Arigona Zogaj legte das Versagen der heimischen Zuwanderungspolitik unter ein Brennglas

Das Mädchen für alles: Warum Arigona Zogaj Mensch des Jahres ist

Warum die Kosovarin Mensch des Jahres ist

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Auf den letzten unbekümmerten Bildern in ihrem Kopf sieht sie zwei Sechzehnjährige: sie mit einer Freundin in Ried. Der Mopedlehrer kommt nicht. Falsche Fahrschule. Die Mädchen biegen sich vor Lachen. Heftiger Regen. Sie hat nur einen Pullover an. Jemand borgt ihr eine Jacke. Und dann, beim McDonald’s, die kurze Nachricht auf ihrem Mobiltelefon. Sie versteht die Frage nicht: „Warum steht vor deinem Haus so viel Polizei?“ Das war der Moment, in dem etwas verloren ging. Arigona Zogaj merkte es nicht sofort. Sie war ein „junges Dirndl“, so wie ihre Freundinnen, fast „normal“ auch für die Leute im Hausruck, wo die junge Kosovarin die vergangenen Jahre gelebt und sich einen leicht verhaspelten oberösterreichischen Dialekt angeeignet hatte. Erst später begreift sie, dass an diesem 27. September 2007 ihr kleines, unbeobachtetes Mädchenleben abhandengekommen ist.

Das Normale an ihr wurde von nun an mit jedem Tag weniger normal, alles Private Stück für Stück öffentlich. Niemand hatte sie auf diese Enteignung vorbereitet. Sie konnte auch wenig dagegen tun. Ob sie sich schminkte oder nicht, unter die Leute ging oder sich versteckte, ob sie fröhlich, traurig oder neutral blickte, es änderte nichts an dem, was über sie geredet und geschrieben wurde. Ihr Gesicht, ihr Name, ihre Fahrstunden gehörten nicht mehr ihr allein.

Arigona Zogaj hat auf der Couch im Wohnzimmer Platz genommen. Das Möbelstück ist breit und lädt zum Lümmeln ein. Doch sie sitzt vorne auf der Kante, jede Sekunde bereit aufzuspringen. Wenn die Schule lange dauert, so wie heute, übernachtet sie bei Freunden in Linz. Deren Reihenhaus am Stadtrand wurde für sie zur geschützten Zone und zu einem zweiten Zuhause, neben ihrem ersten in Frankenburg.

Sie hilft im Haushalt mit, macht Aufgaben, und manchmal zieht sie sich in ihr kleines Zimmer im Obergeschoß zurück und vergisst, dass Arigona Zogaj für die Welt draußen alles Mögliche ist, bloß nicht sie selbst: Streitfigur in einem politischen Schacher, öffentlich diffamierte Person, Symbol des Widerstands, Opfer einer herzlosen Fremdenpolitik, Testfall für den Rechtsstaat, Ikone der Medien. Je nachdem. Jetzt ist sie auch noch „Mensch des Jahres“.

Dabei hat sie nicht viel getan, was andere in ihrem Alter und in ihrer Lage nicht ebenso gemacht hätten. Es war Zufall, dass das damals 15-jährige Mädchen aus dem oberösterreichischen Hausruck in der Mopedfahrstunde war, als die Polizei ihr Haus umstellte, um ihre Familie nach sechs Jahren in Österreich in den Kosovo abzuschieben. Als sie das begriff, „sind alle Erinnerungen an früher hochgekommen“, sagt Arigona Zogaj. Am nächsten Tag war nur mehr ihre Mutter da; sie, die älteste Tochter, tauchte für mehr als eine Woche unter und drohte, sich umzubringen, sollte man auch sie zurückschicken: „Als ich gelesen habe, dass die Kinder schon im Kosovo sind, habe ich es gar nicht glauben können. Ich habe gedacht, ich drehe durch.“

Migranten sind das „Fenster“, durch das die Einheimischen in die Welt hinausschauen, schrieb der tschechische Philosoph Vilém Flusser. Lässt man die Einheimischen vor ihre eigene Tür treten, können sie durch dieses Fenster zu sich selbst hineinschauen. Das kosovarische Mädchen Arigona Zogaj legte, ohne es selbst zu wollen, das Versagen der heimischen Politik, die großen Fragen von Asyl und Zuwanderung zu beantworten, unter ein Brennglas – und hat sich damit in die Geschichte des Landes eingeschrieben.

Der Rechtsstaat dürfe sich nicht erpressen lassen, sagte der damalige Innenminister Günther Platter am 3. Oktober 2007. Bei dieser Haltung ist es im Wesentlichen geblieben, bloß die Tonlage änderte sich. Anfang vergangenen Jahres biss die ÖVP-Ministerin Maria Fekter, die dem Tiroler in der Herrengasse nachgefolgt war, auf das Mädchen hin: „Ich habe nach den Gesetzen vorzugehen, egal, ob mich Rehlein-Augen aus dem Fernseher anstarren oder nicht.“

Ein renommierter Psychiater gab es den Behörden schwarz auf weiß, dass die Jugendliche verzweifelt gehandelt hätte und aufgrund ihrer Reife gar nicht fähig gewesen sei, den Rechtsstaat zu erpressen. Vergeblich: Die Parole: „Recht muss Recht bleiben“ hatte sich festgesetzt. Milder in der Wortwahl, ebenso hart in der Sache, bekräftigt Vizekanzler Josef Pröll im aktuellen profil-Interview, der Rechtsstaat könne „nicht dem Mitleid geopfert werden“.

Arigona Zogaj hat Kaffee gemacht und hält sich am Häferl fest. Ihre Haare sind nicht gefärbt, ihre Kleidung passt, für ihre Freundinnen ebenso wie für die Unbekannten, die sie draußen wieder mustern werden. Ihre Schminke ist vielleicht eine Spur zu dick, sagt sie selbst. Das mache sie absichtlich. Sie wird später mit einer Freundin in ein Lokal gehen und will nicht sofort erkannt werden. „Niemand ist perfekt“, sagt sie. In ihrem Tonfall schwingt etwas Trotziges mit. Sie weiß, dass sie am Anspruch, makellos zu sein, nur scheitern kann, und versucht es dennoch jeden Tag, „weil, ich will ja in Österreich bleiben“.

Beinahe alles, was Jugendliche so machen, ist ihr verboten:
trinken, rauchen, sogar tanzen und lauthals lachen. Ihre Freunde stellen Schnappschüsse ins Internet. Nicht auszudenken, von ihr erschiene ein Bild in den Medien, auf dem man sieht, dass ihr Leben Spaß machen könnte. Ihr Foto auf Facebook hat sie verfremdet, damit nur Freunde sie erkennen. Werde sie einmal am falschen Ort beim Lächeln oder Unfugtreiben erwischt, hieße es gleich: „Die kann man jetzt abschieben.“

Vergangenen Herbst hatte sie einen Nervenzusammenbruch.
Sie verbrachte drei Wochen in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Beim Händewaschen auf einer Toilette der Linzer Kinderklinik fing die Patientin Arigona Zogaj im Spiegel einen prüfenden Blick auf. „Ich kenne Sie“, sagte die Frau am Waschtisch nebenan. Das Mädchen zuckte mit den Schultern: „Ich glaube nicht.“ Doch die Unbekannte ließ sich nicht abwimmeln: „Doch, doch! Sind Sie nicht Verkäuferin in einem Geschäft in Enns?“ Sie hatte sich darauf gefreut, in Linz in die Schule zu gehen, in der Anonymität der Stadt zu entspannen. Als sie sich im Sommer 2008 ihrer Klasse vorstellte, „ich bin die Arigona Zogaj und komme aus Frankenburg“, fiel bei niemandem der Groschen. Arigona, wer? Von diesem Glücksmoment zehrt sie noch heute: „Ich wollte so gern wo sein, wo mich niemand kennt.“

Eine Lehrerin schlug vor, ihr einen anderen Namen zu geben. Die Idee setzte sich nicht durch, weil die so Umbenannte sich nie angesprochen fühlte. Dennoch wurde zwei Tage später der Linzer Bürgermeister bei einer Pensionistenveranstaltung erbost darauf angesprochen, dass „die Zogaj bei uns unter einem falschen Namen die Schule besucht“. Beobachtungsposten lauern überall. Am 8. Mai 2009 nahmen Freunde Arigona Zogaj zur Befreiungsfeier nach Mauthausen mit. Kurz vor Beginn ereilte sie eine SMS, ein Zeitungsreporter frage nach ihr. Arigona zog sich mit einer Freundin auf einen Hügel zurück und schaute den Feierlichkeiten aus der Ferne zu.

