Ma Loute

Cannes-Tagebuch (II): Menschenfresser gegen den Medienmainstream

Die ersten beiden Spieltage der 69. Filmfestspiele in Cannes.

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Was passiert da eigentlich? Die Schauspielerin Juliette Binoche hyperventiliert in den höchsten Tönen, plappert vor sich hin wie eine, die gerade ihren Verstand verloren hat, während ihr Kollege Fabrice Luchini mit aufgerissenem Maul und ausschwingenden Armen einen debilen Großbürger mimt, der mit seiner Familie in Calais um 1910 urlaubt – und dort alsbald Gefahr läuft, proletarischen Mördern und Menschenfressern zum Opfer zu fallen. Anderswo wird ein todessehnsüchtiger Alter, der nur darauf wartet, dass das Gift in seinem Körper endlich zu wirken beginnt, zu gitarrenstrotzendem Prog-Rock von einem jungen Mann sanft ins Nirwana gevögelt. So sieht das Wettbewerbsprogramm in der Startphase der Filmfestspiele in Cannes aus – wenigstens in den bizarren neuen Arbeiten zweier französischer landscape artists, in Bruno Dumonts Slapstick-Farce „Ma Loute" und in Alain Guiraudies queerer Existenzkomödie „Rester vertical“.

Rester Vertical

An Absurditäten herrscht in Cannes aber auch sonst kein Mangel. Denn in der sélection officielle treffen spröde Filmvisionen, etwa Cristi Puius ultranaturalistischer Familiendebatten-Dreistünder „Sieranevada“, auf Mainstream-Entertainment der eher matten Sorte, das naturgemäß aus einem einzigen Grund im Rahmen dieses an sich streng cinephilen Festivals läuft: um Hollywoods Superstars auf den Roten Teppich zu bringen und sich so die nötige Weltaufmerksamkeit zu sichern.

Sieranevada

Außer Konkurrenz lief also gleich am ersten regulären Spieltag der mehr als Mediensatire denn als Thriller durchgehende Film „Money Monster“, in dem George Clooney als TV-Finanz-Comedian von einem schwer bewaffneten jungen Antikapitalisten vor laufenden Kameras als Geisel genommen wird, während Julia Roberts als Live-Regisseurin die Dinge unter Kontrolle zu halten versucht. Jodie Fosters vierte Kinoinszenierung – sie läuft ab 26. Mai auch in österreichischen Lichtspielhäusern – besitzt trotz halbwegs kompetenter Regie wenig Spannung und keinerlei Tiefe: die industrielle Antithese zum Irrsinn Dumonts, der in „Ma Loute“ seine unlängst erwachte Liebe zur Komödie („P’tit Quinquin“) brachial neu formuliert – und dabei mutig auf Laurel & Hardy, Luis Buñuel und Carl Theodor Dreyer anspielt; eine ernüchternde Gegenposition aber auch zum Naturalismus-Minimalismus des Rumänen Cristi Puiu, der mit seinem virtuosen Ensemble, beschränkt fast durchgehend auf die paar Zimmer einer engen Wohnung, ein regelrechtes Gesellschaftspanorama eröffnet, das man sich erst erarbeiten muss, um lose Zusammenhänge herzustellen, Figuren kennenzulernen, die fragmentarische Erzählung von „Sieranevada“ Schritt für Schritt erkennen zu können. Exzellentes Kino aktiviert eben seine Betrachter. „Money Monster“ stellt sie bloß ruhig.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.