Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer: Das Schranz-Argument

Das Schranz-Argument

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In diesem Heft beschäftigen sich drei Kommentatoren – Peter Michael Lingens, Georg Hoffmann-Ostenhof und ich – mit der Ukraine. Das ist kein Zeichen mangelnder Koordination, spiegelt vielmehr die Bedeutung der Vorgänge wider. Die Krim-Krise wird vielfach als gefährlichste globale Verwerfung seit dem Zerfall der Sowjetunion bezeichnet, Wladimir Putin von profil als gefährlichster Mann der Welt. Demnach wäre die aktuelle Auseinandersetzung brisanter als die Folgen von 9/11, die immerhin einen Afghanistan- und indirekt auch einen Irak-Krieg umfassten, die vor allem auch eine undifferenzierte Kampfansage gegen den militanten Islam beinhalteten und damit eine durchaus einkalkulierte Vorverurteilungskampagne gegen eine Weltreligion.

Wenn wir angesichts der hochexplosiven Situation annehmen, dass diese These stimmt: Was also macht die Krise am Schwarzen Meer noch gefährlicher als die Summe aller weltweit verstreuten Selbstmordattentäter und Gotteskrieger? Es sind – das beschreiben die Autoren der dieswöchigen Titelgeschichte – die Person Putin und das von ihm aufgebaute System in Verbindung mit außerordentlicher militärischer Schlagkraft: Ein skrupelloser Autokrat in einem undemokratischen, nicht pluralistischen System, jenseits jeder Kontrolle durch einen Verfassungs- oder Rechtsstaat, ökonomisch abgesichert durch Gas- und Ölexporte, verfügt über gewaltige Truppenstärke und das größte Arsenal an konventionellen sowie atomaren Waffen auf der Landmasse zwischen Westeuropa und Ostasien.
Da muss man nicht weiter ausführen, worin die Bedrohung liegt.

Oder muss man das doch? Angesichts der Argumentation eines österreichischen Sportidols muss man doch. Zumal sich diese Argumentation längst quer durch das Land gefressen hat, hinab in die Niederungen der sogenannten Stammtischrunden und dann wieder hinauf in die höchste Managementebene von Unternehmen, die in Russland tätig sind. Wenn es nach Karl Schranz geht, dann macht sein Freund Wladimir Putin seit vielen Jahren genau das Richtige, indem er Russland „mit harter Hand“ – so das gerne verwendete Bild für die Kreml-Willkür – regiert. Mehr noch, er mache es nicht nur richtig, er mache auch das einzig Mögliche. Dieser seit Jahren mit Nachdruck vorgetragenen Meinung des dreifachen Weltmeisters im Schilauf schließt sich sinngemäß regelmäßig ein anderer an, der wie Schranz von der Hand des Russen lebt und der in Österreich wie Schranz als Held gilt: Auch Siegfried Wolf, ehemals für Frank Stronachs Magna-Konzern tätig, jetzt im Sold des Oligarchen Oleg Deripaska, fand rund um die Olympischen Spiele in Sotschi keinen Grund, die Menschenrechtsverletzungen durch den russischen Präsidenten zu kritisieren. (Vielmehr kritisierte Wolf in einem Interview mit „Format“ Hermann Maier, indem er ihm Opportunismus vorwarf: Als Sportler wäre der nunmehrige Putin-Kritiker Maier „der Letzte gewesen, der sich aufhalten hätte lassen, eine Medaille zu erobern“.)

Was Schranz und andere ausgewiesene Politik-Experten sagen: An der Tätigkeit des russischen Präsidenten sei nichts auszusetzen. Die Welt solle sich glücklich schätzen, dass Putin Russland zusammenhalte. Alle, die Putin nicht kennen, hätten keine Ahnung und kein Recht mitzusprechen. Russland sei ja erst seit zwei Jahrzehnten vom Sowjetsystem befreit, da könne man doch keine demokratischen Strukturen nach westlichen Maßstäben erwarten. Überdies sei der Russe als solcher ein ganz anderer Mensch als der Westeuropäer, das Land ein zur Explosion neigendes Gemisch von Völkern, Kulturen, Interessen. Da sei auch die Aneinanderreihung von Präsidentschaften, Regierungsführung und wieder Präsidentschaft eine Quasi-Notwendigkeit. Und nein, dass Putin offensichtlich keine langfristige Entwicklung in Richtung einer Demokratie im Auge und im Programm habe, sei kein Fehler angesichts der fatalen Alternativen für Russland selbst und für den Rest der Welt.

Bis vor wenigen Wochen musste diese Argumentation nur dem Vorwurf standhalten, Putin missachte – generell und an Pussy Riot sowie Homosexuellen-Rechten punktuell sichtbar – die Menschenrechte. Jetzt aber, mit der Krim-Krise, müsste diese Argumentation auch Gewicht haben gegenüber der Tatsache, dass Russland mit Völkerrechtsverletzungen und militärischer Okkupation die Nachbarn gefährdet. Dieses Gewicht hat die Argumentation aber nicht. Nun bedroht das System Putin nicht mehr nur die eigene Bevölkerung, sondern die Welt.

Was wäre aktuell anders, gäbe es in Russland jene Demokratie, die ein Schranz nicht für notwendig hält, ein Wolf nicht fordert? Putin würde nicht über jene Machtfülle verfügen, die es ihm erlaubt, nach Gutdünken zu taktieren und zu marschieren. Er brauchte aktuell werthaltige parlamentarische Vollmachten, unterläge mittelfristig der Kontrolle durch Höchstgerichte, müsste langfristig die Konsequenzen seines Handelns gegenüber Oppositionsparteien tragen, müsste an sein eigenes Überleben denken.

Aber bei Schranz & Co. braucht und muss er das nicht.

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