Warum die Schule alles falsch macht

Warum die Schule alles falsch macht: Eine Abrechnung mit dem Schulsystem

Eine Abrechnung mit dem Schulsystem

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Acht Wochen nach seinem ersten Schultag war die Freude des sechsjährigen Mario, endlich zu den „Großen“ zu gehören, zur Gänze verflogen. Schreiben und Lesen fielen ihm nicht so leicht, wie er gedacht hatte. Wegen seiner „schlechten Stifthaltung“ musste er eine Stunde länger in der Schule bleiben als die anderen. Die Lust verging ihm vollends, als die Lehrerin seitenweise Aufgaben in seinem Heft durchstrich, weil Marios Schriftbild angeblich zu schlampig war.

Dabei ist längst belegt, dass Buben in der Feinmotorik den Mädchen häufig nachhinken und für die Entwicklung eines schönen Schriftbilds oftmals länger brauchen. Eingang in die angewandte Pädagogik haben solche entwicklungsspezifischen Feinheiten offenbar nicht gefunden, ebenso wenig wie viele innovative Unterrichtsmodelle, die das Lernen für Kinder und Jugendliche interessanter und abwechslungsreicher gestalten und Inhalte einfacher und schneller verankern würden.

Nachrichten, die den Unsinn des österreichischen Schulsystems belegen, tauchen fast täglich in den Medien auf: peinliche Ergebnisse bei Bildungsrankings wie PISA, zugleich einer der teuersten Verwaltungskörper weltweit, Ausgaben von jährlich 140 Millionen Euro für Nachhilfe, plumpe Schulbücher, in denen es vor Satzmonstern wimmelt. Doch die zentrale Frage wird in der breiten Bildungsdiskussion allzu oft ausgeklammert: Wie steht es um die Befindlichkeit der Kinder im derzeitigen Schulsystem? Und zahlreiche Studien belegen immer deutlicher: Sie leiden darunter. Die Wurzeln des gegenwärtigen Schulsystems reichen bis ins Mittelalter zurück. „Die grundlegenden Organisationsprinzipien sind noch immer an die klösterliche Tradition und das Militär angelehnt und nicht pädagogischer Natur“, erklärt der Erziehungswissenschafter Bernhard Rathmayr von der Universität Innsbruck.

Die Einschulung erfolgte militärisch im Alter von sechs Jahren. Auf diese Weise wollte man sichergehen, dass niemand der Pflichtschule entging. Die ersten Schulen entstanden im Kloster. Die Mönche mussten je­de Stunde den Unterricht wegen eines Gebets unterbrechen, so kam es zu den heute noch üblichen Einheiten von 50 Minuten mit Pausen von zehn Minuten – so lange brauchten die Mönche ungefähr für das Gebet.

„Die Unterrichtseinheiten von 50 Minuten sind unsinnig und behindern jede Vertiefung“, urteilt Ferdinand Eder vom Institut für Pädagogik und Psychologie der Johannes-Kepler-Universität Linz. „Die Kinder werden aus dem Rhythmus gerissen und müssen sich gleich dem nächsten Fach widmen.“ Für Eder sollte der forschende Charakter durch Projekte stärker in den Vordergrund gerückt werden, bei denen Lehrer eher wie Moderatoren fungieren. Der starre Stundenplan sollte, meint Eder, einem flexiblen System weichen, da es sinnvoll wäre, Fächer wie Turnen und Musik in Wochenrhythmen, andere jedoch in Schwerpunktblöcken abzuhalten. Da jedes Kind einen eigenen Lernrhythmus hat, sollten Leistungsnachweise überdies nicht nach Schuljahren, sondern nach Altersgruppen erbracht werden.

Sinnloses Pauken. Der Autor und Bildungsexperte Andreas Salcher vergleicht die Schule gern mit der Medizin: „Die Schule ist vom Modell her so veraltet, als würde ich heute in einem Krankenhaus mit einem mittelalterlichen Aderlass behandelt werden.“ Und der Zukunftsforscher Mathias Horx ergänzt: „Das Bild, wonach Lernen wehtun muss, ist heute noch in den Köpfen präsent.“ Schon das Wort „pauken“ demonstriere, dass der Schulstoff einer Trommel ähnlich in den Kopf gehämmert werden muss. „Das ist jedoch genau das Gegenteil von dem, was im heutigen Berufsleben verlangt wird“, so Horx. Bei einer Umfrage im aktuellen Nationalen Bildungsbericht meinte zirka ein Fünftel aller Zehn- bis 14-Jährigen, dass sie „viele Dinge auswendig lernen“ würden, die sie nicht verstünden. Ein Lateinlehrer in einem Wiener Innenstadt-Gymnasium etwa war dafür bekannt, dass er seinen Schülern in der ersten Lateinstunde befahl, seitenweise Ovid-Texte auswendig zu lernen – welche die Kinder anschließend laut rezitieren mussten, ohne ein einziges Wort vom Inhalt zu verstehen.

Die Bildungsexpertin Christa Koenne, Leiterin der PISA-Science-Gruppe Österreich, prägte den Ausdruck „Lernbulimie“: Durch die rasch wechselnden Prüfungen müsse das Gehirn immer wieder „gelöscht“ werden, hängen bleibe von dem Stoff nur sehr wenig. „Es ist interessant, dass wir gerade in Fächern wie Mathematik, in denen die Schulen ein Problem haben, einen Ansturm an Anfragen haben, den wir kaum bewältigen können“, berichtet Karoline Iber, Organisatorin der Kinderuniversität in Wien. Im Gegensatz zu den Schulen begeistern sich die Kinder dort plötzlich für die angeblich sperrige Materie. Den Grund dafür sieht Iber in der Wissbegierigkeit kleiner Kinder, die hier auf ihre Fragen Antworten finden und selbst auf Entdeckungstour gehen können – statt trockene Theorie ohne Sinnzusammenhänge hingeknallt zu bekommen.

„Wir haben auch ein physikalisches Ferienlager, bei dem die Kinder selbst eine Kamera bauen und Fotos entwickeln können“, berichtet Iber. „Am Ende gibt es eine Fotoausstellung. Die Begeisterung ist jedes Mal groß.“ Kinder wollten danach sogar Schulen mit technischen Schwerpunkten besuchen.
Die Unlust resultiert laut dem Klagenfurter Mathematiker und Didaktiker Werner Peschek keineswegs aus den mangelnden Leistungen der Schüler. „Es ist zu beobachten, dass die Motivation ab der Grundschule stark abfällt“, so Peschek. Die Ursache dafür liege im schwindenden Alltagsbezug in den höheren Klassen. Die Schüler sehen keine Anwendungsmöglichkeit – und verlieren somit das Interesse. Auch Studien belegen, dass mit dem steigenden Alter die positive Einstellung zur Schule immer mehr abnimmt. „Dieser Je-länger-umso-schlimmer-Effekt wird von den meisten Schulforschern bestätigt“, weiß Rathmayr.

Im Rahmen einer aktuellen Studie des österreichischen Jugendrotkreuzes gaben 75 Prozent der befragten Jugendlichen an, dass der größte Druck in ihrem Leben durch die Schule entstanden sei. Einer Befindlichkeitsstudie aus dem Jahr 2005 zufolge fühlen sich von der vierten bis achten Schulstufe 23 Prozent der Schülerinnen und Schüler stark durch Schulstress belastet, 25 Prozent zeigen sogar psychosomatische Beschwerden wie Schlafstörungen und Übelkeit. Schockierend die Ergebnisse in den letzten drei Pflichtschuljahren: 42 Prozent der Befragten leiden stark unter depressiven Verstimmungen. Bis zu 20 Prozent der Schüler dürften die Beziehungen zu den Lehrkräften „fast durchgehend negativ erleben“.

Unfaire Noten. Die jahrelangen Untersuchungen des Erziehungswissenschafters Volker Krumm brachten das schockierende Ergebnis zutage, dass Beschimpfungen und verletzendes Verhalten von Lehrern an der Tagesordnung stehen. Entmutigende Meldungen wie „Du hast ein Hirn wie ein Nudelsieb“ oder „Du gehörst doch auf eine Sonderschule“ sind typisch. „Ein Mädchen hat mir einmal erzählt, dass ein Lehrer einen Liebesbrief von ihr abgefangen und dann laut vor der Klasse vorgelesen hat. Die anderen haben sich lustig gemacht, sie selbst Rotz und Wasser geheult“, erzählt Krumm. Bei einer Befragung gaben 78 Prozent der Schüler an, dass sie mindestens einmal von einem Lehrer gekränkt wurden. 75 Prozent der Befragten beschäftigt dies noch immer.

Angesichts mancher disziplinären Maßnahmen, die heute immer noch praktiziert werden, ist das durchaus verständlich. Dass Kinder heute noch als Strafe in der Ecke stehen müssen, passiert nicht selten. Eine Mutter, die deshalb eine Lehrerin zur Rede stellte, bekam die Antwort zu hören: „Aber es war doch nur für eine Stunde.“

Ein nicht minder trostloses Bild ergibt sich bei der Leistungsbeurteilung. Dass Noten nicht unbedingt etwas über das wahre Talent eines Schülers aussagen, beweist der Lebenslauf einiger Prominenter, die trotz schulischer Probleme eine beachtliche Karriere hingelegt haben. Toni Faber, Dompfarrer von Sankt Stephan, musste ausgerechnet wegen Latein eine Ehrenrunde in der siebten Klasse drehen und entdeckte erst später im Theologiestudium seine Leidenschaft für die „tote Sprache“. Gert Steinbäcker wieder­um, Mitglied des Austropop-Trios STS, fiel in Musik und Gitarre durch. Auch der Schriftsteller Robert Menasse erinnert sich nur mit Grauen an seine Schulzeit: „Ich hatte eine Nachprüfung in Latein, obwohl ich der Traumschüler für jeden Lateinprofessor hätte sein müssen. Ich habe lateinische elegische Dystichen in deutsche Hexameter und Pentameter übertragen. Der Lehrer meinte aber, es war keine Übertragung, sondern eine bloße Übersetzung verlangt.“

Bei einer Umfrage des Instituts für Psychologie und Pädagogik in Linz unter Schülern der vierten bis zwölften Schulstufe meinten bis zu 20 Prozent, dass die Noten „oft ungerecht“ seien. Genauso viele gaben an, dass sie häufig unter Prüfungsangst litten. Die Angst steige schon ab der Volksschule sprunghaft an und sei dann „in allen Schultypen ungefähr gleich hoch ausgeprägt“. Bei der Studie wurden die tatsächlichen Leistungen von Schülern anhand eines einheitlichen objektiven Tests gemessen und mit den Noten verglichen, die sie in der Schule bekommen haben. Fazit: „Der Zusammenhang zwischen den von außen gemessenen Leistungen und den Noten der Schüler ist nicht hinreichend hoch.“ Vor allem Mädchen würden bevorzugt werden. Außerdem würden vor allem in den höheren Schulen unverständlich viele schlechte Noten vergeben werden. „Lehrer vergeben Noten nach dem persönlichen Ermessen. Sie können gar nicht anders, es gibt keine einheitlichen Standards“, so Eder.
Ein Vorschlag von vielen Experten lautet daher, die Personalunion von Lehrer und Prüfer aufzuheben und Leistungsbeurteilungen von externen Stellen einzuholen, was international durchaus üblich ist.

Darauf setzt Renate Chorherr, Gründerin der Wiener Privatschule WALZ: „Wir haben nicht viele Tests, dafür große Prüfungen, bei denen dann tatsächlich der ganze Stoff gekonnt werden muss.“ Der Lehrer wird dabei eher als Coach wahrgenommen, der den Schülern hilft, die an sie gestellten Anforderungen zu bewältigen. „Wir haben ein gutes Verhältnis zu unseren Schülern und sind mit ihnen per Du“, so Chorherr. Die Trennung zwischen Pädagogen und Prüfern wird auch in Finnland praktiziert, jenem Land, das im PISA-Test die besten Ergebnisse erzielte – und dabei wesentlich weniger Geld für das Schulsystem ausgibt als Österreich.

Rainer Domisch, Unterrichtsrat an der obersten Schulbehörde Finnlands, zieht einen internationalen Vergleich: „Finnische Austauschschüler, die kurz das deutsche oder österreichische System kennen gelernt haben, berichten mir oft zwei Dinge. Sie fühlten sich nicht als Individuum wahrgenommen und verstanden das Lernziel nicht.“ Individuelle Förderung und Transparenz im Unterricht hätten in Finnland große Bedeutung, so Domisch. Es seien die Geheimzutaten für den finnischen Schulerfolg. An diese These knüpft auch Andreas Salcher an, der mit seinem Buch „Der talentierte Schüler und seine Feinde“ einen Bestseller landete. „Schule macht naturgemäß nur auf die Schwächen aufmerksam und dokumentiert die Defizite noch in Noten, die zeigen, wie viel schlechter man ist als andere. Die ­unterschiedlichen Talente jedoch, die jedes Kind besitzt, werden nicht weiter ­beachtet und bleiben auf der Strecke“, so Salcher.

Auch Josef Lucyshyn, Direktor des Bundesinstituts für Bildungsforschung, spricht sich für mehr individuelle Förderung aus: „Es ist wichtig, dass dies bereits im Kindergarten geschieht. Mithilfe von Experten könnten individuelle Defizite spielerisch repariert werden.“ Die frühe Investition würde sich langfristig auch finanziell lohnen. Für einen Euro, der in die früh­kindliche Bildung gesteckt wird, so Lucy­shyns Kalkulation, müssten zehn Lebensjahre später vier Euro hingeblättert werden – die Erfolgschancen seien aber nur mehr halb so groß.

Sozial ungerecht. Eine Chancengleichheit ist im derzeitigen System keineswegs gegeben. Der Schulweg eines Kindes hängt wesentlich vom Bildungsabschluss und dem Beruf der Eltern ab. Bei 60 Prozent der Schüler, die eine allgemein bildende höhere Schule besuchen, verfügt zumindest ein Elternteil über die Matura. Und die entsprechende Bildung der Eltern ist offenbar immer wichtiger, damit das Kind die Schule übersteht: Eine Mutter aus Wien-Donaustadt berichtet, dass etwa Englisch-Lektionen immer öfter von der Lehrerin per E-Mail verschickt würden – mit der lapidaren Aufforderung, man möge das bitte zu Hause durchackern. „Inzwischen sage ich nicht mehr, dass meine Tochter eine Schularbeit hat“, berichtet die Frau. „Ich sage nur noch, wir haben Schularbeit.“ Können die Eltern mangels eigener Bildung dem Kind nicht beistehen, sind dessen Aussichten entsprechend düster: Die Chance, dass ein Kind, dessen Eltern lediglich einen Pflichtschulabschluss haben, eine AHS besuchen wird, liegt bei drei Prozent.

Als problematisch gilt vor allem der – ohnehin seit Jahren heftig debattierte – Zwang, dass Zehnjährige bereits entscheiden müssen, ob sie nach der Volksschule eine Hauptschule oder ein Gymnasium besuchen sollen. „Die Kinder und Jugendlichen sollen so lange wie möglich eine gemeinsame Schule besuchen, wie in Finnland üblich“, findet Rainer Domisch. Erst im Alter von 15 oder 16 Jahren sollte sich ein Kind überlegen müssen, welchen Bildungsweg es einschlagen will. Die Eltern wären ihrerseits von der Entscheidung entbunden, in welche Schule sie ihr Kind schicken sollen. Damit fiele auch der Leistungsdruck weg, nur gute Noten haben zu müssen, um ins Gymnasium aufgenommen zu werden.

Ob die neuen Mittelschulen, die ab diesem Schuljahr an 244 Standorten erprobt werden, eine befriedigende Lösung schaffen werden, wird sich wohl erst in ein paar Jahren zeigen. Die Kluft zwischen der privaten Lebenswelt der Kinder und dem Universum Schule wird indessen immer breiter. „Die Schule ist eine Maßnahme gegen das alltägliche Leben der Kinder“, so Rathmayr. Für Schulleiterin Chorherr geht die Diskussion ohnehin am Kern vorbei, nämlich dem gesellschaftlichen Wandel: „Schulen sind jetzt per Definition Bildungseinrichtungen, die für die Vermittlung von Wissen zuständig sind. Die Erziehung liegt eigentlich noch bei der Familie, wird indirekt aber immer mehr den Schulen zugeschoben, da Eltern immer weniger Zeit haben.“

Da würden wohl einige widersprechen – etwa jene Wiener Teilzeitangestellte, die es schlicht unverschämt findet, dass die Volksschullehrerin ihres Sohnes sie wegen jeder Nichtigkeit auf dem Handy anruft, statt die jeweilige Angelegenheit mit dem Buben in der Schule zu klären. Dass die Schule ganztägige Formen annehmen und auch mehr soziale Kompetenzen vermitteln muss, da die Familien dazu immer weniger in der Lage sind, gilt unter Experten als Konsens. Doch dafür müssten auch Ressourcen geschaffen und das nötige Personal, etwa Sozialarbeiter und Psychologen, gestellt werden. Lehrer allein können diese Anforderungen offenbar nicht mehr bewältigen. Eine Änderung wäre auch im Sinn der Lehrer. „Ein Fußballnationalspieler, der immer nur ausgepfiffen wird, hat ein ähnliches Selbstvertrauen im Stadion wie Markus Rogan bei einem erneuten Discobesuch in Rom. Ähnlich geht es im Moment den Lehrern in den Klassenzimmern. Ohne Ansehen und Anerkennung wird man frustriert, noch dazu wenn man so einen schweren Job macht“, meint Gernot Kulis alias Ö3-Professor Kaiser.

Eine umfassende Bildungsreform sei laut dem Grünen-Politiker Christoph Chorherr aber nicht möglich, weil die österreichische Bildungspolitik „durch die Mächte der Interessenvertretungen“ blockiert werde. Wie schwer Verhandlungen mit der Lehrergewerkschaft sein können, weiß Unterrichtsministerin Claudia Schmied spätestens, seit sie mit ihrer Forderung von zwei verpflichtenden Unterrichtsstunden mehr eindrucksvoll scheiterte. Dass eine umfassende Reform möglich ist, glaubt Schmied trotzdem. Ihr erklärtes Ziel: „die besten öffentlichen Schulen Europas zu schaffen“.

Bildungsexpertin Christa Koenne wäre schon mit pragmatischeren Fortschritten zufrieden. „Die Schule kann und soll unsere Kinder nicht gescheiter machen“, formuliert Koenne. „Aber sie soll sie zu ihren Möglichkeiten führen. Und das tut sie derzeit nicht.“