Christian Rainer: Gebt Gerechtigkeit!

Asylpolitik – und das war’s? Dann wird die Geschäftstätigkeit dieser Regierung ein Fleckerlteppich bleiben, vielleicht ohne Löcher, sicher ohne Muster.

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Ich weiß nicht, ob es an meinem zunehmenden Brechreiz über den Blähungen des Ausländerthemas liegt – flüchtige Flüchtlingswellen bei stillem Wasser, hochgerechnete Migrationskosten bei Höchstkonjunktur – oder ob es der Neugier gegenüber einem sehr aktiven Bundeskanzler geschuldet ist: Jedenfalls rede ich mir bei jeder Gelegenheit, jedem Interview, jedem Streit den Mund fusselig, diese Regierung möge uns doch abseits der Asylfragen eine andere und anspruchsvolle Beschäftigung geben. Das Volk habe ein Recht auf die eine große Geschichte, die uns erzählt, wohin die Junge ÖVP (keine Ironie), wohin Sebastian Kurz Österreich und ab 1. Juli tatsächlich auch Europa führen wollen.

Dieses Recht besteht für jeden einzelnen Arbeitnehmer, der wissen will, zu welchen Bedingungen er in zehn Jahren im Sold stehen wird. Eltern sollen sich ein Bild davon machen, in welcher Welt ihre Kinder leben werden (und die Kinder selbst natürlich auch). Die Ausländer, die uns Inländern dieses Leben heute unter oft prekären Bedingungen erleichtern, müssen erfahren, ob sie das auch morgen noch tun dürfen. Und wir, die angeblich in sauerstoffreicherer Luft atmenden Bewohner der diskursfreudigen Blase, wollen einen Hinweis auf die Konsistenz dieses Landes zum Ende der Haltbarkeitsfrist von Kurz/Strache, Macron, Merkel, Orbán, Trump bekommen: Noch genießbar oder sauer geworden? Europäisch geblieben oder ein Subsidiärtorso geworden? Menschlich oder nicht?

Wenn ich dieses Bedürfnis nach einer Gebrauchsanleitung für unsere Zukunft äußere, die tunlichst auch noch in eine pragmatische Poetik gehüllt sein soll, ernte ich bei den Monden und den Meteoren des Bundeskanzlers meist Verständnis. Weil in jenem Gravitationsfeld eine ständige Wechselwirkung zwischen den Himmelskörpern besteht, weil sich die Berater also intensiv mit dem Beratenen beschäftigen, verstehen sie, was ich meine, sobald sie das Gemeinte auf den Kanzler projizieren: Ein Staatsmann, als den sie ihn verehren und der er nach dem Verfallsdatum auch bleiben soll, müsse mehr als ein Manager der Macht sein. Ein „Statesman“ habe über die Handlungsfähigkeit im Tagesgeschäft und das ephemere Charisma hinaus eine Vision zu präsentieren. Und daran fehle es noch, das bleibt unwidersprochen. „Veränderung“, wie es die Österreicher im ersten Rang ihrer Wahlmotive nennen, ist zu wenig. „Veränderung“ ist ein leeres Gefäß, das gefüllt werden will; es ist nichts; es ist ein Vakuum, das sich irgendwann mit Umgebungsgerümpel vollsaugt, wenn niemand es mit Wertvollerem füttert.

Da ist die Demokratie gnadenlos ungerecht.

Wir leben in einer Welt, in der es Wohlstand zu verteilen gibt.

Das Argument der Trabanten sinngemäß: Man verstehe zwar oder man wisse gar, dass die Vision noch fehle. Doch das Tagesgeschäft gebe nicht genügend Raum und Zeit, um das Kleine und die Teile zu einem größeren Ganzen zu formen. Zunächst müssten die Dinge in Bewegung geraten, die Veränderungen auf Schiene gesetzt werden, dann komme schon noch die Muse zum Philosophieren.

Stimmt schon: Asylpolitik, Krankenkassen, Zwölfstundentag, EU-Präsidentschaft, Polizeipferde. Das ist mehr, als manches Kabinett in einer Legislaturperiode weitergebracht hat (oder weniger). Dennoch würde die große Geschäftigkeit dieser Regierung in Abwesenheit einer Vision ein Fleckerlteppich bleiben, vielleicht ohne Löcher, sicher ohne Muster.

Was denn das große Thema sein könnte, so gelegentlich die Frage. Mein Vorschlag an Kurz, Strache, ebenso an Kern und Meinl-Reisinger (nicht an Pilz): Macht „Gerechtigkeit“ zum Generalthema!

Wir leben in einer Welt, in der es Wohlstand zu verteilen gibt. Wäre es anders, könnte man nicht mit derselben ernsthaften Leichtigkeit darüber diskutieren. Die aktuelle Verteilung hat sich aus historischem und geografischem Zufall ergeben, in Kriegen, aus gesellschaftlicher Übereinkunft, mittels Verfassungen und Gesetzen. Daher existiert keine Wahrheit der Gerechtigkeit, es gelten nur für die eine oder den anderen ungerechte Wahrheiten, Standpunkte, Konventionen.

Vermögen und Einkommen sind innerhalb von Staaten extrem ungleich verteilt, erst recht transkontinental, folgerichtig auch zwischen Sesshaften und Flüchtlingen. Das gilt ebenso für Bildung, Gesundheit, für die Folgen des Klimawandels, für subjektives Glück und Unglück. Die gesetzlichen Regeln weltweit und lokal – Vermögens- und Erbschaftssteuern, Zölle, Personenfreizügigkeit – führen zu keinem Ausgleich. Dennoch: Die herrschende Situation mag ein Gleichgewicht zwischen Anspruch auf Ausgleich und individuellen Freiheiten darstellen, zwischen Solidarität und Unmenschlichkeit. Aber die Gerechtigkeit der Ungerechtigkeit im Diskurs zur Disposition zu stellen – das wäre die Aufgabe dieser und jeder anderen Regierung im 21. Jahrhundert.