Christian Rainer: Gibt es ein Leben ohne Merkel?

Falls die deutsche Kanzlerin stürzt, wird es endgültig ungemütlich. Sebastian Kurz hat damit am Rande zu tun.

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Angela Merkel ist seit bald 13 Jahren im Amt. Nun wird mit einem Mal wahrscheinlich, dass bald jemand anderer an der deutschen Regierungsspitze steht. Ein Paradigmenwechsel, als würde die Bundesrepublik die Wiedererrichtung des Kaiserreichs erwägen: Ein Teil der europäischen Bevölkerung und das Gros des politischen Personals kennt die Welt nur mit dieser Kanzlerin. Sebastian Kurz etwa hatte bei ihrer Angelobung am 22. November 2005 eben den Präsenzdienst abgedient und studierte im ersten Semester Rechtswissenschaften.

Heute ist der österreichische Bundeskanzler Merkels Widerpart im engeren Sinn des Wortes. Wenn sie stürzt, dann wird das indirekt mit ihm zu tun haben: Merkel war 2015 wegen ihrer – mehr von Empathie als von Realitätssinn getragenen – Flüchtlingspolitik in die Kritik geraten. Drei Jahre später steckt sie im Mahlwerk ihres Unionspartners CSU, da sie die Pläne von Innenminister Horst Seehofer durchkreuzen wollte. Kurz hatte Merkels Haltung schon 2015 als „falsch“ bezeichnet. Vergangene Woche traf er Seehofer demonstrativ zeitgleich mit einem „Integrationsgipfel“ der Kanzlerin, um eine eigene „Achse der Willigen“ zu schmieden. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ bezeichnete den Auftritt der beiden Herren als „offene Kampfansage an Angela Merkel“.

Mehr Symbolkraft, in der Wortwahl wie optisch, kann man der Spaltung der Welt in zwei Teile tatsächlich nicht verleihen. Brexit, Trump, die Wahlen in Österreich – noch einmal wird die Frage, wie mit dem Flüchtling, dem Migranten, dem Ausländer umzugehen ist, eine große politische Entscheidung herbeiführen. In Großbritannien wurde über diese Frage die Einheit Europas aufgehoben. Die USA haben mit ihrem isolationistischen Präsidenten alle Vorstellungen von der globalen Ordnungsmacht über den Haufen geworfen. Österreich hat über das Bild von der Schließung der Flüchtlingsroute einen neuen Bundeskanzler bekommen.

Genau danach sieht es in Deutschland nun auch aus.

Ironischerweise wird sich dort am wenigsten ändern, wo die Kanzlerin eben stolpert.

Wie wird Europa nach Merkel funktionieren? Gibt es ein Leben nach Merkel?

Ironischerweise wird sich dort am wenigsten ändern, wo die Kanzlerin eben stolpert. Merkels Idee von einer solidarischen Flüchtlingspolitik oder gar von offenen Grenzen ist längst Geschichte. Die Idee ist gescheitert, weil erstens die Emotionen der Bürger (und die Grenzen der Nächstenliebe) falsch bemessen wurden, weil man zweitens überaus naiv die Solidarität der Nationalstaaten über deren Eigeninteressen gestellt hatte und weil dabei drittens auch noch europäisches Recht und nationale Gesetze missachtet wurden. Europa wird mit oder ohne Merkel eine Festung werden, zumindest nach außen.

Innerhalb der EU wird es ohne Merkel aber recht ungemütlich werden. Wenn ihre Stimme fehlt, werden Populismus und Partikularinteressen in den Vordergrund treten. Wer sollte die Entwicklung der Union hin zu einem festeren Verbund mit mehr Kompetenz in Brüssel dann noch vorantreiben? Emmanuel Macron und das ökonomisch schwache Frankreich werden da alleine untergehen. Die Oberhand bekommen jene Länder, die Subsidiarität über die Gemeinschaft stellen. Dazu gehört – wie explizit von der Bundesregierung formuliert – Österreich, dazu gehört vermutlich aber ohnehin die Mehrheit der Mitglieder. Die Visegrád-Staaten, unter ihnen das autoritär geführte Ungarn und das ebenso am Rande rechtsstaatlicher Verhältnisse stehende Polen, setzen damit ihre Standards in der EU durch: nach der Flüchtlingspolitik auch eine rein opportunistische Sicht auf Europa.

Doch Merkel garantierte auch sehr pragmatisch das wirtschaftliche Fortkommen des Kontinents. Mit der Kraft der deutschen Volkswirtschaft im Rücken stabilisierte sie die Union in der globalen Finanzkrise, in der Euro-Krise, während der Zahlungsunfähigkeit Griechenlands. Sie verhinderte makroökonomische Experimente, und die Europäische Zentralbank hat auch unter italienischer Führung nicht vergessen, dass ihr Sitz in Frankfurt ist.

Abseits von schwer messbaren Größen wie Solidarität zwischen Menschen und unter Staaten kann der Sturz von Merkel daher schnell teuer werden – auch für jene, die ihn mit populistischen Motiven betrieben haben. Ein Treppenwitz dieser Geschichte: Es wären dann Wirtschaftsparteien wie die CSU und die ÖVP, die sich jener Person entledigt haben, die wie niemand anderer für das wirtschaftliche Fortkommen Europas gesorgt hat.