Missbrauch: Der Papst als Mitwisser

Kirche. Warum den Papst Mitverantwortung an der versuchten Vertuschung von Kindesmissbrauch trifft

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Doch, Joseph Alois Ratzinger, der Mann mit der sanften Stimme, dem leicht entrückten Blick und der sparsamen Gestik, kann auch anders. Er kann abweisend sein, herrisch und unhöflich. Er kann sogar zuschlagen. Brian Ross erlebte es am eigenen Leib, als er Ratzinger eine unbotmäßige Frage stellen wollte. Der Reporter des amerikanischen TV-Senders ABC hatte den Kleriker in Rom abgepasst und auf ein sensibles Thema angesprochen: den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Priester und Ordensleute in den USA.

„I’m not so informed to speak in this moment“
, murmelte Ratzinger zunächst sichtlich verblüfft, fasste sich dann aber und wurde zusehends grantig – um dem Journalisten schließlich erbost mit der flachen Hand auf die Finger zu hauen. Das geschah im Jahr 2002, als Ratzinger noch Kardinal und Präfekt der vatikanischen Glaubenskongregation war. Heute würde Ross auf offener Straße keine zehn Meter mehr an Ratzinger herankommen. Letzterer ist inzwischen Papst, nennt sich Benedikt XVI. und gewährt Interviews nur handverlesenen Vatikan-Berichterstattern. Allerdings: Um das Thema Kindesmissbrauch kommt Benedikt XVI. noch weniger herum als Joseph Kardinal Ratzinger vor acht Jahren.

Konnte die Kirche den Mitte der neunziger Jahre von profil enthüllten Fall Groer (siehe Gastkommentar von Josef Votzi auf Seite 26) noch als bedauerlichen Einzelfall abtun, muss sie nun eingestehen, dass sexuelle Übergriffe durch Geistliche ein massenhaft auftretendes Phänomen sind.
Allein seit Jahresbeginn sind in Europa hunderte neue Verdachtsfälle bekannt geworden, in denen sich Kleriker an Minderjährigen vergangen haben sollen. In den Niederlanden meldeten sich binnen ­weniger Tage rund 200 mutmaßliche Opfer, in Deutschland mehr als 150, in Österreich ist die Rede von mindestens 30.

Die Vorwürfe, die hierzulande zuletzt sehr konkret im Ö1-„Morgenjournal“, dem „Falter“ und den „Oberösterreichischen Nachrichten“ erhoben wurden, betreffen alle denkbaren Bereiche des kirchlichen Lebens: Pfarren, Klöster, Heime, Internate und Schulen. Ehemalige Zöglinge berichten ­dabei sowohl von sexueller als auch von körperlicher Gewaltanwendung. Vergangene Woche musste sogar Georg Ratzinger, ­Bruder des Papstes und selbst Kleriker, zugeben, als Leiter der „Regensburger Domspatzen“ Schüler geschlagen zu haben.

Im Nervenzentrum.
Nicht nur in Europa scheint nun der Damm gebrochen zu sein. In den USA musste die katholische Kirche inzwischen mehr als 10.000 Missbrauchsopfer entschädigen. Und in Lateinamerika ist der Vatikan mit einem geradezu monströsen Fall konfrontiert, der in das direkte Umfeld von Papst Benedikt XVI. weist – jenem von Marcial Maciel Degollado, Gründer der Kongregation der Legionäre Christi, des wichtigsten Laienordens der Region. Obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass „Père“ Maciel dutzende Kinder geschändet hatte, musste er sich niemals einem Verfahren stellen. Das wurde unter anderem mithilfe von Benedikt XVI. verhindert.

Nicht nur in diesem Fall trifft den Papst Mitverantwortung für die unterbliebene Aufklärung und Ahndung von Missbrauchsfällen durch Kleriker. Unzählige weitere Vergewaltigungen und Übergriffe wurden im Geheimen von jener vatikanischen Behörde abgehandelt, der Joseph Kardinal Ratzinger in den Jahren 1981 bis 2005 als Präfekt vorstand – also fast ein Vierteljahrhundert lang: der Kongregation für die Glaubenslehre im Palazzo del Sant’Uffizio, die sich hinter den Kolonnaden des Petersplatzes versteckt.

