Ludwig Adamovich wurde ohne Beweiswürdigung verurteilt

Kampusch exklusiv: Drei Mal geflohen und zwei Mal zurückgekehrt

Kampusch ist drei Mal geflohen, aber zwei Mal von sich aus zu ihrem Entführer Priklopil zurückgekehrt

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Der 24. Dezember 2009 war ein besonderer Tag für die österreichische Justiz: Im Wiener Landesgericht fällte Richterin Birgit Schneider ein Urteil im Zusammenhang mit dem Entführungsfall Natascha Kampusch, einem der größten und nach wie vor rätselhaftesten Kriminalfälle der Zweiten Republik. Richterin Schneider verurteilte an diesem Tag nicht irgendjemanden, sondern den 77-jährigen Ludwig Adamovich, früher Präsident des Verfassungsgerichtshofs und zuletzt ehrenamtlich Vorsitzender der „Kampusch-Evaluierungskommission“, wegen übler Nachrede in erster Instanz zu 10.000 Euro Geldstrafe. Adamovich hatte in einem profil-Interview (29/09) sinngemäß gemeint, dass das, was Natascha Kampusch während ihrer Entführung erlebt habe, „allemal“ noch besser gewesen sein könnte als das, was das Kind davor zu Hause mitgemacht habe. Obwohl Adamovich im Ruf steht, überlegte Aussagen zu tätigen, hat sich das Gericht für den von Adamovich angebotenen Wahrheitsbeweis nicht interessiert, keine Zeugen zugelassen und nach kaum zwei Stunden einen Schuldspruch gefällt. Gefangenschaft und Elternhaus zu vergleichen sei absolut unzulässig.

Ludwig Adamovich zeigt sich im profil-Interview vom Urteil und von den darauf folgenden öffentlichen Beschimpfungen – unter anderem durch den früheren Kabinettschef des Justizministeriums, Roland Miklau – persönlich schwer getroffen und spricht von Rücktritt und einer „sehr starken Phalanx von Gegnern“.

Adamovichs Bemerkung, so gewagt sie auch klingen mag, basiert auf Ermittlungserkenntnissen, die teilweise im rund 150 Ordner umfassenden Kampusch-Akt 13 ST 62869/99y enthalten sind, der bereits drei Monate nach der Rückkehr Natascha Kampuschs im Jahr 2006 von der Staatsanwaltschaft geschlossen wurde. Weitere Erkenntnisse lieferten die neuerlichen Ermittlungen der Evaluierungskommission sowie die Recherchen des zuletzt mit der Causa neu betrauten Grazer Staatsanwalts Thomas Mühlbacher, der im Jänner seine Entscheidungen bekannt geben will. Beobachter rechnen damit, dass Ernst H., der offenbar einzige Freund von Kampusch-Entführer Wolfgang Priklopil, zumindest wegen Begünstigung angeklagt werden dürfte.

profil-Recherchen ergaben nun bislang unbekannte Ermittlungsdetails, die die Bemerkung von Ludwig Adamovich in einem anderen Licht erscheinen lassen. Das bemerkenswerteste: Natascha Kampusch ist nicht nur ein Mal – zuletzt – aus ihrer Gefangenschaft geflohen, sondern drei Mal. Zwei Mal ist sie allerdings nicht zu ihren Eltern, sondern jeweils am selben Tag noch von sich aus zu ihrem Entführer Wolfgang Priklopil zurückgekehrt.

Einmal rannte sie aus einer Wohnung ­davon, in der Priklopil Renovierungsarbeiten durchführte. Ein weiteres Mal floh sie vom Grundstück in Strasshof, wo sie acht Jahre lang versteckt worden war. Staatsanwalt Mühlbacher hat Natascha Kampusch in den vergangenen Monaten zweimal einvernommen. Kenner der neuen Ermittlungen berichten, dass Natascha Kampusch „vieles herunterspielt oder abstreitet“. Ihre zweimalige Rückkehr erkläre sie mit der „Macht“ Priklopils, die er über sie gehabt habe. Werde in der Einvernahme, so die profil-Informanten, etwas bestimmter nachgefragt, „macht sie ganz zu“. Das traumatisierte Entführungsopfer leide nach wie vor unter dem Selbstmord seines Entführers: „Darüber ist sie noch immer kein bisschen hinweggekommen.“
Ein Gutteil der Ermittler ist überzeugt, dass es nicht nur einen, sondern mehrere Mittäter gibt. Die Aussagen von Frau Kampusch stünden in Widerspruch zu Ermittlungsergebnissen. Und sie müsse einen triftigen Grund haben, an ihrer Version festzuhalten. Man könne aber ein Ver­brechensopfer in einer Einvernahme nicht „fester anpacken“ etwa durch Gegenüberstellungen.

Warum die Ermittler nun von der Mehrtäterschaft überzeugt sind, hat viele Gründe. Unter anderem hat Natascha Kampusch selbst nach ihrer Flucht zur Frage von Mittätern vor der Polizei nicht etwa gesagt, es gebe keine, oder sie wisse nichts, sondern „ich kenne keine Namen“. Nach der Entführung ging es, so die Ermittlungen, nicht ins vorbereitete „Verlies“, sondern in einen Wald, wo Priklopil telefonierte und Natascha „übergeben“ wollte, was nicht funktionierte, und er, Priklopil, als mutmaßlicher Auftragstäter auf seinem Opfer „sitzen geblieben“ sei. Dafür spreche auch die Tatsache, dass das „Verlies“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorbereitet war. Davon leiten die Ermittler ab, dass die Unterbringung des Entführungsopfers im „Verlies“ nicht geplant war. Tatsache sei auch, dass Priklopil sein damals zehnjähriges Opfer dann gezwungen hat, an der Fertigstellung sowie beim Einrichten des unterirdischen Gefängnisses mitzuhelfen.

Indizien.
Von zwei weiteren Indizien, die auch Ludwig Adamovich bekannt gewesen sein dürften, berichtet der Privatdetektiv Walter Pöchhacker, der jahrelange, auch von der Polizei weitgehend anerkannte Recherchen zur Causa durchgeführt hat. Demnach habe sich Natascha Kampusch schon lange vor ihrer Entführung gewünscht, für immer bei ihrer gelegentlichen Betreuerin leben zu dürfen. In seinem Kampusch-Buch berichtet Pöchhacker über eine – von Kampusch nie dementierte – Begebenheit, deren Richtigkeit er im profil-Gespräch neuerlich bekräftigt: Natascha sei von einer Bekannten ihrer Mutter betreut worden, während ihre Mutter sich auf einer Paris-Reise befand. Beim Einkaufen habe Natascha ihre Betreuerin gefragt, ob sie etwas sagen dürfe, und dann gemeint, sie wünsche sich, dass das Flugzeug mit ihrer Mutter an Bord abstürzen möge, dann könne sie, Natascha, für immer bei ihrer Betreuerin leben. Als die Dame Natascha ermahnte, netter über ihre Mama zu reden, habe die Kleine geantwortet, sie könne ihr dann ja Blumen aufs Grab legen.

Pöchhacker erzählt von einer weiteren Episode, die sich zu Weihnachten 2006, also kurz nach Nataschas Rückkehr, bei einer Weihnachtsfeier im Haus ihres Vaters Ludwig Koch zugetragen haben soll. Pöchhacker sagt gegenüber profil, die jetzige Ehefrau Kochs, eine Ungarin, sei danach bei Pöchhacker im Büro gewesen und habe vor Zeugen erzählt, dass Natascha bei der Feier sehr bedrückt gewirkt habe und auf Nachfrage geantwortet habe, „nur der Wolfi (Priklopil, Anm.) war manchmal lieb zu mir“.

Dass nun Ludwig Adamovich von einer fast „positiven Beziehung“ zwischen Opfer und Täter und von Perioden spricht, „in denen das Verlies nicht im Vordergrund stand“, weil es nachweislich zahlreiche Ausflugsziele und andere an ein normales Leben erinnernde Tätigkeiten gibt, wird von seinen Ermittlern als „eindeutig richtig“ bezeichnet. Einer der Ermittler meint, alles, was Natascha Kampusch in Einvernahmen sage oder nicht sage, wirke vorbereitet: „Das Bild von acht Jahren in Ketten soll aufrechterhalten werden. Aber das war es einfach nicht.“

Möglicherweise sei ihr das von Dritten eingeredet worden, die fürchteten, man könne der österreichischen Öffentlichkeit die psychologisch komplizierte Entwicklung einer Beziehungsbildung zwischen Täter und Opfer nicht nachvollziehbar darstellen, ohne Gefahr zu laufen, dass das Opfer selbst zur Mittäterin gemacht werde. Kampusch hatte unmittelbar nach ihrer Flucht gegenüber der Polizei alle möglichen Details genannt, war dann tagelang „in der Hand“ von Beratern und Betreuern, die in ihrem Namen Stellungnahmen abgaben. Nicht einmal die Polizei hatte Zugang zu Frau Kampusch. Danach trat Kampusch anders auf, wirkte vorbereitet, redete wenig oder gar nicht, gab für größere Geldsummen Interviews, in denen sie ihre Version verbreitete.

Eine noch gewagtere Variante der Ermittler:
Sie könnte tatsächlich von möglichen Mittätern unter Druck gesetzt werden. Frau Kampusch war für profil nicht zu einer Stellungnahme erreichbar. Ernst H., der Freund Priklopils, befindet sich mittlerweile in einem Gestrüpp von Widersprüchen. Er war nach Nataschas Flucht von Priklopil angerufen worden und hatte ihn stundenlang durch die Gegend gefahren, bevor Priklopil sich vor einen Zug der Wiener Schnellbahn warf und dabei umkam. Die Ermittler sind überzeugt, dass H. zumindest Mitwisser ist: Er habe seine bisherigen Aussagen geändert und zugegeben, spätestens an diesem Nachmittag von Priklopil erfahren zu haben, dass sich Kampusch in seiner Gewalt befunden hatte und nun geflohen war. H. habe daher zumindest „Fluchthilfe“ geleistet. In einer ARD-Dokumentation, die demnächst ausgestrahlt werden soll, behauptet H., angeblich gegen 4000 Euro Honorar, noch immer tatsachenwidrig, Priklopil hätte ihm erklärt, wegen Alkohol am Steuer von der Polizei gesucht zu werden.

Abstruse Thesen.
Doch das sei nicht alles. Ein Fahnder: „Wäre Priklopil ein Einzeltäter, hätte er niemanden angerufen, sondern wäre etwa nach Tschechien abgehauen, und es wäre erledigt gewesen. Die Ehefrau von Herrn H., eine Serbin, hatte für Frau Kampusch zu deren 18. Geburtstag eine Torte in Form eines 18ers gebacken. Und da soll niemand eine Ahnung gehabt haben, für wen das war?“ Ermittler haben auch herausgefunden, dass Ernst H. zehn Tage nach der Entführung 500.000 Schilling auf das Konto Priklopils überwies. Weitere zehn Tage später wurde der Betrag über das Konto von Priklopils Mutter an H. zurücküberwiesen. H. behauptete zunächst, er hätte das Geld Priklopil für den Kauf eines Porsches geliehen. Seine neueste Version lautet: Er habe mithilfe Priklopils Schwarzgeld aus seiner Firma waschen wollen. Ermittler glauben ihm kein Wort.

Mittlerweile werden aber auch manche der verbreiteten Theorien zum Entführungsfall des Jahrhunderts dezidiert ausgeschlossen: Natascha Kampusch war nie mit Priklopil in der „Sado-Maso-Szene“ unterwegs, und es existieren auch keine entsprechenden Fotos. Es gibt keinerlei „hochstehende Persönlichkeiten“, die etwas mit dem Fall zu tun hätten, und Nataschas Mutter Brigitta Sirny hat den Entführer Wolfgang Priklopil tatsächlich nicht gekannt, wie von vielen behauptet wurde.