Am Anfang hat sie in ihrem zweiten Zuhause vor allem geschlafen. Doch bald kam eine Phase, in der sie keine Ruhe mehr fand. Einmal blieb ihre „Linzer Mama“ eine Nacht lang mit ihr wach: „Da habe ich mitbekommen, was sie durchmacht.“ Arigona schluckt jeden Tag Antidepressiva. Das hilft ihr, den Tag zu überstehen, in der Klasse mitzukommen, am Abend einzuschlafen. Einmal in der Woche geht sie in Therapie. Sie kann über fast alles reden, nur nicht über den Krieg.

1999.
Sie war acht Jahre alt. Ihre Familie wohnte etwas abseits auf einer Anhöhe. Eines Tages waren Granaten zu hören. Die Mutter hatte gerade Brot gebacken. Der Vater schrie: „Wir gehen!“ Alle hatten Angst. „Wir sind einen Tag und eine Nacht gelaufen.“ Ihre Mutter war mit Albona schwanger, den kleinen Albin hatte sie sich mit einem Tuch umgebunden. Arigona sah „Leute, aus denen das Blut herausgespritzt ist, und Tote und zerfetzte Leute“. Es war nass, kalt, sie spürte ihre Füße nicht mehr.

Als Arigona Zogaj kürzlich bei einem Geschichtetest die drei wichtigsten Dinge, die sie über den Ersten Weltkrieg gelernt hatte, benennen sollte, schrieb sie mit rosaroter Tinte: „Ich habe selber einen Krieg erlebt, und ich denke noch heute nach, was damals passiert ist, wie ich die verletzten, gestorbenen Leute auf den Straßen gesehen habe. Es war sehr schlimm. Ich möchte nie wieder einen Krieg erleben. Es werden Häuser und Städte zerstört. Es gehört dann alles aufgebaut“.

Am 2. September 2002 kam das Mädchen nach Österreich:
„Kosovo war eine Ruine, hier war alles so hergerichtet, so schön.“ Das war das Erste, was sie bemerkte. Und dann beeindruckten sie die „roten Bälle in der Luft“, über die ihr Vater sagte, das seien Markierungen, damit Flugzeugpiloten erkennen, wo die Autobahn verläuft. Am ersten Schultag lief ein Kind auf sie zu: „Wie heißt du?“ Arigona drehte sich zu ihrem Vater um. Er hatte früher in der Schweiz gearbeitet und war schon seit einem Jahr in Österreich. Er sprach als Einziger in der Familie Deutsch. Nach zwei Monaten konnte Arigona „Hallo, wie geht’s?“ sagen.

Arigona Zogaj hat am 12. Jänner Geburtstag.
Es ist ihr 18. Ihre Freunde freuen sich darauf, volljährig zu werden, für sie ist es ein Datum der Angst. „Dann kann ich alleine abgeschoben werden.“ Sie spricht diesen Gedanken ganz schnell aus, so, als würde er dann auch schnell wieder verschwinden. Sie hofft auf ein Einsehen der Behörden, eine wundersame Überraschung. So wie vor einem Jahr, als ihr der Sinn auch nicht nach Feiern stand. Ihre Geschwister waren damals im Kosovo. Vor allem die Kleinen fehlten ihr sehr. Als sie noch eine intakte Familie waren, arbeiteten ihr Vater und ihre Mutter bei einem Putenzüchter im Hausruck. Arigonas Aufgabe war es, Albin und Albona in der Früh aufzuwecken, anzuziehen und in den Kindergarten zu bringen. Sie war selbst ein Schulkind, aber zu Hause war sie „die Große“. Zu Mittag holte sie ihre Geschwister ab und kochte ihnen Spaghetti oder Lasagne. Sie hätte nie zugelassen, dass „ihre“ Kleinen verschlafen und zu Hause herumsitzen oder dass sie alleine auf der Straße spazieren und ihnen etwas zustößt. Sie sei eine „zweite Mutter“ für sie ge­wesen.