Hervorgegangen aus der Inquisitionsbehörde, ist sie so etwas wie das Nervenzentrum der Kirche. Sie besteht aus drei Sektionen, die sich mit Doktrin-, Ehe- und Disziplinarfragen beschäftigen. Hier laufen alle sensiblen Informationen aus den 2131 katholischen Diözesen in aller Welt zusammen. Man darf etwa annehmen, dass Joseph Ratzinger im Palazzo del Sant’Uffizio als ­einer der Ersten von den Vorwürfen in Kenntnis gesetzt wurde, die 1995 gegen den Wiener Kardinal Hans-Hermann Groer auftauchten.

Es ist nicht bekannt, ob Ratzinger damals schon ahnte, was mit den Aussagen des früheren Groer-Zöglings Josef Hartmann in Gang kommen sollte. Noch glaubte der Vatikan offenbar, die leidige Debatte über Kindesmissbrauch durch Kleriker mit ein wenig Mauern und Täuschen rasch aus der Welt schaffen zu können. Das schien auch zu gelingen: Die Zahl der Opfer, die sich infolge der Affäre Groer an die Öffentlichkeit wagten, blieb vorerst gering. Das Tabu war zwar gebrochen, das Ausmaß der Übergriffe aber noch längst nicht abzusehen.

Sechs Jahre später unterzeichnete Joseph Kardinal Ratzinger im Palazzo del Sant’Uffizio ein Papier, das sich nunmehr liest wie ein Leitfaden zur Vertuschung von Missbrauchsfällen – auch wenn die Kirche das Gegenteil behauptet. Es trägt den lateinischen Titel „De delictis gravioribus“ („Über schwere Verbrechen“) und wurde vom damaligen Papst Johannes Paul II. approbiert. Darin wird der Umgang der Kirche mit Straftaten gegen die „Heiligkeit des hochheiligen eucharistischen Opfers und Sakramente“, gegen die „Heiligkeit des Bußsakramentes“ und gegen die „Sittlichkeit“ geregelt.

Das Dokument legt eines nahe:
Dass Joseph Kardinal Ratzinger als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre „not so informed“ über Missbrauchsvorwürfe war, wie er es 2002 barsch behauptete, ist wenig glaubwürdig. „De delictis gravioribus“ fordert nämlich Folgendes: „Wenn ein Bischof oder Hierarch auch nur vage Kenntnis von einer derartigen Straftat hat, muss er sie nach abgeschlossener Voruntersuchung an die Glaubenskongregation weitermelden.“

Diese entscheidet anschließend über das weitere Vorgehen. Ordnet sie einen Gerichtsprozess nach dem Kirchenrecht an, dann läuft dieser jedenfalls ähnlich ab wie die Militärtribunale von Guantanamo: ohne einen einzigen unabhängigen Beteiligten. „An den bei den Bischöfen eingerichteten Gerichtshöfen dürfen für diese Strafverfahren nur Priester die Ämter des Richters, des Kirchenanwalts, des Notars und des Strafverteidigers gültig wahrnehmen“, ordnet das Papier unmissverständlich an. Und weiter: „Prozesse dieser Art unterliegen der päpstlichen Geheimhaltung.“

Wie viele derartige Meldungen bei der Kongregation und damit bei Ratzinger eingegangen sind, zu welchen Verfahren sie geführt haben und welche Konsequenzen sie hatten: Darüber schweigt der Vatikan.
Vertuschung? Da sei Papst-Sprecher Frederico Lombardi vor: „Wer ,De delictis gravioribus‘ kennt und versteht, worum es sich dreht, weiß, dass es ein entschiedenes Signal war, um den Bischöfen die Schwere des Problems ins Bewusstsein zu rufen und konkrete Impulse zu Leitlinien für den Umgang damit zu geben.“

Alles halb so wild, versichert auch Matthias Knopp, Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz: „Die kirchliche Unterstützung der staatlichen Strafverfolgungsbehörden bleibt davon unberührt.“ Dass kirchliche Behörden von sich aus Anzeige bei den Behörden erstatten, ist bislang noch nie vorgekommen. „Das ist in unserer Rechtsordnung nicht vorgesehen“, sagt Erich Leitenberger, Sprecher der Österreichischen Bischofskonferenz. „Das können nur Mitarbeiter der Kirche als Privatpersonen tun.“ Er wolle auch nicht ausschließen, dass das auch schon geschehen sei.

Selbstanzeige.
In der Regel bleibt es aber beim Appell, sich zu stellen. „Wir empfehlen ganz konsequent, dass man sich selbst anzeigen soll“, erklärte Maximilian Fürnsinn, Vorsitzender der Superiorenkonferenz und Propst von Stift Herzogenburg, vergangenen Mittwoch in der „ZiB 2“. Die Institution mit dem höchsten moralischen Anspruch an Gläubige stellt es ihren Mitarbeitern mehr oder minder frei, Verantwortung für Verbrechen zu übernehmen oder nicht.

Auch sonst hatten die klerikalen Täter bislang keine besonders schwer wiegenden Konsequenzen zu befürchten. Sie wurden stillschweigend versetzt, nur besonders schwere Fälle mussten aus dem Priester- und Ordensdienst ausscheiden. Opfer bekamen in manchen Fällen finanzielle Angebote dafür, nicht an die Öffentlichkeit zu gehen – man kann darin „Schmerzensgeld“ sehen, wie es die Kirche tut. „Schweigegeld“ trifft es aber wohl doch besser.

Und wenn ein Täter seine Verbrechen gegenüber einem anderen Geistlichen bei der Beichte gesteht, passiert überhaupt nichts: Das Beichtgeheimnis steht für den Klerus über jeglichem Strafverfolgungsinteresse, selbst jenem des Kirchenrechts. Im toten Winkel zwischen von ganz oben angeordneter Diskretion, staatlicher und religiöser Jurisdiktion und dem Sakrament der Beichte konnten es sich Sextäter in der Vergangenheit kommod einrichten – nicht zuletzt auch dank „De delictis gravioribus“.

Mehr noch:
Sie konnten mit geradezu teuflischer Perfidie Macht über ihre Opfer ausüben. Wie zum Beispiel über jenen Zwölfjährigen, der in den sechziger Jahren in Salzburg von zwei Patres missbraucht wurde. Als er sich einem anderen Geistlichen anvertrauen wollte, vergewaltigte ihn auch noch dieser. Und anschließend musste er seine eigene Schändung einem der Peiniger als Sünde beichten.

Allerdings:
Der Fall liegt nun vier Jahrzehnte zurück. Auch wenn die Kirche jammervoll darauf hinweist, dass es auch in anderen Institutionen zu Missbrauchsfällen kommt und eine Teilschuld auf die allgemeine Sexualisierung der Gesellschaft abzuwälzen versucht – der Druck auf sie ist so groß geworden, dass sie sich nicht mehr vollständig gegen eine Aufklärung sperren kann.

Immerhin könnte sie durch die Wucht der in den vergangenen Wochen erhobenen Vorwürfe in eine Krise stürzen, die dramatischer ist als jede zuvor: Zehntausende Gläubige werden ihr den Rücken kehren, manchen ihrer schulischen Institutionen droht durch den dramatischen Image- und Vertrauensverlust der Bankrott. Zudem werden vermutlich auch umfangreiche Wiedergutmachungszahlungen fällig. In den USA musste die Kirche im Jahr 2006 rund 1,5 Milliarden Dollar Entschädigungen zahlen, in Irland mehr als 100 Millionen Euro.

Im Zusammenhang mit den dortigen Missbrauchsfällen hat Benedikt XVI. sexuelle Übergriffe auf Kinder als „abscheulich“ gebrandmarkt. Vergangenen Freitag empfing er eine Delegation der Deutschen Bischofskonferenz zum Rapport. Die versprach anschließend weitere Aufklärung. Als vorbildhaft dafür nannte der Vatikan Österreich, wo der Wiener Kardinal Christoph Schönborn Freitagfrüh zu einer „echten Umkehr“ in der Kirche aufrief.

Wenige Stunden später wurden aus Oberösterreich wieder neue Verdachtsfälle bekannt. Es werden nicht die letzten bleiben.