Christian Rainer: Das Kollektiv ist niemals dankbar

Christian Rainer: Das Kollektiv ist niemals dankbar

Christian Rainer: Das Kollektiv ist niemals dankbar

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Das große Polen mit 40 Millionen Einwohnern will keine Flüchtlinge aufnehmen, allenfalls ein paar Christen. Der linke slowakische Regierungschef beschimpft die syrischen Asylwerber als verkappte Wirtschaftsflüchtlinge. Laut einer Umfrage verweigert die Hälfte der Tschechen den Hilfesuchenden jede Hilfe. Die Ungarn bauen Zäune, erklären den Grenzübertritt zu einem Schwerverbrechen und gebärden sich so unmenschlich, dass bei dem Wort „Lager“ unzulässige Assoziationen entstehen – vermutlich nicht nur in mir. Georg Hoffmann-Ostenhof beschreibt, warum sich Osteuropa so hartherzig gebärdet. Er analysiert penibel, findet gute Gründe.

Mir fehlt der Langmut. Ich ärgere mich einfach nur. Die Menschen im sogenannten Osten haben vergessen, wie ihnen mehrfach geholfen wurde. Ihre Undankbarkeit ist eine Sauerei. Ihre Politiker spielen mit dieser Haltung, nutzen das Flüchtlingselend zur Mehrung der eigenen Popularität. Ihr Zynismus ist ein Verbrechen wider die Menschlichkeit mitten in der Europäischen Union. Niemand spricht das aus. (Allenfalls werden die Ungarn mit samtenem Tätscheln zur Vernunft gemahnt.) Man bekommt den Eindruck, dass der Bürger, sobald er ein Kollektiv bildet, für sein Denken, seine Worte, sein Handeln nicht mehr zur Rechenschaft gezogen wird (nicht nur in diesem Fall, nicht nur im Ausland). Die Ficos und Zemans und Orbáns dürfen ohnehin tun, was sie wollen. Diplomatie! Man braucht sie ja noch. Sei es als Treiber der Wirtschaft, sei es in der Nato, sei es als Verbündete in der EU (sei es gegen den IS, wie Erdogan und jetzt sogar Assad).

Damals fragte niemand, ob die Ungarn, Tschechoslowaken, Polen vielleicht länger bleiben würden.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist ein Vierteljahrhundert vergangen, seit der EU-Osterweiterung ein Jahrzehnt. Das ist eine perfekte Periode. 25 Jahre und davon zehn auf Augenhöhe: Ein Gewährleistungszeitraum sollte das sein, damit all das nicht passiert, was nun passiert. Lang genug: In 25 Jahren wächst eine Generation heran, die unbelastet denkt und anders handelt als die Vorfahren. Aber kurz genug: In 25 Jahren gerät Geschichte nicht in Vergessenheit.

Vor 25 Jahren zeigte sich der Westen äußerst hilfsbereit, als es darum ging, die Scherben des Kommunismus aufzukehren und Schnitte zu schließen. Die Grenzen waren 1989 sperrangelweit offen (archetypisch ausgerechnet jene zwischen Österreich und Ungarn), um die Flüchtlinge rein- und durchzulassen. Die Bürokraten gaben sich unbürokratisch, die Menschen menschlich. Damals fragte niemand, ob die Ungarn, Tschechoslowaken, Polen vielleicht länger bleiben würden. Das wollen diese Ungarn, Tschechen, Slowaken, Polen nun vergessen haben.

Oder die Ungarnkrise 1956: 180.000 kamen, jeder Zehnte blieb. Österreich zeigte sich solidarisch, obwohl die Republik elf Jahre nach dem großen Krieg organisatorisch und finanziell ausgeblutet war. Und der Prager Frühling 1968: Ähnliche Situation plus ein Hauch von Kriegsgefahr, ähnliche Hilfe. 160.000 Flüchtlinge, von denen gut 10.000 blieben. Diesen und jenen Sachverhalt haben die Nachbarn vergessen.

Die EU wurde zum Wohl der neuen Mitglieder dennoch erweitert. Die neuen Mitglieder haben auch das inzwischen vergessen.

Bin ich blauäugig? Natürlich nicht. Gerade nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war die westliche Politik von geopolitischen Interessen geleitet. Die militärische und die ökonomische Perspektive, in Deutschland die historisch naheliegende Wiedervereinigung, zwangen den Westen nachgerade, die in ihre Freiheit taumelnden Länder um jeden Preis zu umarmen. Und dennoch: Das geschah auch gegen Bedenkenträger. Irgendwann war die Stimmung der Bevölkerung dann doch verstimmt, die Regierenden wurden aber nicht zynisch (wie sie es jetzt in den genannten Ländern gleich von Beginn weg sind). Sie hielten durch, auch später noch, als es um den Beitritt zur EU ging oder um Assoziationsabkommen. Da waren die rechten Parteien in der Xenophobietonlage bereits laut und erfolgreich geworden. Die Gewerkschaften waren, in Sorge um den Arbeitsmarkt, skeptisch und widerborstig.

Die EU wurde zum Wohl der neuen Mitglieder dennoch erweitert. Die neuen Mitglieder haben auch das inzwischen vergessen.

Die Dankbarkeit des Kollektivs ist ein flüchtiges Gut, ihre Substanz eine Illusion. Die Ironie: Das wird Österreich gerade wegen der Flüchtlingsströme zu spüren bekommen. Wien wählt in vier Wochen. Wie kaum ein anderes Völkchen auf diesem Erdenrund werden die Wiener von ihrer Stadtregierung verhätschelt: mit Wohnungen ausgestattet, mit Arbeitsplätzen und niedrigem Pensionsalter beschenkt, mit Sicherheit, Gesundheitsversorgung, Lebensqualität versorgt. Aus Dankbarkeit werden diese Wiener jetzt die Freiheitlichen wählen.