15 Monate lang hatte sie ihre abgeschobenen Geschwister nicht gesehen. An ihrem 17. Geburtstag standen plötzlich alle vor ihr: Albin und Albona, die Kleinen; Alban und Alfred, die Großen: „Alles Gute, Schwester!“, sagten sie. Sie waren komplett, fast wie früher. Nur der Vater fehlte. Er hatte die Familie im Sommer 2008 verlassen. Keines der Kinder will über ihn reden. Die großen Brüder mussten bald wieder in den Kosovo zurück. Dort sitzen sie nun fest, ohne jede Aussicht auf eine Ausbildung oder Arbeit.

Über das Internet hält die zerrissene Familie zueinander Kontakt. Eine Zusammenführung im wirklichen Leben ist außer Sicht und in der Vorstellungswelt der zehnjährigen Albona deshalb ein Auftrag ans Christkind: „Ich wünsche mir, dass wir glücklich sind, dass meine Brüder hier sind, und ein tolles Spielzeug.“ Eine Woche vor vergangenem Weihnachten ist Frankenburg vom ersten Schnee angezuckert. Neben der Schule hat sich eine Eisplatte gebildet, auf der die Kinder fangen gespielt haben. Albona ist für ihre Verhältnisse richtig gesprächig. Sie war schon immer die Ruhigste. Als sie nach eineinhalb Jahren aus dem Kosovo zurückkam, erzählte sie, sie seien in der Schule geschlagen worden, weil sie aus Österreich kamen und nicht Albanisch konnten. Danach redete sie noch weniger als früher. Stupst ihre Schwester Arigona sie an – „Hey, was ist?“ –, sagt sie stets: „Nix.“ Auch mit ihren Brüdern im Kosovo redet sie nur das Nötigste: „Die fragen mich: Wie geht’s? Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Manchmal steht sie dann wortlos auf und geht vom Computer weg.

Heute ist der zehnjährigen Albona nach Erzählen zumute:
In der Schule hat sie lauter Einser und ­Zweier. Sie geht mit ihrem um ein Jahr älteren Bruder Albin in dieselbe Klasse. Am Nachmittag sitzen die beiden oft gemeinsam am Wohnzimmertisch und machen Aufgaben. Sie schweigend, er ununterbrochen plappernd. Albin fand es im Kosovo „nicht gut für Kinder“: Es gäbe nichts zum Spielen, nicht einmal einen Fußballplatz. Seine Liste ans Christkind ist länger, als die Zeit reicht, um alles zu notieren. Er will, „dass wir dableiben, dass Mama wieder gesund wird, einen Plasmafernseher, eine Limousine, damit ich wohin fahren kann und darin auch Playstation 3 spielen kann, Nike-Fußballschuhe, ein KTM-Radl, ein Burton-Skateboard, eine Badehose, zwei Bodyguards, eine Turnhalle, ein Radio und dass alle in Frankenburg auch etwas kriegen“. Und das seien „jetzt vielleicht drei Zehntel meiner Wünsche“. Seine Schwester Albona hat mit einem Ohr zugehört. „Jeder hat so viele Wünsche, aber das Christkind bringt meistens nur eine Sache“, bemerkt sie trocken.

Seit zwei Jahren wohnen die Zogajs im Schloss Frein, das gleich nach der Ortstafel von Frankenburg ein wenig abseits liegt. Als die Familie eine Unterkunft suchte, machte der Besitzer, Christian Limbeck-Lilienau, der in der Gegend „Baron“ genannt wird, eine Wohnung für sie frei. Inzwischen ist der Schlossherr indigniert darüber, „dass die Politik sich bequem zurücklehnte und nie etwas von sich hören hat lassen. Man kann doch nicht davon ausgehen, dass irgendwer die Menschen schon auffängt.“

Da geht es ihm wie dem Ungenacher Pfarrer.
Josef Friedl, 67, sitzt in seinem Büro im Erdgeschoß. Seit den frühen achtziger Jahren beherbergt er Flüchtlinge, derzeit sind es Familien aus der Mongolei. Vor ihm liegt ein schwarzes Buch, in dem er mit der Hand Einnahmen und Ausgaben von Spendengeldern vermerkt (Spendenkonto: Raiffeisenkasse Ungenach, „Arigona“, BLZ 34.710, Kontonummer 24 24 042). Eine Unternehmerin hat soeben einen dicken Wintermantel vorbeigebracht: „Den könnte Nurije Zogaj gar nicht tragen, ohne dass die Neidgeschichte wieder losgeht.“

An manchen Tagen bringt der Briefträger ein Kuvert mit Euroscheinen. Manchmal greift der Pfarrer in seine Taschen und findet Geld, dass ihm jemand heimlich zugesteckt hat. Die Spenden verteilt er an Menschen, die das Notwendigste nicht bestreiten können. Immer öfter sind es alleinerziehende Frauen. Sie kommen sogar aus dem fernen Burgenland zu ihm. Vor Kurzem schickte er einer ehemaligen Flüchtlingsfamilie 500 Euro nach Bosnien. Das Geld war für Holz zum Heizen.

Die Zogajs leben ausschließlich von solchen Zuwendungen. Den älteren Brüdern im Kosovo schickt Friedl 200 Euro pro Monat. Der Mann einer Lehrerin übernimmt die Kosten, die für die Jüngeren in der Schule anfallen. Weder Staat noch Kirche steuern einen Euro bei. Im Herbst 2007, als Arigona sich versteckte, baten die ÖVP und das Innenministerium den Pfarrer um Hilfe. Friedl spann im Hintergrund die Fäden und stand heimischen Medien, europäischen Kamerateams und Reportern der „New York Times“ auf seine stoische, erdige Art Rede und Antwort. Darauf wie Österreich mit dem globalen Streitthema Migration umgeht, blickte plötzlich die ganze Welt.

Nur wenige Medien bekamen noch mit, dass die Politik den Pfarrer danach stehen ließ. „Man hat mir gesagt, die Familie bekommt keine Unterstützung und darf auch nicht arbeiten. Ich frage Sie, hätte ich sie verhungern lassen sollen?“ Später erfuhr er, dass die Bezirkshauptmannschaft sogar die Perfidie besessen hatte, jene „unbekannten Täter“ anzuzeigen, die – so wie schließlich Pfarrer Friedl – das untergetauchte kosovarische Mädchen bei sich aufnahmen.

Vor einigen Monaten behauptete Innenministerin Maria Fekter, weder die ÖVP noch das Innenministerium habe jemals Kontakt zum Ungenacher Pfarrer gesucht. „Das ist lächerlich, ich habe einen Briefwechsel, und Innenminister Günther Platter war zweimal hier“, sagt Friedl. Groß aufregen will er sich dar­über nicht mehr. Er habe in den vergangenen Jahren zu viele „feige Situationen“ erlebt und sei „zu oft von Politikern verleugnet worden“.

Friedl zeigt auf eine Schachtel im Regal. Darin liegen die guten Nachrichten, Briefe und E-Mails von Helfern und Unterstützern, „die diese Hetze nicht mehr wollen und hoffen, dass es eine menschliche Lösung gibt“. Die meisten Absender wollen ungenannt bleiben, und Friedl hält sich daran: „Sie würden sich wundern, wer da aller hilft, aber ich will den Leuten ja nicht schaden.“ Den Zogajs zu helfen kann den Ruf ramponieren.
Der letzte Versuch der Politik, hinter den Kulissen zu einer menschlichen Lösung zu kommen, ist eineinhalb Jahre her. Er mündete im Desaster. Im Frühling 2008 betraute das Innenministerium einen Mediator damit, die Bedingungen für eine Rückkehr auszuloten. Die Zogajs sollten in Pristina eine Wohnung beziehen, Vater und Mutter in einem landwirtschaftlichen Betrieb arbeiten. Alles war paktiert. Nur Arigona sollte mit einem Schülervisum in Österreich bleiben und – so das Versprechen – mit 18 Jahren per Ministerratsbeschluss eingebürgert werden.

