: Bis auf Tunesien sind alle Länder in einem beklagenswerten Zustand. Den Ägyptern wird eine Entwicklung wie in Tunesien nicht leicht fallen, es wird ihnen unter anderem auch durch die geografische Lage erschwert. Es gibt zwei bestimmende strategische Faktoren im Nahen Osten, die über eine demokratische Entwicklung entscheiden: Öl und Israel. Je weiter ein Land davon entfernt ist, umso eher hat die Demokratie Chancen. In Tunis ist die Sicherheit Tel Avivs nicht von vordringlicher Bedeutung, in Kairo hingegen schon.

profil: Was passiert, wenn die Armee die wütenden islamistischen Massen nicht niederhalten kann?
Kepel: Ägypten ist der Riese des Nahen Ostens. Leider ist er kurzsichtig - und verfettet. Wenn er umfällt, dann reißt er unter Umständen den ganzen Nahen Osten mit.

Zur Person
Gilles Kepel, 58, ist "Monsieur Nahost“ in Frankreich - kaum eine Fernsehdebatte über den Arabischen Frühling, in der Islam-Experte Kepel nicht auftritt. Der Professor an der renommierten Hochschule Sciences Po Paris tut dies mit Fug und Recht: Er schrieb bereits seine Doktorarbeit Anfang der 1980er-Jahre über die Anfänge der Muslimbrüderschaft in Ägypten. Sein Arabisch ist ebenso ausgezeichnet wie seine Kontakte in den arabischen Staaten. In zahlreichen Büchern beschrieb er die Entwicklung der arabischen Welt, in einer Studie diagnostizierte er die wachsende Entfremdung der Muslime von staatlichen Strukturen in Frankreich. Sein jüngstes Buch "Passion Arabe“ (Arabische Leidenschaft) erschien im April. Es wurde mit dem prestigeträchtigen Prix Pétrarque de l’Essai France Culture/Le Monde ausgezeichnet.