Drogenkrieg

Drogenmissbrauch: Sind die USA für die Rauschgiftkriminalität verantwortlich?

Sucht. Sind die USA für die Rauschgiftkriminalität verantwortlich?

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Seine Heimatstadt Ciudad Juárez habe sich „in ein Schlachthaus verwandelt“, schreibt der mexikanische Journalist Arturo Chacon in einem Bericht, der im vergangenen Oktober von mehreren ausländischen Zeitungen, darunter vom Berliner „Tagesspiegel“, übernommen wurde. „Die Mörder arbeiten rund um die Uhr, am helllichten Tag und mitten in der Nacht, auf Straßen, Plätzen und hinter verschlossenen Türen. Jede Woche exekutieren sie etwa 70 Menschen: Männer, Frauen, Jugendliche, Kinder. Die meisten werden erschossen, einige mit Klebeband auf Nase und Mund erstickt. Transparente kündigen an, wer als Nächstes dran ist.“

In der 1,3-Millionen-Einwohner-Stadt an der mexikanisch-US-amerikanischen Grenze ist die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Jeder, der sich dem Drogenkartell in den Weg stellt oder sich weigert, dessen Interessen zu wahren, ob Polizisten, Staatsanwälte, Behördenvertreter oder Journalisten, ist des Todes. Allein im vergangenen Jahr wurden in der Stadt am Rio Grande mehr als 2000 Menschen von Mafiakillern umgebracht, teils auch in Kämpfen rivalisierender Banden, die einander eine der lukrativsten Drogen-Schmuggelrouten in die USA streitig ­machen. Mit 130 Morden pro 100.000 Einwohner und Jahr gilt Ciudad Juárez derzeit als gefährlichste Stadt der Welt. Aus Sicherheitsgründen wohnt der Bürgermeister in der texanischen Nachbarstadt El Paso auf der anderen Seite der Grenze.

In seinem neuen, diese Woche erscheinenden Buch „Drogenkrieg – (ohne) mit Ausweg“ analysiert der profil-Kolumnist und ehemalige profil-Herausgeber Peter Michael Lingens die religiösen, sozialen und politischen Wurzeln des Krieges gegen Drogen, wie ihn christlich-konservative Kreise in den USA via UN der ganzen Welt aufgezwungen haben, und befasst sich eingehend mit der Frage, ob dieser Krieg aufgrund seiner Kollateralschäden nicht mehr schade als nütze und letztlich nur den Drogenkartellen in die Hände arbeite.

Anhand wissenschaftlicher Studien weist Lingens penibel nach, dass dieser Krieg, wenn überhaupt, immer nur vorübergehend erfolgreich war und dass die Berichte der in Wien ansässigen Drogenbehörde der Vereinten Nationen UNODC (United Nations Office on Drugs and Crime) ein schönfärberisches Zeugnis sind, das sich die Behörde selbst ausstellt, um damit ihre Existenzberechtigung zu unterstreichen. Die weltweite Drogenproduktion und der Drogenhandel seien nicht, wie behauptet, deutlich zurückgegangen, sondern zumindest gleich geblieben, wenn nicht sogar angestiegen – trotz Einsatzes von Abermilliarden an Kriegskosten. Sinkende Einzelhandelspreise seien dafür ein sicherer Indikator.

Die Heroinproduktion in Afghanistan läuft auf Hochtouren, weil die einst radikal drogenfeindlichen Taliban heute mit den Erlösen aus dem Heroinhandel ihre Waffen finanzieren. Und in Lateinamerika hat der Krieg gegen Drogen lediglich zu Umstrukturierungen und Verlagerungen der Kartelle geführt. Der blutige Drogenkrieg in Teilen Mexikos ist Folge einer solchen Verlagerung: Weil die Bekämpfung des Medellín- und anderer Drogenkartelle in Kolumbien Erfolge zeitigte, splitterten sich die Gangster in kleinere Einheiten auf. Kartelle in Mexiko übernahmen einen erhebliche Teil des Geschäfts – der große Drogenstrom in Richtung USA und Europa fließt wie eh und je.

Lehren ziehen.
Die Welt, so Lingens, sollte aus den bisher gemachten Erfahrungen endlich die Lehren ziehen. Wie unter anderen schon von Arnold Schwarzenegger, manchen Drogenexperten und Wissenschaftern angedacht, plädiert auch Lingens für einen Strategiewechsel: Anstatt, wie in den USA praktiziert, Hunderttausende Kleindealer wegen Weitergabe von Marihuana ins Gefängnis zu stecken und dem Steuerzahler damit erhebliche Kosten aufzubürden, sollte man die vergleichsweise ungefährliche Droge nach dem Vorbild der Niederlande freigeben. Der Staat, so Lingens, könnte auch harte Drogen wie Kokain und Heroin selbst billig produzieren und über ein Staatsmonopol nur Apotheken abgeben. Eine solche Strategie würde die derzeitige exorbitante Handelsspanne von bis zu tausend Prozent beseitigen, damit den Drogenkartellen die Basis entziehen und das Problem massiv entschärfen.

Lingens liefert keine einfachen Bilder der Situation und erhebt mit seinen Vorschlägen auch keinen Anspruch auf ein Allheilmittel. Er wägt Vor- und Nachteile gegeneinander ab und ist als Skeptiker gegenüber staatlichem Wirtschaften am Ende doch überzeugt, dass im Fall Drogen kein Weg an staatlicher Intervention vorbeiführe. Fraglich bleibt, ob ein solcher Strategiewechsel politisch durchsetzbar wäre und ob sich die internationale Drogenmafia den staatlichen Entzug ihrer Geschäftsbasis, die jährlich viele Milliarden Dollar abwirft, kampflos gefallen lassen würde.

Eindrucksvoll verfolgt Lingens den Weg der Droge vom Genuss- und Heilmittel als Teil alter Kulturen bis hin zum weltweiten Sucht- und Kriminalitätsproblem, schildert, welche die richtungsweisenden religiösen, politischen und publizistischen Strömungen und Personen waren, die hinter der heutigen westlichen Drogenpolitik standen, und wie etwa die britische Regierung versucht hat, den maßgeblichen Teil eines wissenschaftlichen Berichts zu vertuschen, der einer Bankrotterklärung der herrschenden Drogenpolitik gleichkommt.

Er liefert dabei überraschende Details, wie etwa, dass amerikanische Farmer noch im 18. Jahrhundert gesetzlich verpflichtet waren, Hanf anzubauen, und dass es noch um 1850 in den USA mehr als 8000 Hanfplantagen gab. Immer wieder zieht er Parallelen zwischen früheren und heutigen Situationen: Die Einstellung der amerikanischen Mittelschicht des 19. Jahrhunderts gegenüber Alkohol entspreche der Einstellung der heutigen amerikanischen Mittelschicht gegenüber Marihuana, Heroin und Kokain.

Und in der Vergangenheit wie heute fanden die Menschen Ventile, um die Verbote zu unterlaufen. So wie heute in Salatbeeten, Blumenkisten und Kellern heimlich Marihuana angebaut wird, begannen viele Amerikaner nach Einsetzen der Alkohol-Prohibition Anfang der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in der Badewanne Wein zu keltern. Der Obstverbrauch stieg deutlich an. Binnen weniger Jahre vergrößerte sich die Rebanbaufläche in Kalifornien um das Siebenfache. Durch „Selbstgebrannten“ starben jährlich 10.000 Menschen.

Die Verteufelung von Suchtmitteln in den USA färbt auf die Gesetze ab: Bis heute werden Suchtdelikte in den Staaten strenger bestraft als in Europa. Das hängt mit den tiefen Ressentiments zusammen, mit denen das christlich-konservative Amerika Genuss- und Suchtmitteln von Anfang an begegnete. Aus ihrem Selbstbild als gottgefällige, rechtschaffene, tugendhafte Bürger wandten sich religiöse weiße Amerikaner gegen Drogen als etwas Unamerikanisches, etwas, das von Einwanderern von außen, quasi aus dem Reich des Bösen, eingeschleppt wird: Opiumpfeifen rauchende Chinesen, Koka kauende Latinos, Marihuana rauchende Mexikaner. Gebräuchliche Ausdrücke wie „Neger-Droge“ illustrieren, wie sich Rassismus und Fremdenfeindlichkeit mit der Abwehr von Rauschmitteln vermischten.

Drogenkultur.
Im Grunde haben die Amerikaner nie akzeptiert, dass der Gebrauch von Genuss- und Rauschmitteln zu jeder menschlichen Kultur gehört. So war beispielsweise das Kauen von Kokablättern in vielen Ländern Lateinamerikas über Jahrhunderte ebenso wenig ein Problem wie das Rauchen von Opiumpfeifen in China. Erst als die Briten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchten, Opium als Türöffner gegen chinesische Handelsbeschränkungen einzusetzen, verschärfte sich die Lage. Mithilfe massiver Einfuhren von bengalischem Opium wollten die Briten chinesische Beamte bestechen und möglichst viele Chinesen von ihren Lieferungen abhängig machen. Als sich Kaiser Daoguang mit der Beschlagnahme und Verbrennung von 22.000 Kisten britischen Opiums zur Wehr setzte, kam es zum Opiumkrieg (1839–42), in dem die Chinesen unterlagen. Hohe Entschädigungszahlungen und die Abtretung Hongkongs an die Briten waren der Preis für den Frieden. Zusätzlich hatten die britischen Einfuhren den Opiumkonsum in China angekurbelt, sodass sich das Kaiserhaus zu einer strikten Drogenpolitik veranlasst sah.

Als die USA im spanisch-amerikanischen Krieg 1898 die Philippinen besetzten, werteten sie die dort verbreitete Drogenkultur als Ursache für die Unterentwicklung des Inselreichs und griffen zu ähnlich strengen Maßnahmen gegen Suchtmittel wie schon zuvor die Chinesen. Die strikte Drogenpolitik der neuen Kolonialherren blieb nicht ohne Auswirkungen auf das amerikanische Mutterland, wo christliche Frauenvereine und Prediger bereits kräftig Stimmung gegen den Alkoholkonsum machten.

Die „Anti-Saloon-League“, die mit dem Alkohol gleich alle übrigen Laster bekämpfte, welche in diesen Etablissements gediehen, wuchs zu einer politischen Kraft, ohne deren Unterstützung Politiker bei Wahlen chancenlos waren. Ein Bundesstaat nach dem anderen erklärte sich als „trocken“, im Kongress stellten die „Dries“ (Alkoholgegner) bald die Mehrheit gegenüber den „Wets“ (Alkoholbefürworter) – so war der Weg in die Prohibition und in die Entstehung mafioser Strukturen vorgezeichnet: Schließlich versprach der Handel mit illegalen Alkoholika Milliarden­gewinne.

Denn im benachbarten Kanada konnte Alkohol weiterhin legal produziert und verkauft werden. Daher kurbelten die dortigen Destilleure ihre Produktion an. Die Familie Bronfman (Seagrams Whiskey) beispielsweise begründete mithilfe der Prohibition ihren Reichtum. Findige Geschäftsleute schafften den begehrten Stoff in präparierten Waggons, auf Fregatten und Schnellbooten in die USA. „Hochprozentiger“ wurde zu Preisen gehandelt wie heute Heroin und Kokain. Bald lieferten sich diverse Gangs wie etwa jene des Mafiapaten Al Capone blutige Revierkämpfe. Polizei und Justiz waren entweder bestochen – oder machtlos, weil sich für die Morde keine Zeugen fanden.

Das Alkoholverbot fiel 1932, nachdem die Demokraten unter Präsident Franklin D. Roosevelt in der Wirtschaftskrise erkannt hatten, dass durch die Prohibition viele Arbeitsplätze und Steuereinnahmen verloren gingen, während sich die Mafia und ausländische Produzenten goldene Nasen verdienten. Im Jahr 1916 gab es zum Beispiel in den USA 1300 Bierbrauereien, im Jahr 1926 keine mehr. Die einzige Lehre, welche die USA langfristig aus den Erfahrungen mit der Prohibition zogen, war die Erkenntnis, dass es nichts bringt, wenn man ein Verbot isoliert verhängt, während Länder rundum Produktion und Handel weiter betreiben. So reifte allmählich die Idee, es müsse irgendwann gelingen, eine weltweite Initiative gegen Suchtmittel zu starten.

Noch in der Ära der Alkohol-Prohibition begannen in den USA Kampagnen auch gegen andere Drogen, vor allem gegen Marihuana. Während es im 19. Jahrhundert Cannabis, Opium und Kokain zu medizinischen Zwecken wie etwa zur Schmerzbehandlung in den USA frei zu kaufen gab, verhängte in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Bundesstaat nach dem anderen ein Anbauverbot für Hanf, weil man darin eine Quelle für eine neue, gefährliche Droge erblickte. Die Blätter des Zeitungszaren William Randolph Hearst berichteten regelmäßig Horrorgeschichten über angeblich unter dem Einfluss von Marihuana verübte Morde. Die gleichen religiösen und politischen Kreise, die schon zuvor den Kreuzzug gegen den Alkohol geführt hatten, wandten sich nun gegen die „tödliche Droge“, wie Cannabis selbst in der „Washington Post“ bezeichnet wurde.

Eine der zentralen Figuren der Hetze war ein Schweizer Einwanderer namens Harry J. Anslinger, der als erster „Drogenzar“ in die Geschichte eingegangen ist und der nicht nur die Drogenpolitik der USA, sondern auch der gesamten Vereinten Nationen maßgeblich bestimmte. Als Leiter des Federal Bureau of Narcotics wurde er trotz Wirtschaftskrise mit einem stattlichen Budget ausgestattet, das er durch entsprechende Aktivitäten zu rechtfertigen trachtete. Er fand für diesen Zweck ein ideales Angriffsziel: Cannabis, das in seinem Auftrag fortan nur noch „Marihuana“ genannt wurde. Auf diesen Stoff ließen sich viele Ressentiments des frommen Amerika fokussieren.

Schauer-Märchen.
So wird Anslinger auch als Urheber folgender, in einem der Hearst-Blätter abgedruckten Behauptung angesehen: „Es gibt 100.000 Marihuana-Raucher in den USA, und die meisten davon sind Neger, Hispanics, Filipinos und Entertainer. Die satanische Musik, Jazz und Swing, beruht darauf, dass Marihuana konsumiert wird. Marihuana lässt weiße Frauen Sex mit Negern und Entertainern suchen.“

Die Amerikaner glaubten die Mär ebenso wie Ans­lingers Behauptung, das Wort „Haschisch“ gehe auf das persische Wort „Hashashin“ zurück, „von dem wir das englische Wort ‚assassin‘ (morden) haben“.

Nach jahrelangem publizistischem Kampf schaffte es Anslinger, dass die Amerikaner Marihuana für eine völlig neue Droge hielten, die mit dem guten alten Hanf nicht das Geringste zu tun hätte. Nicht nur das: Er schaffte es auch, dass Marihuana in seiner Gefährlichkeit mit Drogen wie Kokain und Heroin gleichgesetzt wurde und folglich mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen sei. Als Vertreter einer Bundesbehörde brachte er im Kongress einen diesbezüglichen Gesetzesantrag ein, der von einem einzigen Abgeordneten, dem Arzt William C. Woodward, beeinsprucht wurde: Anslingers Behauptungen seien nichts als ein Sammelsurium von fragwürdigen Zeitungsartikeln, ohne jeden Beweis. Das Gesetz wurde beschlossen.

Während seiner gesamten Amtszeit hatte Anslinger für ein internationales Abkommen gekämpft, das seine Sicht übernahm. 1962 gelang es ihm als Repräsentant der Weltmacht USA, ein solches Abkommen bei der Narkotika-Kommission der Vereinten Nationen durchzusetzen. „Seither ist die ganze Welt gezwungen, Cannabis wie Heroin zu verfolgen“, schreibt Lingens.
Aufgrund der in der US-Verfassung garantierten Freiheitsrechte ist der Konsum von Drogen erlaubt, nicht aber der Besitz. Wer zweimal auch nur mit einer kleineren Menge Marihuana erwischt wird, gilt bereits als Dealer und fasst eine unbedingte Freiheitsstrafe aus.

Als Folge davon sind die Gefängnisse notorisch überfüllt, mit 2,7 Millionen Strafgefangenen und weiteren vier Millionen auf Bewährung sind die USA heute die Nation mit den meisten Gefängnisinsassen der Welt – zu einem beträchtlichen Teil aufgrund der Drogenpolitik. Pro Jahr geben die Vereinigten Staaten 35 Milliarden Dollar für den Strafvollzug aus. Um die steigende Belastung zu begrenzen, wurden Gefängnisse privatisiert. Damit hat sich eine regelrechte Gefängnisindustrie etabliert, mit börsennotierten Unternehmen und eigenen Messen für Gefängnisbedarf. Davon leben viele Zulieferer und Arbeitnehmer, deren Jobs bei einer liberaleren Politik verloren gingen.

Die republikanischen US-Präsidenten Richard Nixon (1969 bis 1974) und Ronald Reagan (1981 bis 1989) sahen im Drogenproblem eine „Bedrohung der nationalen Sicherheit“ und starteten daher einen „War on Drugs“, einen Krieg gegen Drogen: Hilfszahlungen erhielten nur Länder, die diesen Krieg unterstützten. Auf diese Weise stieg Kolumbien zum Empfänger der höchsten US-Auslandshilfe nach Israel und Ägypten auf. Bedingung: Der Marihuana-Anbau musste durch Niederbrennen der Felder gestoppt werden.

Reines Kokain.
Daraufhin wichen die Bauern auf Kokapflanzen aus. Anstatt die Blätter zu kauen, wie in Lateinamerika üblich, wurde jetzt in Geheimlabors reines Kokain hergestellt. In den USA wuchs die Nachfrage nach dem weißen Pulver, so baute Pablo Escobar das Medellín-Kartell auf. Er selbst gehörte als Herrscher über das Drogengeschäft in den USA bald zu den reichsten Männern der Welt, mit einem Besitz von Tausenden Hektar, Flugplätzen und Häfen.

So ein Imperium entsteht nicht auf Samtpfoten: Insgesamt sollen Escobars Auftragskiller 450 Polizisten und 30 Richter ermordet haben. Aus Angst vor der Rache des Kartells führten Richter ihre Prozesse in der Folge nur noch hinter Masken. Neben dem Justizminister starben weiterere kolumbianische Politiker unter den Kugeln des Kartells. Und in Bogotá flog sogar ein Zeitungsgebäude in die Luft.

Doch in Medellín wurde Escobar als Wohltäter verehrt. Er saß im Stadtrat und im Regionalparlament und sorgte für wohlplatzierte Investitionen, die ihm die Bewunderung der lokalen Bevölkerung sicherten. Auf Druck der USA erklärte sich die Regierung bereit, gegen Escobar vorzugehen. Im Zuge eines Gentlemen’s Agreement kam es zu einer Verfassungsänderung, die dem Medellín-Boss eine Auslieferung in die USA ersparte. Offiziell erhielt er fünf Jahre Gefängnis, die er freilich in einer luxuriösen Villa verbrachte.

Die USA trainierten Spezialeinheiten, um seiner habhaft zu werden. Als sein Versteck entdeckt wurde und seine Flucht scheiterte, jagte er sich eine Kugel in den Kopf. Daraufhin übernahm das Cali-Kartell einen Großteil der Medellín-Marktanteile. Offiziell hat sich das Medellín-Kartell aufgelöst, aber es existiert in Form kleinerer Kartelle weiter. Es kam zu Umstrukturierungen und Verlagerungen, ohne dass Produktion und Handel dauerhaft litten. Das zentrale Ziel des Krieges gegen Drogen, das Angebot zu verringern, damit die Preise in die Höhe zu schrauben und dadurch den Stoff für potenzielle Konsumenten unattraktiv erscheinen zu lassen, wurde weder durch die Zerschlagung des Medellín-Kartells noch durch diverse neue Initiativen erreicht.

Clinton scheiterte.
Nachdem eine Studie der Rand Corporation ergeben hatte, dass die Lieferung von Waffen, Kampfhubschraubern sowie die Bereitstellung von Ausbildungsprogrammen und all der Einsatz beträchtlicher Geldmittel nichts gefruchtet hatten, suchte Präsident Bill Clinton eine Kursänderung in Richtung vermehrte Behandlung von Süchtigen, scheiterte mit seinem Vorhaben aber im Kongress. Der Bevölkerung erschien der polizeiliche und militärische Kampf gegen Drogen zielführender.

Da erwies sich die von George W. Bush initierte „Andean Counterdrug Initiative“, die zugleich linke Guerilleros, Terroristen und den Drogenhandel treffen sollte, zumindest militärisch als erfolgreicher: Unter dem kolumbianischen Präsidenten Alváro Uribe wurden die Kartelle zerschlagen, die Unterminierung des Rechtsstaats schien beendet. Aber: Der Drogenstrom versiegte nicht, er floss nur nicht mehr direkt in die USA, sondern nach Mexiko, wo neue Kartelle das Geschäft der alten kolumbianischen übernahmen. Ergebnis: Drei mexikanische Kartelle mit ihren Privatarmeen stehen heute 50.000 mexikanischen Soldaten gegenüber. Der Kampf forderte bisher 30.000 Tote, und die Spirale der Gewalt dreht sich immer weiter. Die Bevölkerung in den betroffenen Gebieten sehnt sich nach Zeiten zurück, in denen Politik, Polizei und Drogenkartelle in gutem Einvernehmen für Ruhe und Ordnung sorgten. Zwar konnte der Kampf der Regierung da und dort vor­übergehende Erfolge erzielen, aber am Drogenangebot oder am Preisniveau hat das nichts geändert. Im Gegenteil: Im Jahr 2006 registrierte das US-Justizministerium 100 mexikanische Drogengroßhandelszentralen und Vertriebsorganisationen in den USA, im Jahr 2009 waren es doppelt so viele.

Unter lateinamerikanischen Politikern wachsen deshalb die Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Krieges gegen Drogen: Der ehemalige Präsident Mexikos, Ernest Zedillo, der ehemalige Präsident Kolumbiens, César Gaviria Trujillo, und der ehemalige Präsident Brasiliens, Fernando Henrique Cardoso, erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, die Drogenpolitik der USA dränge ganz Südamerika in eine Abwärtsspirale. Cardoso sagte öffentlich: „Der Krieg gegen Drogen ist ein verfehlter Krieg.“

Unterdessen wird der Grundannahme der US-Drogenpolitik, dass Marihuana ähnlich gefährlich sei wie Heroin und Kokain, durch gleich mehrere britische Untersuchungen der Boden entzogen. Im Jahr 2005 legte eine Kommission unter der Leitung des langjährigen BBC-Direktors John Birt im Auftrag der britischen Regierung eine Studie über das Suchtpotenzial und damit die Gefährlichkeit verschiedener Drogen vor. Ganz oben auf der Liste stehen Heroin und Crack (je vier Punkte), in einer zweiten Gruppe rangieren Kokain, Amphetamine, Tabak und Alkohol (je drei Punkte), danach kommen Ecstasy und Cannabis (je zwei) und LSD (ein Punkt). Demnach rangieren legale Drogen wie Alkohol und Nikotin deutlich vor illegalen Drogen wie Cannabis oder LSD. Eine im Jahr 2007 im angesehenen Medizinjournal „Lancet“ veröffentlichte Studie kam zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen.
Als der Drogenberater der britischen Regierung, David Nunn, der an der „Lancet“-Studie federführend beteiligt war, im Jahr 2009 bei seiner von allen maßgeblichen Fachleuten geteilten Einschätzung blieb und von der britischen Regierung verlangte, die Gefahrenklassifizierung an die wissenschaftlichen Erkenntnisse anzupassen, erzwang die zuständige Staatssekretärin seinen Rücktritt. Was Nunn als „Spannungen zwischen Politik und Wissenschaft“ abtut, hält Buchautor Lingens für „das zentrale Problem der Drogenpolitik: Sie wird nach politischen, nicht nach wissenschaftlichen Kriterien gemacht, und nach diesen Kriterien müssen illegale Drogen gefährlicher als legale sein.“

Der Birt-Bericht verglich aber nicht nur das Suchtpotenzial der verschiedenen Drogen, sondern auch das Sterberisiko: Demnach sterben in Großbritannien pro Jahr im Schnitt 625 Menschen durch eine Überdosis oder Verunreinigung von Heroin, 97 durch Methadon, 25 durch Ecstasy, 20 durch Crack, zwölf durch Amphetamine, elf durch Kokain. Cannabis und LSD scheinen in der Totenstatistik nicht auf.

Alkohol hingegen verursachte pro Jahr in England unter 21 Millionen Konsumenten 6000 Todesfälle, wobei in dieser Zahl freilich sowohl die akuten wie die chronischen Verläufe enthalten sind, und chronisches Rauchen führte pro zu Jahr zu rund 100.000 Todesopfern unter geschätzten 9,4 Millionen Rauchern. Noch Fragen?