Vor Ort stellte sich heraus, dass die Miete für die Wohnung das Gehalt des Vaters überstieg. Xhevat Zogaj fühlte sich hintergangen, rief seine Frau an und plärrte ins Telefon, er lasse sich scheiden. Nurije Zogaj verlor jeden Halt. Sie schickte ihre älteste Tochter einkaufen und holte ein großes Messer. Als Arigona zurückkam, sah sie durch den Briefschlitz ihre Mutter damit hantieren, drückte auf die Wahlwiederholungstaste ihres Mobiltelefons und erreichte den Mediator im Kosovo. Dieser verständigte Rettung und Polizei.

Die Einsatzkräfte brachen die Tür auf, wagten aber nicht, der Frau, die drohte, sich das Messer in den Bauch zu rammen, nahezukommen. Es war Arigona, ihre „Große“, die es ihr in einer Art Zweikampf entrang. Im Krankenhaus Vöcklabruck versuchte Nurije Zogaj noch zweimal, sich mit ihrer Kleidung zu erhängen. Arigona weiß nicht erst seit damals, dass jede weitere schlechte Nachricht ihre Mutter umwerfen kann. Und schlechte Nachrichten gibt es genug. Im Moment macht sich Nurije Zogaj Sorgen um ihre Älteren im Kosovo. Es ist bitterkalt „dort unten“. Pfarrer Friedl schickt ihren Söhnen Geld. Trotzdem sitzen sie oft ohne Strom da, weil sie die Rechnung nicht bezahlen können. Nurijes Bruder, der demnächst in den Kosovo fährt, soll ihnen 30 Paar Socken bringen, die sie in einem Geschäft in Vöcklabruck für zehn Euro gesehen hat. Hoffentlich sind sie „ein bisschen warm“.

Es gibt ein paar Menschen, die auf Nurije Zogaj aufpassen: Leonarda, die Frau ihres ältesten Sohnes, unterstützt sie im Haushalt, wenn Arigona nicht da ist; eine frühere Nachbarin fragt regelmäßig nach, ob sie helfen kann; einmal in der Woche schaut der Ungenacher Pfarrer vorbei, Nurije Zogaj nennt ihn scherzhaft „meinen Papa“. Davor, dass Behörden und Politik schlechte Nachrichten wie Meteoriten in das Leben der Zogajs krachen lassen, konnte sie noch nie jemand schützen. Auch Arigona bekam selten die Chance, sich auf drohende Umbrüche einzustellen. Manchmal traf es sie in den verletzlichsten Momenten. So wie am 12. November des vergangenen Jahres, als sie um halb sieben Uhr in der Früh noch im Bett lag und ihr ein Freund über das Telefon die Schreckensnachricht überbrachte: „Du wirst abgeschoben.“ Er wusste es aus der „Kronen Zeitung“. Ihr Anwalt Helmut Blum, der es ihr vielleicht ein wenig schonender hätte beibringen können, erfuhr erst einen Tag später, dass das Asylgesuch der Familie abgelehnt worden war.

In dem Artikel war nur von Arigona die Rede.
Voller Angst rief sie ihre Mutter an. „Wir lassen dich nicht allein. Wir bleiben zusammen“, versprach Nurije Zogaj. Es war seit Langem das erste Mal, dass „ihre Große“ auch einmal klein sein durfte. Als Arigona an diesem 12. November nach Hause gehen wollte, standen Reporter vor dem Schultor, und sie musste – wieder einmal – den Hinterausgang nehmen. Schüler, die sie gar nicht kannten, gaben Interviews. Energisch klärte eine Freundin Arigonas die Reporter auf: Sie kenne das Mädchen ziemlich gut, die üblen Geschichten, die über sie erzählt würden, seien erfunden.

Dieser Rückhalt von Gleichaltrigen richtet Arigona Zogaj auf. Einige Freunde hatten Plakate gemalt: „Wir wollen, dass du dableibst.“ Eine Gruppe hatte sich zusammengesetzt, um der Stimmungsmache gegen die Zogajs entgegenzuwirken. Betty, ein Mädchen aus der Maturaklasse, initiierte eine Schülerzeitung und nannte sie „GegenGift“. Arigona bekam einen Schreck, als die Schülerin sie in das Zeitungsvorhaben einweihte: „Ich habe immer Angst, wenn jemand zu mir kommt, weil ich denke, es könnte wieder etwas Schlimmes passieren.“

Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte
, stellte sich Betty vor das Konferenzzimmer und drückte jedem Lehrer ein „GegenGift“ in die Hand. Ihre Mitstreiterinnen verteilten das Blatt, das sich in seiner ersten Ausgabe mit Rassismus beschäftigt, unter den Schülern. „Die Stimmung ist besser geworden, es gibt nicht mehr so viele Grantscherben, die nur herummotzen“, erzählt sie. Ein paar Schüler schrieben vor Unterrichtsbeginn die Tafeln mit der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte voll: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Die Facebook-Gruppe „GegenGift“ hat inzwischen 150 Anhänger. Einige Schüler sammelten Unterschriften und verschickten E-Mails an Politiker, mit der Aufforderung, mehr Mut zu zeigen. Nur drei antworteten, doch unter ihnen immerhin Bundespräsident Heinz Fischer. Vierzig Lehrer ergriffen in einem offenen Brief für Arigona Zogaj Partei. „Wir sind verantwortlich für unsere Schülerinnen und Schüler. Ich kann nicht dulden und dabei zuschauen, dass eine oder einer einfach nicht mehr da ist“, sagt Arigonas Geschichtelehrerin Eva Hötzendorfer. Ähnlich der Deutschlehrer Günther Reiter: „Ich setze mich für die Jugendlichen an der Schule, an der ich unterrichte, ein, egal ob sie in meine Klasse gehen oder nicht.“

„Den Zogajs wird alles schlecht ausgelegt“, konstatiert Christian Schörkhuber, oberster Flüchtlingsbetreuer bei der Volkshilfe Oberösterreich. Selbst der ablehnende Asylbescheid stütze sich auf unüberprüfte Behauptungen. So monierte die Behörde, Alban und Alfred hätten bereits von einem Rückkehrangebot profitiert. In Wirklichkeit hatte jemand aus ihrem Umfeld die Retourflüge aus eigener Tasche bezahlt. Es stimme auch nicht, dass das Haus, in dem die Zogaj-Brüder wohnen, vom Vater gekauft wurde. Bisher hätten sie 350 Euro im Monat für die Unterkunft gezahlt, künftig seien es 200 Euro. Davon lebe ihr Vermieter, ein Kosovare, der in Deutschland vergeblich versucht hat, Asyl zu erhalten. Alban und Alfred hätten auch keinen Zugang zum Haus ihrer verstorbenen Großmutter, die sie in ihren letzten Wochen gepflegt hatten. Der Schlüssel sei ihnen nach ihrem Tod abgenommen worden. Das Begräbnis hätten sie mit Spenden aus Österreich bestritten. Schörkhuber: „Die Liste ließe sich fortsetzen.“
Über Arigona kursieren auch Fantasiegebilde. Eine dieser Geschichten hält sich besonders zäh und läuft in ihrer kürzesten Form so: Ein Freund habe Arigona beim Zielpunkt getroffen. Variationen sind möglich: beim Billa, in der Apotheke, beim Niedermeyer, beim Frisör. Als es ans Zahlen ging, habe ­Arigona empört gefragt: „Ja, wissen Sie nicht, wer ich bin?“

Wenn sie in Frankenburg ins Jugendzentrum oder im Ort herumgeht, wird sie nie angepöbelt. Die Bösartigkeiten laufen hinterrücks ab. Als sich Arigona an dem Tag, an dem die „Krone“ vor allen anderen wusste, dass sie abgeschoben wird, gemeinsam mit ihrer Mutter blicken ließ, hatte ein eifriger Beobachter sie kurz darauf schon per E-Mail bei der Volkshilfe vernadert: „Bei uns in Frankenburg ist dieses Wochenende Martinikirtag, und wer vergnügt sich da im Vergnügungspark? Nurije und Arigona. Sie wurden von hunderten Leuten gesehen.“

Arigona lacht darüber.
„Soll ich immer nur daheimsitzen?“ Wie viel lässt die junge Frau an sich heran? Wenn sie mit ihren Freundinnen zusammensitzt, wirkt sie manchmal wieder wie ein „ganz normales Dirndl“. Doch dann sagt Arigona Zogaj einen Satz, den keine andere an dem Tisch sagen könnte. Es ist der traurigste Satz des Abends: „Ich kann meinen Namen schon nicht mehr hören.“

Fotos: Manfred Klimek

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges