Leitartikel: Christian Rainer

Christian Rainer Die Gnade der reichen Geburt

Die Gnade der reichen Geburt

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Ist es möglich, die turmhohen politischen Verwerfungen der vergangenen Jahre mit einer einheitlichen Skalierung zu vermessen? Wo sind die Gemeinsamkeiten der Eurokrise, von Griechenland und Zypern, Bankerboni und Bankenpleiten, den Steueroasen und ihren Wasserschöpfern, europäischen Transaktions- und österreichischen Bankensteuern? Auf den schnellen Blick haben die Sachverhalte nichts miteinander zu tun; sie scheinen aus den unterschiedlichen Welten Nationalökonomie und Betriebswirtschaft zu kommen, angereichert mit einer Prise Soziologie, verquirlt durch multinationales Lobbying, ausgespuckt von Qualitätsmedien und Boulevardmaschinen.

Erst bei näherer Betrachtung oder vielmehr mit größerer Übersicht und daher aus weiterer Entfernung ist die Gemeinsamkeit zu erkennen: Hier wird lokal und zwischenstaatlich eine Gerechtigkeitsdebatte geführt. Die mehrfach verzahnten Krisen der vergangenen Jahre und der Gegenwart waren dabei nur Auslöser. Diese Debatte wird uns tief in dieses Jahrhundert hinein begleiten. Und das hat Ursachen und daher eine Notwendigkeit.

Die Gerechtigkeit sucht sich ihre Definition in diesem Zusammenhang auf Basis des Reichtums des Einzelnen. Die Parameter sind folgerichtig die Unterschiede im Einkommen, vor allem aber im Vermögen der Menschen. Die Stellgrößen sind die Wege, auf denen diese Unterschiede zustande kommen.

Einfacher ausgedrückt: Warum gibt es Arm und Reich und wie ungerecht ist diese Differenzierung eigentlich?

Früher oder später hätte sich diese Frage vielleicht auch ohne die aktuellen Krisen gestellt. Der Grund dafür ist nicht die x-te Wiedergeburt von kommunistischen Ideen oder ein Siegeszug des Kommunitarismus, sondern eine schleichende Entwicklung: Weltweit und auch in Österreich geht die Schere zwischen Arm und Reich auf, das ist eine statistisch erfasste Tatsache. Die Verteilung des Vermögens wird ungerechter, auch das ist eine Tatsache. Treibende Kraft dahinter ist erstens die Veränderung der Einkommensverteilung: Die hohen Einkommen steigen stärker als die niedrigen. Zweitens: Durch Erbschaften wird Reichtum kumuliert. Drittens: Die staatliche Steuerpolitik wirkt dieser Veränderung nicht entgegen – der neue Reichtum wird nicht so besteuert, dass die Verteilung des Wohlstands in der Bevölkerung gleich bliebe.

Keine Tatsache ist die Antwort auf die Frage, ob diese Entwicklung und ihr Ergebnis gerecht sind; die Antwort muss eine Wertung auf Basis von gesellschaftlichem Grundkonsens sein: In welchem Ausmaß darf Leistung durch höheres Einkommens belohnt werden? Wann ist die Gerechtigkeitsgrenze angesichts von – durch den Einzelnen kaum beeinflussbaren – Faktoren wie Herkunft, Ausbildung oder auch Zufall erreicht? Simpler: Um wie viel mehr darf ein Generaldirektor verdienen als seine Arbeiter?

Umso mehr stellt sich die Frage bei ererbtem Vermögen, wo sich die Eigenleistung des Einzelnen mit Null eingrenzen lässt. Darf die Gnade der reichen Geburt auf alle Zeit und auf alle Generationen weitergeschrieben werden? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, bei dem Vermögens- und Erbschaftssteuern notwendig werden, um zumindest den Status quo zu erhalten?

Das sind Diskussionen, die nicht geführt werden. Der Zustand der Welt als monetärer Verteilungsraster verändert sich; die Stellgrößen, welche die Verteilung beeinflussen, ändern sich nicht.

Doch die Gerechtigkeitsdebatte wird stellvertretend geführt. Jene schleichenden Verschiebungen genügen als Zündstoff offensichtlich nicht; es bedarf der großen Krisen. Es brauchte die schiefe Konstruktion des Euro und die Pleiten von Griechenland und Zypern, um die Frage aufzuwerfen, ob die Bürger eines Landes auf Pump und damit über ihre Verhältnisse und damit zum Beispiel auf Kosten von Deutschen oder Österreichern leben dürfen. Solidarität zwischen den Staaten scheint da keine valide Antwort zu sein. Im Gegenzug: Griechen und Zyprioten scheinen den relativen Reichtum der Deutschen als eine auf Basis der Zeitgeschichte nicht vertretbare Ungerechtigkeit zu empfinden. Und einmal mehr gewendet: Griechische Milliardäre sind nun ebenso Gegenstand der Verteilungsdebatte wie Steuerflüchtlinge in Zypern – und nach den jüngsten Daten über Steueroasen die Reichen der Welt ganz allgemein. Schließlich ebenso Opfer der Krise, weil sie nun als Täter qualifiziert werden: Banker und ihre Boni. Ist es gerecht, dass sie für das Herbeiführen eines weltweiten Nahezu-Notstands eine Beinahekollaps- Belohnung kassieren?

Die Gerechtigkeitsdebatte läuft nun, bisher noch unstrukturiert, mehr in Medien und Foren als in politischen Zirkeln, anlassbezogen ohne Meta­ebene. Aber immerhin. Die Krise hat also ihre gute Seite.

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