Stadt der Selbsterhebung

Graz: Die Gemeinderatswahlen werden nichts ändern

Stadtporträt. In Graz regiert der Biedersinn. Daran wird auch die Gemeinderatswahl nichts ändern

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Eine ihrer größten Leidenschaften ist das Sammeln von Ehrentiteln. Neuerdings trägt sie die Auszeichnung „City of Design“, und man vermutet einen Zusammenhang, wenn man an der ewigen Baustelle am Grazer Hauptbahnhof zu den eiförmig verlaufenden Schleifen einer offenen Dachkonstruktion emporschaut. Die dem Himmel zugewandten Teile glänzen golden. So geht das Gerücht. Von einem Helikopter aus könnte man Genaueres berichten.

Das sonstige Entree in die Stadt ist eher grindig. Es mündet in eine Einkaufshölle unter der Erde, aus der man an Bauzäunen wieder ans Tageslicht tritt. Sollte ein letzter Zweifel aufkommen, ob man sich wirklich in Graz befinde, ist man sich auf der Rolltreppe darüber im Klaren. Die Grazer stehen stur wie Böcke, links wie rechts, und lassen niemanden vorbei.

Der Weg in die Innenstadt führt entlang an Holzverschlägen, pleitegegangenen Geschäften, Kauf- und Laufläden, glitzernden Billig-Shops und Pizza-Buden. Nur der „Gummi-Neger“ in der Annenstraße hat Zeiten und Stürme überlebt. Seit 100 Jahren bekommt man hier alles Erdenkliche, was aus Gummi hergestellt werden kann: Schläuche, Dichtungen, Regenjacken …

Am 25. November wird in Graz gewählt, und für politische Beobachter ist das mehr als eine Gemeinderatswahl. Seit je hat sich Graz als zuverlässiges Orakel für kommende Entwicklungen bewährt. Schon in den Februartagen des Jahres 1938, vier Wochen vor der Machtergreifung, wurde am Grazer Rathaus die Hakenkreuzfahne gehisst. 1973 – im auftrumpfenden sozialdemokratischen Jahrzehnt – wurde in Graz der sozialdemokratische Bürgermeister Gustav Scherbaum aus dem Amt gejagt, weil Geschäftsleute gegen eine Stadtautobahn in den proletarischen Außenbezirken auf die Barrikaden gestiegen waren. Mit Alexander Götz kam ein arroganter, deutschnationaler Bürgermeister nach, der lange vor Jörg Haider mit markigen Sprüchen und nationalsozialistischem Unterschleif aufgefallen war. Graz war auch die Geburtsstadt der Grünen. Und 2003 wurde über Graz in der großen weiten Welt berichtet. Die Kommunisten hatten bei den Gemeinderatswahlen 21 Prozent erreicht, was der Sehnsucht nach einem gewissen Idealismus in der Politik geschuldet war.

Graz ist eine konservative Stadt. Doch ein revoltierendes Kleinbürgertum, eine Studentenschaft von drei Hochschulen und ein lebendiges karitatives Milieu haben sie unberechenbar gemacht – eine Stadt der Bürgerinitiativen, der Wechselwähler und der Verweigerer. Die politischen Lager sind traditionell anders verfasst als ihre Pendants auf Bundesebene. Die ÖVP war hier nie eine Partei von Bauernfunktionären, die SPÖ-Granden kamen selbst aus bürgerlichen Schichten.

Es gab eine Zeit, da war Graz in aller Munde. Politische und gesellschaftliche Debatten entzündeten sich an der Kunst. Das Avantgarde-Festival „steirischer herbst“, die Literaturzeitschrift „manuskripte“, das ­Forum Stadtpark, all das war durch den Zusammenprall aufrührerischer Künstler und aufgeschlossener konservativer Kulturpolitiker entstanden. Die Sozialdemokraten schwiegen dazu oder schlugen sich auf die Seite des „gesunden Volksempfindens“. Der ÖVP dagegen war es gelungen, sowohl die Kunstsinnigen als auch die Vorgestrigen um sich zu scharen.

Typisch verlief der Skandal um die Aufführung der „Gespenster“ von Wolfgang Bauer im Grazer Schauspielhaus 1975. Für Grazer Verhältnisse ging es arg zu. Es fielen Worte wie „saufen“, „scheißen“, „pudern“; Schauspielerinnen standen nackt auf der Bühne; das Wohlstandsbürgertum wurde in seiner ganzen Verlogenheit und Brutalität vorgeführt. Mit Schaum vor dem Mund wurde daraufhin Hanns Koren, der Gründer des steirischen herbstes, von seinen Freunden in der ÖVP der „Pornografie“ bezichtigt. Der Dichter selbst wurde als „Saubartel“ beschimpft, und der Schriftsteller Gerhard Roth, der sich in einem offenen Brief „gegen das Schnauben aus der rechten Ecke“ gewandt hatte, sollte mit Klagen aus den Reihen der ÖVP in den finanziellen Ruin getrieben werden. Es trat damals aber auch die andere ÖVP auf den Plan: konservative Politiker, die Roth heimlich ein Kuvert mit 30.000 Schilling zustecken wollten, was dieser natürlich zurückwies.

Heute werden Unruhegeister mit Subventionen und Förderungen abgefunden und eingemeindet. Graz ist so überschaubar, dass jeder, der öffentlich wirksam ist, mit allen anderen in Beziehung steht, die lokalen Wettkämpfe bisweilen scheußliche Formen annehmen und das Braten im eigenen Saft kaum zu vermeiden ist. Im vergangenen Jahr wurde der international renommierte Medienkünstler Peter Weibel aus Graz vertrieben.

Graz wurde auch einmal von höchster Stelle der Titel „Stadt der Volkserhebung“ verliehen, weil es den Nationalsozialismus so überaus freudig begrüßt hatte. Zum Dank machte die Stadt dem Führer ein Geschenk. Man ließ den Hauptplatz mit Hunderten Hakenkreuzfahnen beflaggen, die Szenerie malen und legte davon eine Ansichtskarte auf.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Graz nicht mehr gern daran erinnert. Eine provokante Installation des Künstlers Hans Haake an der Mariensäule in Graz im Gedenkjahr 1988 wurde durch einen Brandanschlag von Rechtsradikalen zerstört. Der abgründige Schatten aus Stahl, der 2003 neben dem Grazer Uhrturm installiert worden war und an die NS-Zeit erinnern sollte, steht heute, über jeden subversiven Gedanken erhaben, in einem Shoppingcenter am Stadtrand von Graz.

Es gehört zum Allgemeinwissen der Grazer Bevölkerung, dass die Grazer ­Bürger einst heroisch und schlau die ­Angriffe der Türken und Franzosen abgewendet und den Schlossberg gerettet hatten. Kaum jemand weiß dagegen etwas über Adolf Hitlers Pläne, den Uhrturm abzureißen und durch einen gigantomanischen Südostturm zu ersetzen, der von weit her hätte sichtbar sein sollen. Auch die Hitler-Bauten in Graz sind weitgehend unbekannt. Bullig wirkende Wohnhäuser waren damals entlang der Triester Straße gebaut worden.

Den kritischen Blick darauf verdanken die Grazer einem Wiener, dem Direktor des Stadtmuseums, Otto Hochreiter, der es in seiner Anfangszeit in Graz auch nicht leicht hatte. Hochreiter lässt in seiner jüngsten Dauerausstellung „360 Graz. Die Stadt von allen Zeiten“ überhaupt überraschende Zusammenhänge entstehen. Wer hier durchwandert, versteht Graz besser.

So wurden lange vor den Nazis Grazer Bürger in großem Stil gewaltsam aus der Stadt vertrieben. Die Protestanten, die 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung ausmachten, mussten vor der Gegenreformation flüchten oder konvertieren. Auch die Juden wurden vertrieben und durften sich bis 1867 nicht in der Stadt ansiedeln. Doch so richtig blühte der Deutschnationalismus erst nach dem Ersten Weltkrieg auf, als Graz gegen den Süden hin abgeschnitten war. Die alte Eifersucht gegen Wien wurde noch penetranter, da ­Österreich zum Alpenland geschrumpft war.
Heute noch haben die Goten, Alemannen, Vandalen, Cherusker, Langobarden und wie die schlagenden Verbindungen alle heißen rund um die Universität zahlreiche Buden, in denen Erstsemestrige eine billige Unterkunft finden.

Graz ist trotz allen beschworenen Grazertums eine geteilte Stadt. Das schicke Murufer an der linken Seite: mit seinen Fachwerkhäusern, dem Rathaus, dem Hauptplatz, dem Altstadtkult, dem Akademischen Gymnasium, den Rechtsanwälten, Ärzten und Notaren und dem über Jahrhunderte gewachsenen Dünkel des Grazer Bürgertums. Aber ohne ein einziges Kaffeehaus! Hier ist die „Ordnungswacht“ unterwegs, eine uniformierte Truppe, die grölende Passanten und Betrunkene abmahnt, aber auch für Hundstrümmerl zuständig ist.

Am rechten Murufer finden sich ein Jugendstilhotel, das Kunsthaus und Projekte junger Künstler, doch vor allem heruntergekommene Straßenzüge, die Welt von Migranten und anderen armen Leuten. In diesem Teil der Stadt war immer schon der Straßenstrich zu Hause. Jetzt sind es die so genannten „Laufhäuser“. In Graz gibt es gleich neun solcher Etablissements.

Von der Vielfalt seiner Bevölkerung her hätte Graz alle Voraussetzungen, eine urbane Stadt zu werden. Doch Kontraste und Konflikte muss man aushalten. Das ist Graz nicht gewohnt. So ist es eine Stadt der Verbote geworden. Allerlei Vorschriften vergällen den Grazern das Leben.
Am Hauptplatz muss ein Maronibrater ein Gitter rund um seinen Ofen aufstellen. Es könnte ja ein Passant dagegenrennen und sich verbrennen. Verboten ist das ­Sitzen und Trinken auf den Stufen des ­Erzherzog-Johann-Denkmals am Grazer Hauptplatz, wie überhaupt allgemeines Herumlungern und Alkohol auf den Straßen der Innenstadt. Punschstände sind naturgemäß jedoch erlaubt.

Verboten ist es, mit dem Handy in der Straßenbahn zu telefonieren. Verboten sind so genannte Heizschwammerl. Auch das Bauen über eine bestimmte Höhe ­hinaus ist verboten, und diese Höhe ist in Graz sehr niedrig. Musizieren ist verboten. Betteln ist verboten. Wäre man in Not und würde einen Passanten um Hilfe bitten, müsste man damit rechnen, abgeführt zu werden.

Eigentlich erstaunlich, dass sich die Grazer das gefallen lassen.
Derzeit stecken etliche Grazer ihre revolutionäre Energie in den Kampf gegen neue Straßenbahnen. Die neuen Garnituren der „Varia“-Bahn findet der gelernte Grazer ästhetisch abstoßend, breit, plump und vor allem unerträglich laut. Auch an der Größe einer Verkehrsinsel hat sich der Volkszorn entzündet. Die hohe Verschuldung der Stadt und der Feinstaub scheinen die Grazer weniger zu berühren.

Die Wahlwerbung des amtierenden ÖVP-Bürgermeisters Siegfried Nagl, der auch der nächste Bürgermeister sein wird (offen ist nur, mit wem er koalieren wird), hat sich auf die weitgehend unpolitische Stimmung eingestellt. In einer Hochglanzbroschüre, die an alle Haushalte verschickt wurde, gibt Nagl Tipps zur Lebenshilfe: „Klingeln Sie beim Nachbarn“ – „Tauschen Sie sich untereinander aus“ – „Nutzen Sie Ihr Telefon“ – „Gehen Sie mehr zu Fuߓ.

Aber er wirft auch fundamentale Fragen auf: „Was wollen wir? Was ist richtig? Was passiert, wenn nichts passiert?“
Der Wahlsonntag wird keine Antwort darauf geben.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling