Nummer 310 will nicht mehr

Guantanamo: Die verzweifelten Briefe eines Häftlings im Hungerstreik

Guantanamo. Die verzweifelten Briefe eines Häftlings im Hungerstreik

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Seit über drei Monaten verweigert Häftling Nummer 310 jede Mahlzeit. Er trinkt kaum mehr als ein Glas Wasser am Tag und hat bereits über 25 Kilogramm abgenommen. Auf seinen abgemagerten Armen und Beinen bilden sich als Folge von Vitaminmangel Ekzeme und Entzündungen. "Mein Körper zerfällt allmählich“, sagt Nummer 310 am Telefon zu seinem Anwalt Wells Dixon.

Der Mann mit der Gefangenennummer 310 heißt Djamel Ameziane, er ist Häftling in dem US-Gefangenenlager auf dem Marinestützpunkt Guantanamo Bay auf Kuba. Ameziane war bis vor Kurzem kerngesund - nun ist er jedoch am Ende seiner Kräfte angelangt. Aus Verzweiflung über seine aussichtslose Lage trat der heute 46-Jährige gemeinsam mit der Mehrzahl der verbliebenen Guantanamo-Häftlinge Anfang Februar in einen Hungerstreik. Ein Ende der Protestaktion zeichnet sich nicht ab, Menschenrechtsorganisationen rechen damit, dass es schon bald Tote geben wird.

+++ Guantanamo in Zahlen +++

23 Häftlinge müssen derzeit wegen akuter Unterernährung zwangsernährt werden, und auch Djamel Ameziane steht offenbar vor dem physischen wie psychischen Zusammenbruch: "Die Lage ist unerträglich. Es ist so schlimm wie in den ersten Tagen hier auf Guantanamo - wegen des Hungerstreiks vielleicht sogar noch schlimmer“, schreibt Ameziane in einem Brief vom 15. April an seinen Anwalt Dixon, der profil vorliegt. "Ich mache mir große Sorgen, er wird sich zu Tode hungern“, befürchtet Dixon im Gespräch mit profil.

Die Angst vor der völligen Selbstaufgabe seines Mandanten scheint nicht übertrieben. In einem Brief vom 18. April schreibt Ameziane, dass er zum Äußersten bereit sei: "Heute war ich im medizinischen Zentrum, um eine Ärztin zu treffen. Sie haben mich abgewogen, ich habe 50 Pfund (25 Kilo, Anm.) verloren. Die Ärztin erklärte mir die schlechten Auswirkungen des Hungerstreiks auf den Körper. Sie sagte, ich solle ein Glas ‚Ensure‘ (Nahrungsergänzungsmittel, Anm.) mit Honig trinken und dazu noch ein paar Vitamintabletten nehmen. Ich sagte, dass ich nichts möchte. Vielleicht werde ich auch kein Wasser mehr trinken.“

Djamel Ameziane ist mittlerweile zu einer Art Symbolfigur für ein fortgesetztes humanitäres und juristisches Desaster der USA geworden. Der gebürtige Algerier ist einer der am längsten inhaftierten Guantanamo-Insassen. Seit über elf Jahren wird er dort wie ein Schwerstverbrecher festgehalten - ohne ein Gerichtsurteil; ohne die Chance auf einen fairen Prozess, ohne dass je ein Beweis dafür erbracht worden wäre, dass Ameziane auch nur in Kontakt mit einer terroristischen Organisation stand, von einer konkreten Tat ganz zu schweigen.

Dass Ameziane ganz offenkundig unschuldig ist und nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war, weiß man auch in Washington seit Langem. Anwalt Wells Dixon liegen Dokumente vor, die belegen, dass die Entlassung seines Mandanten bereits im Jahr 2008, also in den letzten Monaten der Regierung von George W. Bush, beschlossen worden war. 2009 bestätigte die Obama-Regierung abermals, dass Ameziane "keine militärische Gefahr“ darstelle und deshalb jederzeit in ein Aufnahmeland überführt werden könne.

Fünf Jahre sind seither vergangen.
Nichts ist passiert. Für Häftlinge wie die Nummer 310 heißt das: ausharren und weiter hoffen, dass Amerika einen Weg aus einem schier endlosen Teufelskreislauf findet.

Denn so rasch die Lager auf Guantanamo einst errichtet wurden, so schwer fällt es heute, sie wieder zu schließen. Die Geister, die George W. Bush einst rief, wird sein Nachfolger Barack Obama nicht los.

Im Januar 2002, wenige Monate nach Beginn des Krieges in Afghanistan, wurden die ersten Camps auf dem Marine-Stützpunkt in der Guantanamo-Bucht in Betrieb genommen. Gefangene aus Afghanistan, später auch aus dem Irak, aus Ostafrika und Südostasien wurden nach Guantanamo gebracht. Damit glaubte die US-Regierung eine juristisch haltbare Lösung für besonders gefährliche Terroristen gefunden zu haben.

Die Bush-Administration enthielt den Guantanamo-Häftlingen den Schutz der Genfer Konventionen vor, die regeln, wie Kriegsgefangene zu behandeln sind. Sie verweigerte ihnen weiters das "Habeas Corpus“-Recht, wonach die Rechtmäßigkeit der Haft von einem unabhängigen Richter geprüft werden muss. Sie verwehrte ihnen auch den Zugang zu US-Gerichten und etablierte stattdessen Militärtribunale, deren Regeln jenen eines fairen Verfahrens in wesentlichen Punkten widersprachen. So durften Angeklagte wie Djamel Ameziane die Beweise für ihre angebliche Schuld nicht erfahren.

2006 riefen die Vereinten Nationen dazu auf, die Lager von Guantanamo zu schließen. Der neu gewählte US-Präsident Barack Obama setzte im Januar 2009 die Verfahren der Militärkommissionen aus und ordnete die Schließung der Lager an - vergeblich. Der Kongress widersetzte sich der Überführung der Insassen in Gefängnisse in den USA.

Inzwischen können Guantanamo-Häftlinge, die als ungefährlich eingestuft worden sind, in ihre Heimatländer abgeschoben werden, falls die dortige Sicherheitslage als ausreichend beurteilt wird. Jemen stellt mit 56 Personen das größte Kontingent an potenziellen Heimkehrern, doch weil Präsident Obama nach einem versuchten Bombenattentat eines Jemeniten auf ein Passagierflugzeug mit Zielflughafen Detroit 2009 die Rückführungen untersagte, müssen die jemenitischen Insassen trotz erwiesener Unschuld weiter warten.

Die demokratische Senatorin Dianne Feinstein forderte Ende April dieses Jahres Präsident Obama auf, den Rückfuhrstopp nach Jemen aufzuheben. Das Ausmaß der Verzweiflung unter den Häftlingen sei "beispiellos“, zitierte Feinstein Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes.

Kein Wunder also, dass die Lage irgendwann eskalieren musste. Im Februar soll das Wachpersonal auf Guantanamo die Zellen der Insassen besonders rüde untersucht haben. Privatfotos, Bücher und Magazine wurden beschlagnahmt. Zudem sollen Wärter auch respektlos mit Koran-Ausgaben umgegangen sein. Als die Gefangenen begannen, aus Protest die Nahrungsaufnahme zu verweigern, wurden sie zur Bestrafung in Einzelzellen überführt. "Ich kann meinem Bruder keinen Brief schreiben, in dem ich ihm meinen Gesundheitszustand und die Sache mit der Koran-Ausgabe erkläre, weil die Behörden den Brief nicht durchgehen lassen würden“, schreibt Djamel Ameziane in einem Brief vom 18. April.

Mittlerweile ist die Situation auf Guantanamo kaum noch in den Griff zu bekommen. Berichte über angebliche Selbstmordversuche von Häftlingen häufen sich. Und plötzlich steht US-Präsident Barack Obama unter Handlungsdruck: "Guantanamo ist nicht notwendig, um Amerika sicherer zu machen. Es ist teuer, es ist ineffizient, es muss geschlossen werden“, sagte der Präsident vor knapp zwei Wochen. Es war Obamas deutlichstes Statement zu Guantanamo seit Langem.

"Guantanamo ist jetzt Obamas Schande“
, urteilt das liberale Online-Forum "Salon“. Theoretisch hätte Obama die Befugnis, die Ausreise der als unschuldig geltenden Häftlinge vorzubereiten. Doch der Präsident nutzt seine Macht nicht und schiebt einzig dem Kongress die Schuld für den Stillstand zu. "Es ist ein zynisches politisches Spiel auf Kosten der Häftlinge wie Djamel“, findet auch Anwalt Dixon.

Im Juli 2010 berichtete profil erstmals über das Schicksal von Djamel Ameziane, der in den 1990er-Jahren vor den Wirren des algerischen Bürgerkriegs nach Österreich geflüchtet war ("Die Odyssee des Djamel A.“, profil 27/2010). In Wien arbeitete er zunächst als Zeitungsverkäufer, dann als Koch in einem Nobelrestaurant am Neuen Markt. Nach der Verschärfung der Ausländergesetze im Jahr 1995 verlor Ameziane seine Arbeitsbewilligung in Österreich und reiste nach Kanada. Als ihm auch dort die Ausweisung drohte, beschloss er im Jahr 2000, nach Afghanistan auszuwandern.

Gut eineinhalb Jahre später - als Reaktion auf die Anschläge von 9/11 hatten die USA den Afghanistankrieg begonnen - musste Ameziane erneut fliehen, diesmal nach Pakistan. Dann schlug das Schicksal zu: Zu dieser Zeit zahlten die Amerikaner Kopfgeld für jeden, der ihnen als Terrorverdächtiger ausgeliefert wurde. Ameziane wurde in einem Dorf nahe der Grenze von lokalen Sicherheitskräften geschnappt und für 5000 Dollar an die Amerikaner weitergereicht. Es war der Beginn des Abstiegs in die Hölle von Guantanamo.

Auch nach langen Jahren der Haft schien Ameziane ein optimistischer Mann geblieben zu sein. "Ich werde die Verantwortlichen hier fragen, ob ich die Bücher, die Sie mir geschickt haben, behalten darf, wenn ich aus Guantanamo entlassen werde“, schrieb er in einem undatierten Brief aus dem Jahr 2011. Zudem schwärmte er von seinen Fortschritten beim Malen von Bildern im impressionistischen Stil. Eines seiner Werke schickte er an seinen Anwalt.

Auch diese kleinen Freuden bleiben Ameziane mittlerweile verwehrt. In der Einzelhaft hat man dem Häftling Nummer 310 auch die Malutensilien weggenommen. In seinem Brief vom 18 April schreibt er: "Wir sind jetzt wieder von der Welt isoliert.“