Die große Job-Lüge

Arbeitsmarkt. Wie die Statistiken geschönt und Arbeitslose mit Zwangsmaßnahmen gedemütigt werden

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In Wien-Floridsdorf wird gerade eine virtuelle Welt erschaffen. Seit vergangenem Herbst werden dort 500 registrierte Sozialhilfeempfänger in einem Jobcenter von Psychologen, Sozialarbeitern und Fachkräften betreut, die ihnen fast rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Sie dürfen mit den Helfern über private Probleme und verschüttete Lebensträume reden und müssen sich nicht dafür schämen, noch nie für längere Zeit einer geregelten Arbeit nachgegangen zu sein. Alkoholikern wurde angeboten, sich einer Nordic-Walking-Gruppe anzuschließen, um Körper und Geist wieder an Termine zu gewöhnen. Ein Sommerjob in einem städtischen Bad steht in Aussicht.

Es gibt auch das Gegenbeispiel.
Rund 30 Arbeitslose – Köche, Verkäufer, Akademiker – sitzen in einem Kursraum des gemeinnützigen Unternehmens Jobtransfair vor ihren Computern. Einige von ihnen haben noch nie einen PC eingeschaltet, andere sind Experten im Internet. „Wie die Schäfchen vor dem Schlächter sitzen wir da, zwangsverpflichtet mit der Androhung, das Arbeitslosengeld zu verlieren“, berichtet einer der Teilnehmer, ein ehemaliger Unternehmensberater, in seinem Blog.

852.000 Menschen waren im vergangenen Jahr in Österreich zumindest einmal arbeitslos – etwa jeder vierte Erwerbstätige. Eine Wende ist nicht in Sicht, auch wenn der bisherige Höchstwert von 313.000 Jobsuchenden von Ende Februar saisonbedingt etwas sinkt. Sozialminister Rudolf Hunds­torfer hält dennoch verbissen am Ziel der Vollbeschäftigung fest. Mit der bundesweiten Einführung der Mindestsicherung sollen nun auch tausende Sozialhilfeempfänger ihre Einsatzfreude beweisen und in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. So täuscht sich die Politik selbst und auch die Betroffenen.

Der Arbeitsmarktsoziologe Manfred Krenn spricht von einer „verlogenen Debatte“. Je weniger die Gesellschaft in der Lage sei, allen Arbeit zu geben, desto stärker werde der Einzelne für sein Unvermögen, eine Arbeit zu finden, verantwortlich gemacht. Schon die Zahlen sind geschönt. In der offiziellen Arbeitsmarktstatistik fehlen rund 85.000 Teilnehmer von Kursen und Wiedereingliederungsmaßnahmen, Arbeitslose, die krank gemeldet sind, einen Pensionsantrag gestellt haben oder deren Bezug gesperrt wurde. Schulabgänger, die noch keine Ansprüche erworben haben, und Frauen, die keine Notstandshilfe erhalten, weil ihre Partner zu viel verdienen, sind ebenfalls aus der Statistik gestrichen. Vorsichtig geschätzt, gibt es 135.000 versteckte Arbeitslose.

Auch die Anzahl der Langzeitarbeitslosen ist beunruhigend hoch. Offiziell sind nur rund 7000 Personen betroffen. Tatsächlich sind es zehnmal so viele, weil jeder, der einmal zu einem vierwöchigen Kurs verpflichtet wurde, statistisch als Neuzugang gilt. Dem gegenüber stehen rund 30.000 beim Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldete offene Stellen. Das Angebot ist trist. itworks etwa, ein vom AMS beauftragter Jobvermittler, sucht dutzendweise Putzfrauen, Kellner, Hilfskräfte jeder Art und so genannte Call Center Agents. Meist sind es Teilzeitjobs. Das Portal für Akademiker ist verwaist.

Eine offene Stelle wird in der Regel innerhalb eines Monats besetzt. Ein Arbeitsuchender hingegen ist durchschnittlich 100 Tage arbeitslos. Zwei Drittel der Arbeitslosen werden innerhalb von drei Monaten vermittelt. Im Bürokratendeutsch heißt das „Aktivierung“. Der Arbeitslose soll möglichst rasch vermittelt werden, und sei es weit unter seiner Qualifikation, in Teilzeit und schlecht bezahlt.

„Das Prinzip Vermittlung geht vor Qualifizierung“
, erklärt AMS-Vorstand Johannes Kopf. Er gesteht, dass mit den Arbeitslosen nicht ehrlich umgegangen wird. „Man tut, als ob man jeden in den Arbeitsmarkt integrieren könnte. Das ist eine Lüge, aber eine sympathische Lüge, weil sie bedeutet: Wir geben niemanden auf, wir lassen niemanden in Ruh.“ Man schicke auch Arbeitslose ein Jahr vor der Pension noch in einen Kurs, auch wenn das „nicht einmal objektiv einen Sinn macht“. Bisweilen müsse man „den Einzelnen schlecht behandeln, um im Gesamtkollektiv ein nicht gewünschtes Verhalten zu verhindern“, erklärt Kopf.

Kurs-Schikanen.
Im Internet kursieren hunderte Erfahrungsberichte von Arbeitslosen über ihre Erlebnisse in Kursen und Wiedereingliederungsmaßnahmen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass eine längere Zeit der Arbeitslosigkeit den Blick verengt und der Zorn auf AMS-Betreuer auch eine Reaktion auf die persönliche Misere darstellt, offenbart sich das Bild einer falschen und teuren Arbeitsmarktpolitik.

Besonders schikanös werden Bewerbungs- und Job­coaching-Kurse empfunden – für das AMS sind das die billigsten Kurse, die massenhaft angekauft und dann zugebucht werden müssen. Hier sitzen Arbeitslose ohne Schulabschluss neben Ex-Managern, Quasipensionisten und Akademikern, verfassen dutzende Bewerbungsschreiben unter Aufsicht und werden psychologischen Selbstfindungstechniken ausgesetzt. Es kommt sogar gelegentlich vor, dass ihr Trainer vormittags selbst einen Kurs des AMS absolviert und nachmittags die Zwangsverpflichteten motivieren soll. Der Anspruch, die Arbeitslosen einem zeitlichen Regime zu unterwerfen, um ihnen eine Struktur im Alltag zu bieten, scheint längst ins Gegenteil gekippt zu sein. Die Maßnahmen, von Arbeitslosenselbsthilfegruppen durchwegs „Deppen­kurse“ genannt, werden als demütigend und sinnlos empfunden.

Ein Quell der Frustration sind auch Zuweisungen zu so genannten sozialökonomischen Betrieben, in denen die Arbeitslosen in einem Mix aus Coaching und Beschäftigung wieder fit für den Arbeitsmarkt gemacht werden sollen. Das kann auch die Verpflichtung bedeuten, für gemeindenahe Institutionen Parks zu pflegen, zu putzen oder – wie zuletzt – für die Wiener Verkehrsbetriebe als Fahrscheinkontrolleur eingesetzt zu werden. Auch Akademiker oder Facharbeiter können nach längerer Zeit der Arbeitslosigkeit zu minderqualifizierten Tätigkeiten verpflichtet werden. Wer sich wehrt, macht sich der „Vereitelung“ schuldig. Der Arbeitslosenbezug wird dann gesperrt, das erste Mal für sechs, bei Wiederholung für acht Wochen. Im vergangenen Jahr gab es 93.552 Bezugssperren.

Arbeitsloseninitiativen äußern den Verdacht, dass es bei der „Aktivierung“ der Arbeitslosen vor allem um eines gehe: Einsparungen im Sozialbereich. Mit dem Zwang zum schlecht bezahlten Job dreht sich die Spirale nach unten. Wenig Einkommen bedeutet weniger Pension und in der nächsten Phase der Arbeitslosigkeit weniger Arbeitslosengeld. Dabei ist die so genannte „soziale Hängematte“ für Erwerbslose alles andere als gemütlich: Das durchschnittliche Arbeitslosengeld sank in den vergangenen Jahren um fast acht Prozent und beläuft sich auf dürftige 833 Euro für Männer und 690 Euro für Frauen. Spätestens nach 52 Wochen rutschen Arbeitslose in die Notstandshilfe und damit unter die statistische Armutsgrenze von 830 Euro: Männer bekommen durchschnittlich 642 und Frauen 513 Euro.

Hartz V.
Als die Arbeitslosenversicherung vor 90 Jahren eingeführt wurde, war das in Europa ein Meilenstein. Mittlerweile ist Österreich auf dem Niveau von „Hartz V“ angekommen. Denn selbst das wegen seiner sozialen Härten umstrittene deutsche Modell Hartz IV erweist sich noch als groß­zügiger: Nach einer OECD-Studie liegt die soziale Absicherung von Arbeitslosen in Österreich auf einem niedrigeren Niveau als in Deutschland, und das in allen Gruppen – für Alleinstehende, Verheiratete, Kinderlose, Ein- und Mehrkindfamilien. Geringverdiener haben nach Jobverlust sogar mit noch weniger finanzieller Unterstützung zu rechnen als in den USA, die gemeinhin als das brutalste neoliberale Land gelten. Lediglich bei der Hilfe für Langzeitarbeitslose liegt Österreich in der oberen Hälfte der OECD-Staaten. Der OECD-Experte Herwig Immervoll: „In der Summe sichert Österreich Erwerbslose weniger gut ab als viele andere Staaten, auch wenn man Familienbeihilfe und Wohnunterstützung mit einrechnet.“

„Sozialschmarotzer-Debatten“ haben hierzulande Tradition. Schon 1671 wurde in Wien die erste Textilmanufaktur errichtet, in die Arme zur Zwangsarbeit eingewiesen wurden. „Seit der Aufklärung wird der Müßiggang bekämpft“, weiß der Historiker Martin Scheutz. In den achtziger Jahren trieb der deutsche Ex-Kanzler Helmut Kohl die Debatte über den „kollektiven Freizeitpark“ in neue Höhen und fand in Österreich begeisterte Nachahmer, nicht nur beim ­damals aufstrebenden Jörg Haider und der ÖVP – auch SPÖ-Sozialminister Josef ­Hesoun glaubte schon 1991 rund vier Prozent der Arbeitslosen als „Sozialschmarotzer“ enttarnen zu können.

Der ständige Missbrauchsverdacht zeigt Wirkung.
Mehr als die Hälfte der österreichischen Haushalte, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, holen sich die Unterstützung nicht ab – aus Angst vor Stigmatisierung oder aus Informationsmangel. Wenig überraschend wird Sozialhilfe in Wien am häufigsten beansprucht – in kleinen Gemeinden hingegen outet sich niemand gern vor dem Bürgermeister als Sozialhilfeempfänger. „Die Nicht-Inanspruchnahme ist das viel größere Problem als der Missbrauch“, sagt Michael Fuchs vom Europäischen Zentrum für Sozialforschung. Demnächst wird die Sozialhilfe in die Mindestsicherung umgewandelt. Auch sie ist an die „Arbeitswilligkeit“ gekoppelt. Zusätzlich beschloss der niederösterreichische Landtag am vergangenen Donnerstag Strafen in der Höhe von 2500 Euro für das „Erschleichen der Mindestsicherung“.

Selbst das eingangs beschriebene Modellprojekt in Wien-Floridsdorf startete mit Druck. Die Teilnehmer bekamen einen barschen Brief vom Sozialamt, in dem mit der Streichung der Unterstützung gedroht wurde, falls sie sich nicht kooperativ verhielten. Ein Fünftel der Klienten hat hohe Schulden, manche kämpfen mit Alkohol- und Suchtproblemen, fast die Hälfte spricht nur schlecht Deutsch. Alle waren schon lange nicht oder überhaupt noch nie arbeiten. „Das kann sogar Vorteile haben“, meint Projektleiter Oliver Holub. „Unsere Kunden sind nicht so maßnahmenerfahren.“ Der x-te Kurs nervt, der erste freut noch. Die Anfangsergebnisse des Versuchs sind spektakulär: Von 500 Teilnehmern, die im Dezember begonnen haben, haben 40 mittlerweile Arbeit, weitere 16 Prozent sind in Kursen.

Das liegt auch daran, dass wir „wesentlich mehr Ressourcen haben als das AMS“, räumt Holub ein. Beim AMS dauert eine Beratung im Schnitt sieben Minuten, in Floridsdorf eineinhalb Stunden. Es wird zugehört, es gibt Geld für teure Schulungen und therapeutische Hilfen. Ideale Voraussetzungen für einen programmierten Erfolg.

Wenn die Mindestsicherung ab kommendem Winter in ganz Österreich im Normalbetrieb läuft, sind derart üppige Mittel und derartige Erfolge nicht zu erwarten. Wohl nicht zufällig finden sich die Pilotprojekte in Wien und in Bruck an der Mur in der Steiermark, in jenen Bundesländern, in denen im Herbst gewählt wird.

Das Arbeitslosenproblem ist damit nicht gelöst. Die Idee einer Grundsicherung wurde wieder zu den Akten gelegt. „Politisch nicht durchsetzbar“, sagt Sozialminister Hundstorfer.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling