Denkfehler

Schule. Was die Lehrer falsch machen und wie man richtig lernt

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Non scholae, sed vitae discimus – die meisten Schüler kennen den Spruch: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Der Urheber ist unbekannt. Belegt ist hingegen, dass sich bereits der römische Philosoph Seneca über die Bildungseinrichtungen seiner Zeit lustig machte, indem er in seinem um das Jahr 50 n. Chr. verfassten Werk „Briefe über Ethik an Lucillus“ ätzte: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“

Die Spöttelei des alten Römers hat bis heute Gültigkeit. Die Art und Weise, wie in unseren Schulen Wissen vermittelt wird, widerspricht den Erkenntnissen der Neurobiologie. Mithilfe modernster bildgebender Verfahren wie der Kernspintomografie können Forscher heute veranschaulichen, welche neurologischen Prozesse im Gehirn beim Lernen ablaufen und welche Voraussetzungen dafür günstig sind. Demnach sind viele Quälereien, die oft mit dem Eintrichtern von Prüfungsstoff verbunden sind, reine Zeitverschwendung.

Doch Österreichs Schulwesen zeigt sich von modernen Erkenntnissen unbeeindruckt. Gelehrt und gelernt wird kaum anders als vor hundert Jahren – mit dem bekannt schwachen Ergebnis. Verschiedenste Studien kamen zu dem schockierenden Ergebnis, wie wenig vom gelernten Schulstoff dauerhaft hängen bleibt. So testete beispielsweise das Kompetenzzentrum für Mathematik der Universität Klagenfurt, wie viel Gymnasiasten der sechsten Schulstufe vom Mathematikstoff des vergangenen Schuljahres behalten hatten. Ergebnis: Nur noch ein Viertel des Stoffes war abrufbar. Und vieles davon hatten die Schüler nur wenige Monate davor gelernt.

Der deutsche Neurowissenschafter Manfred Spitzer fasst die Erkenntnisse seines Fachs zum Thema Lernen in einem im Vorjahr erschienenen Buch „Medizin für die Bildung“ so zusammen: „Wer ohne Gehirn, an den Gehirnen vorbei oder gar gegen die Gehirne unterrichtet, kann keinen Erfolg haben.“ Doch genau das passiert im Regelunterricht. profil fasst die gröbsten Fehler des aktuellen Unterrichtssystems zusammen.
Weniger ist mehr

Der bekannte Bremer Hirnforscher Gerhard Roth sieht dringenden Reformbedarf bei den Lehrplänen: „Der Schulstoff ist viel zu umfangreich und muss noch dazu viel zu schnell gelernt werden.“ Auf diese Weise können sich die Inhalte nicht dauerhaft im Gehirn festsetzen. Das derzeitige Unterrichtssystem ist auf der Annahme aufgebaut, dass das menschliche Gehirn ähnlich wie die Festplatte eines Computers Inhalte unbegrenzt speichern kann. Das Gedächtnis sitzt aber nicht in einem bestimmten Bereich des Kopfs, sondern besteht aus einem neuronalen Netzwerk, das sich über viele Bereiche durch das gesamte Gehirn zieht. Bei einem konkreten Reiz feuern verschiedenste Regionen elektrische Impulse ab, die ein bestimmtes Muster ergeben.

Beim Lernvorgang bilden sich in diesem Netz neue Verbindungen ­(Synapsen). Je vielschichtiger und länger ein Thema behandelt wird, desto mehr Verbindungen bilden sich – und desto stabiler wird das Netz. Wird es nicht regelmäßig trainiert, so lösen sich die Synapsen wieder. Es entstehen Lücken, die nur ein sehr komplexes Netz ausgleichen kann. „Es braucht Zeit und vor allem etliche Wiederholungen über einen längeren Zeitraum, damit sich solche neuronalen Muster bilden können, die eine Voraussetzung dafür sind, dass etwas gelernt und dauerhaft im Gehirn verankert wird“, erklärt Roth.

Besonders wichtig findet der Hirnforscher regelmäßige Wiederholungen über längere Zeiträume. Am Stadtrand von Bremen will Roth nun in einer so genannten Brennpunktschule den Schulunterricht so gestalten, wie er ihn für optimal hält: „Am Ende des Tages sollte der Stoff nochmals zusammengefasst werden, dann nach drei Tagen und schließlich nochmals nach drei Monaten.“ Dies wäre der beste Weg, um den Stoff dauerhaft abzuspeichern, sodass nach der Schulzeit gut ein Drittel, wenn nicht sogar vierzig Prozent des Lehrstoffs abgerufen werden können – ein erheblicher Fortschritt. Je nach Studie sind es derzeit schon kurz nach der Matura nur fünf bis zehn Prozent.

Begreifen statt vergessen

Josef Lucyshyn, Direktor des Wiener Bildungsforschungsinstituts (Bifie), ist überzeugt, dass in den Schulen viel zu viele isolierte Fakten abgeprüft werden: „Prüfungen werden meist über einen stofflichen Umfang abgehalten, der schnell gelernt und im Kurzzeitgedächtnis abgespeichert werden kann.“ Spätestens bei der nächsten Prüfung muss der Stoff wieder aus dem Kurzzeitgedächtnis – quasi dem Arbeitsspeicher des Gehirns – entsorgt werden, dauerhaft hängen bleibt auf diese Art wenig bis nichts.
Der deutsche Neurowissenschafter Manfred Spitzer fände es sinnvoller, den Schulstoff ganzheitlich zu vermitteln. „Dann wäre aber plötzlich eine Biologieprüfung in der Korrektur so aufwändig wie eine Deutschschularbeit. Es könnte dann nämlich nur noch nach Zusammenhängen gefragt werden, die verstanden worden sind, doch wer will sich diesen Aufwand antun?“, fragt Spitzer. So wäre dann etwa der Bau der Pyramiden nicht nur geschichtlich abzuhandeln – auch die sozialen und kulturellen Strukturen des alten Ägypten müssten behandelt und die physikalischen Vorgänge dabei sogleich erläutert und berechnet werden.

Viele Schüler haben Probleme im Verständnis der naturwissenschaftlichen Fächer, allen voran Mathematik, was genau daran liegt, dass zu wenig praktische, anschauliche Beispiele geübt werden. So könnte etwa sogleich berechnet werden, wie viele Steine für den Bau einer Pyramide bestimmter Größe benötigt werden. Das Ergebnis ließe sich durch Learning by Doing, etwa mithilfe von Bauklötzen, überprüfen.

Dass sich viele Schüler vor naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathematik fürchten, erklärt sich Bildungsforscher Lucyshyn damit, dass oft nur das systematische Herunterrechnen von Beispielen trainiert wird, ohne die Rechenvorgänge und mathematischen Modelle verständlich zu machen. Da Mathematik sehr abstrakt und lebensfern trainiert wird, würde dies im Schulsystem nicht weiter auffallen. Dass die österreichischen Schüler von dem, was sie da berechnen, oft keine Ahnung haben, zeigte sich jedoch im PISA-Test, als sie ihre Rechenergebnisse verbal erklären sollten – und kläglich scheiterten. „Ich habe einmal als Vorsitzender bei einer mündlichen Matura vorgeschlagen, anstelle einer Rechenaufgabe die Lösung an die Tafel zu schreiben und die Schüler einfach erklären zu lassen, wie man zu diesem Ergebnis kommt. Das hat gleich einen Aufschrei der Mathematiklehrer nach sich gezogen“, erzählt der Bifie-Direktor schmunzelnd.

Freude bringt Erfolg

Mit der Schule beginnt der Ernst des Lebens. Dass aber Lernen immer mit Qualen verbunden wird, findet Neurobiologe Gerhard Roth bedenklich. Er sieht darin sogar ein Grundproblem des heutigen Schulsystems. Zwar ist erfolgreiches Lernen mit Mühe für das Gehirn verbunden, schließlich ist die Schaffung neuer Synapsen und Verbindungen ein enormer Energieaufwand – und das Gehirn prüft sehr wohl, welche Verbindungen Sinn machen. Die moderne Forschung hat aber herausgefunden, dass die für Freude und Begeisterung zuständigen Glückshormone Dopamin und Serotonin Lernprozesse begünstigen. „Glück und Lernen hängen ­eindeutig zusammen, das kann die moderne Hirnforschung mit Sicherheit sagen“, konstatiert auch Roths Kollege Spitzer.

Mehrere österreichische Befragungen zeigen jedoch, dass die Zufriedenheit österreichischer Schüler mit Ende der Volksschulzeit in den Keller rasselt und nach der achten Schulstufe einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Eine Studie des Salzburger Bildungsforschers Ferdinand Eder ergab, dass mehr als ein Fünftel aller Schüler unter Schulangst leidet. Und Angst ist die denkbar schlechteste Voraussetzung für das Lernen.

Statt gewaltsam Inhalte per Frontalunterricht in kleine Kinderköpfe zu hämmern, sollte der natürliche kindliche Wissensdurst und Forscherdrang immer ­wieder neu geweckt werden. Lehrer sollten eher als ­Coaches dienen und beispielsweise bei Experimenten assistieren. Hat der Schüler etwa selbst herausgefunden, wie er mit einer Zitrone, ein paar Nägeln und Draht eine Glühbirne zum Leuchten bringt, so hat er ein Erfolgserlebnis und viel besser verstanden, wie eine Batterie funktioniert. Tatsächlich gibt es in Österreich alternative Schulversuche, wo Schüler eigenmotiviert lernen können. Möglich ist dies beispielsweise in der Lernwerkstatt im Wasserschloss Pottenbrunn. Diese Schule ist nicht nach Klassen, sondern nach Themenbereichen aufgeteilt. Da die Schüler selbst bestimmen, was sie wann lernen, bleibt genügend Zeit, sich intensiv mit einer bestimmten Thematik auseinanderzu­setzen.

Die Lernwerkstatt setzt auf die natürliche Neugierde der Kinder, etwas, was im klassischen Schulsystem eher abgewürgt wird, so Schulleiter Norbert Mlinar: „Wir haben immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Kinder, die zuerst in eine gewöhnliche Schule gegangen sind, gar nichts mehr lernen wollen. In kurzer Zeit wurden sie völlig zugeschüttet und brauchen jetzt lange, um einen eigenen Lernrhythmus zu entwickeln.“

Doch alternative Schulkonzepte, die Kindern nicht die Neugierde und die Freude am Lernen vergällen, sind in Österreich rar und werden äußerst skeptisch beäugt. Denn das gängige Credo lautet: Schule könne nicht funktionieren, wenn Kinder tun und lassen, was sie wollen.

Verstaubte Strukturen

Seit Einführung der Schulpflicht wird in einem täglichen, bunten „Fächermosaik“ unterrichtet. Alle fünfzig Minuten wechseln die Fächer – ein Relikt aus den ersten Klosterschulen, in denen die Mönche zu jeder vollen Stunde den Unterricht fürs Gebet unterbrechen mussten. Lernpsychologisch ist diese Aufteilung sinnlos, da eine Vertiefung in ein spezielles Thema auf diese Weise unmöglich ist und sich das Gelernte nicht langfristig festsetzen kann. Außerdem sollen die Fächer nicht ohne Zusammenhang gelernt, sondern ähnlich einer Perlenkette langsam aneinandergereiht und miteinander verknüpft werden.

Ebenso antiquiert mutet es an, Kinder wie zu Zeiten Maria Theresias nach Jahrgängen zu rekrutieren. Damals wurde einfach die Stellungspraxis, nach der junge Männer zum Heer eingezogen wurden, auf den Beginn der Schulpflicht übertragen. Die Bildungspsychologie weiß jedoch längst, dass sich Kinder unterschiedlich entwickeln und manche schneller, manche langsamer lernen als ihre Altersgenossen, dass sie ­individuelle Stärken und Schwächen in einzelnen ­Fächern haben.

Durchlässige Klassensysteme werden bisher nur in wenigen Schulversuchen getestet, wie in der Lerngemeinschaft Wien 15. Dort gibt es keine strikte Einteilung in Klassen, sondern nur „Stammklassen“, in denen Kinder dreier Jahrgänge zusammengefasst sind. So gibt es für 150 Schüler nur sechs Klassen.

Weil es keinen getrennten Turnunterricht gibt, tummeln sich gerade alle Kinder auf dem Sportplatz. „Ich kann hier bei den Kindern sitzen, mit denen ich mich wirklich gut verstehe. In meiner alten Schule habe ich mich mit niemandem verstanden, da haben sich alle nur geprügelt“, erzählt der elfjährige Felix. Auch der gleichaltrige Laurenz fühlt sich in dieser Schule wohl: „Wir helfen uns hier gegenseitig, meistens frage ich ältere Kinder, aber manchmal wissen auch jüngere mehr als ich. Zum Beispiel, wie man ein bestimmtes Wort richtig schreibt.“ Der Fokus wird auch hier auf selbstständiges Arbeiten gelegt, die Lehrer sind um ein gutes Klima bemüht. „Unser Schwerpunkt ist Glück“, erklärt Schulleiterin Ingrid Teufel, welche die Lerngemeinschaft vor sechs Jahren gegründet hat. Teufel betont auch die Vorteile für Lehrer: „Auch wir haben unsere Stärken und Schwächen. In diesem System muss nicht jeder vor seiner Klasse das gesamte Programm herunterspulen und alle Kinder in allen Fächern unterrichten. Ich kann zum Beispiel nicht singen, die Musikstunden hält deshalb immer der Kollege, der das besonderes gut kann.“

Sprachen richtig lernen
Der 18-jährige David S. will nächstes Jahr zur Matura antreten. In die letzte Klasse schaffte er es nur mit einer Nachprüfung in Deutsch. Aus Sicht seines Nachhilfelehrers wäre der Nachzipf gar nicht nötig gewesen, seine Schularbeiten hätten stets mindestens mit einem Befriedigend benotet werden müssen. „Mein Vater ist Türke, und meine Lehrerin meinte zu mir, man merke, dass Deutsch nicht meine Muttersprache ist“, erklärt David, der akzentfreies Deutsch spricht.

Dennoch erklärte die Deutschlehrerin gegenüber Davids Mutter, die Eltern sollten mit dem Sohn zu Hause Deutsch sprechen, damit er seine Schulnoten verbessern könne. „Diese Aufforderung ist ebenso dreist wie sinnlos“, sagt Neurobiologe Roth. Denn Eltern sollten sich mit ihren Kindern unbedingt in ihrer Muttersprache unterhalten. Andernfalls besteht nämlich die Gefahr, dass das Kind keine Sprache wirklich beherrscht. Die genaue Kenntnis einer Sprache ist aber für das Erlernen weiterer Sprachen unerlässlich.

Lernforschung und Neurobiologie haben längst bewiesen, dass jede Fremdsprache auf dem Fundament der Muttersprache aufbaut, aber im Unterricht ist diese Erkenntnis noch nicht angekommen. „Eine moderne Didaktik des Fremdsprachen-Lernens sollte immer auf Strukturen jeder bereits erlernten Sprache aufbauen und diese Kompetenzen miteinander vernetzen“, erläutert Bifie-Direktor Lucyshyn.

Nicht nur, dass aus diesem Grund Schüler mit Migrationshintergrund in Österreich oft benachteiligt werden – die mangelhafte Didaktik ist vermutlich auch der Grund dafür, dass sich zahlreiche Schüler jahrelang in Fremdsprachen wie Englisch oder Französisch abmühen und trotz mehrstündiger Schularbeiten später im Urlaub gerade einmal einen Kaffee bestellen können. Untersuchungen zeigen, dass ein kurzes Sprachstudium im Ausland wesentlich mehr bringt als vier Jahre regelmäßiger Sprachunterricht. Denn nur wenn eine Sprache regelmäßig angewendet wird, kann sie richtig erlernt werden. Und die Motivation stellt sich bei einem Auslandssemester von selbst ein, schließlich will man sich mit dem Umfeld verständigen können, erklärt Neurobiologe Spitzer.

Individuelle Schwächen erkennen

Lernschwächen haben also oft ganz andere Ursachen als mangelnde Begabung. Mitunter haben sie nichts mit dem Schulsystem zu tun, sondern ganz banale Gründe. „Es ist erschreckend, wie viele Kinder ohne Frühstück in die Schule gehen. Viele haben tatsächlich eine solche Schulangst, dass sie nichts hinunterbringen, dann brauchen sie aber eine umso ausgewogenere Jause“, mahnt beispielsweise die Wiener Ernährungsexpertin Ingrid Kiefer. Das menschliche Gehirn verbraucht zwanzig Prozent der zugeführten Energie. „Richtige Ernährung für das Gehirn ist gesunde Ernährung schlechthin, da sie sehr ausgewogen sein muss“, erklärt Kiefer.

Häufig nehmen Kinder auch viel zu wenig Flüssigkeit zu sich. Während der Unterrichtszeit sollten sie mindestens eineinhalb ­Liter Wasser trinken. Doch die Schulkantinen bieten vielfach nur völlig überzuckerte Getränke sowie Speisen an, die mit gesunder Ernährung nichts zu tun haben. Das Gesundheitsministerium hat deshalb Anfang August Leitlinien für Betreiber von Schulkantinen erlassen, um wenigstens einen Mindeststandard zu erreichen.

Die Kognitionspsychologin Katharina Turecek weiß, dass die Gründe für Lernschwächen vielfältig sein können: „Ich habe oft festgestellt, dass manche Schüler extrem wenig schlafen. Viele surfen beispielsweise bis spät nachts im Internet. Natürlich können sie dann in der Schule keine guten Leistungen bringen.“ In jahrelanger Arbeit hat Turecek ein Lernprofil erstellt und ein Buch mit dem Titel „Erfolgreich mit dem Lernprofil“ herausgegeben, das Schülern helfen soll, sich eine eigene Lernstrategie zurechtzulegen. Dabei werden auch Aspekte wie Motivation, Organisation und Zeitmanagement berücksichtigt – oft für nebensächlich gehaltene Dinge, die einen beachtlichen Teil des ­Lernerfolgs ausmachen.

Der 13-jährige Wiener Gymnasiast Konstantin hat beispielsweise erst durch einen Test erfahren, dass seine Schwäche in der Selbstorganisation liegt. Im neuen Schuljahr will er sich Checklisten schreiben, damit er weniger vergisst.

Auf individuelle Lernschwächen kann im derzeitigen Schulsystem nicht eingegangen werden, so wichtig das wäre. Viel zu viel Stoff muss in die kleinen Köpfe getrichtert werden, die sich ohnehin viel mehr merken müssen als ihre Eltern und Großeltern. Was die Schule nicht schafft, muss privat nachgeholt werden. Satte 13 Millionen Euro gaben Österreichs Eltern im vergangenen Jahr für Nachhilfe aus. In Finnland hingegen, regelmäßig Nummer eins beim PISA-Test, gibt es kaum private Nachhilfelehrer. Der Schüler wird als Individuum wahrgenommen, seine Stärken und Talente werden gefördert, nach Ursachen für Schwächen gemeinsam gesucht – bereits im Kindergarten, wie Vorschulpädagogin Leena Lahtinen erzählt.

Der Unterricht in Österreich hingegen orientiert sich nach einem Durchschnittsschüler, den es nicht gibt. Hochbegabte langweilen sich und sind ebenso schnell frustriert wie schwächere Klassenkameraden. Skandinavische Austauschschüler, die das mitteleuropäische Schulsystem kennen gelernt haben, geben einheitlich an, sie hätten sich nicht als Individuum wahrgenommen gefühlt und gemeinsam definierte Lernziele vermisst. Sie fühlten sich unbehaglich und fremdbestimmt von verstaubten Lehrplänen, deren Stoffmenge schier unendlich schien. Diesen Lehrplänen müssen sich auch die Lehrer beugen, da kaum Platz für freie Entscheidungen bleibt.

Zu viel Politik – und keine Chance auf Besserung

Neurowissenschafter Manfred Spitzer ärgert sich regelmäßig über die politischen Bildungsdebatten: „Diese Diskussionen werden immer von Ideologien bestimmt, die Erkenntnisse der Wissenschaft werden völlig ignoriert. Bislang wurden alle Strukturreformen durchgeführt, ohne zu bedenken, unter welchen Umständen Kinder gut lernen können.“
Der Forscher findet es „skandalös“, dass keine Anstalten gemacht werden, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen. Statt dessen würde sich die politische Debatte in Österreich seit Jahren in der Frage erschöpfen, ob eine Schule Gymnasium, Hauptschule oder neue Mittelschule heißen soll. Das derzeitige System produziert weder glückliche Lehrer noch glückliche Schüler und Eltern, sondern soziale Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit. „Das Schulsystem, das wir jetzt haben, differenziert nach Herkunft, Bildungsstand und Familieneinkommen. Das ist keine Differenzierung im Sinne der Kinder und damit keine zukunftsfähige Lösung“, urteilt Caritas-Präsident Franz Küberl.

Ob nun die Gesamtschule besser oder schlechter ist, kann aber auch Spitzer nicht beantworten. Er wäre dafür, sämtliche Modelle in Schulversuchen zu testen und dann die Erfolgsquoten in wissenschaftlichen Studien zu vergleichen. Denn nur so lasse sich herausfinden, welches System wirklich das optimale sei.

Dass sich daran in Österreich rasch etwas ändert, ist unwahrscheinlich. Es ist – im Gegenteil – sogar abzusehen, dass sich die Qualität der Schulen in den kommenden Jahren noch weiter verschlechtern wird. Den Schulen droht nämlich in den nächsten Jahren ein eklatanter Lehrermangel. Bis zum Jahr 2025 wird die Hälfte der derzeit 120.000 Lehrer in Pension gehen, ein Großteil davon wird sich schon in den nächsten fünf bis zehn Jahren in die Frühpension verabschieden. „Diese Pensionswelle hätte genutzt werden können, um eine neue Lehrerausbildung rechtzeitig zu starten und gut ausgebildete, motivierte, junge Menschen in die Schulen zu bekommen“, meint Bifie-Direktor Lucyshyn. Die drohenden Engpässe sind seit Jahren ebenso bekannt wie die Tatsache, dass spätestens im Jahr 2006 Gegenmaßnahmen gesetzt werden hätten sollen. Und bereits jetzt müssen manche Schulen Studenten oder minderqualifiziertes Personal einsetzen, da Lehrkräfte fehlen und es keinen adäquaten Ersatz gibt.

Österreich verschließt also nicht nur vor Erkenntnissen der Lernforschung die Augen, sondern auch vor einer Reihe weiterer gravierender Probleme. Das muss zwangsläufig zu noch mehr Frust aufseiten der Schüler, der Eltern und der Lehrenden führen. Senecas Spottschrift wird noch lange Zeit gelten.