Christian Rainer: Das Volk hat geschieden

Eine Wahl wie ein Bürgerkrieg. Alte Lager wurden gesprengt, neue gebildet. Ein Kanzler ist gefallen.

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Als die ersten Resultate eintrafen, auf deren Basis die ersten Hochrechnungen getürmt wurden, fragte ich mich: Und was, wenn es bis Redaktionsschluss am Sonntag Abend kein Ergebnis gibt? Was, wenn die Wahlkarten entscheiden und unsere Ankündigung „38 Seiten zur Wahl“ einen Wissensstand beschreiben wird, der 24 Stunden später als Nichtwissen erkennbar ist? Mangels eines sinnvollen Ergebnisses dieses Nachdenkens für das unmittelbar notwendige Handeln setzte sich ein Gedanke fest: Was, wenn es in der Sache wenig Unterschied macht, ob Norbert Hofer oder Alexander Van der Bellen Bundespräsident wird? Was, wenn die Erkenntnis aus dem Wahlkampf gewichtiger ist als die Kenntnis von der Person jenes Herrn, der ab Juli in der Hofburg residieren wird?

Selbst wenn Norbert Hofer gewonnen hat, wenn wir ihn sechs oder zwölf Jahre lang erdulden müssen (oder wenn wir sein Tun mit Zuversicht verfolgen): Den Gesetzen der Trägheit dieses Amtes gehorchend und wider die schlummernden Möglichkeiten der Verfassung wird auch er dort eher ein schläfriges Dasein führen, sicher mit der einen oder anderen Pein nach innen gegenüber dem Staat und nach außen als Knotenpunkt im internationalen Rechtsgeflecht. Vielleicht kommt es aus dieser Trägheit heraus auch zu Komplikationen zwischen Hofer und der Freiheitlichen Partei. Entlassung der Regierung, erzwungene Neuwahlen zur Indiemachtsetzung dieser Partei, ein gesetzeskonformer Umsturz also? Eher nicht.

Falls Alexander Van der Bellen gewonnen hat, erübrigen sich derartige Bedenken ohnehin.

Ein Teil der Auflage dieser Ausgabe wird ausgeliefert sein, bevor feststeht, wer der nächste Bundespräsident ist, ein Teil Stunden danach. Meine Gedanken dazu bleiben davon aber wenig berührt: Was zu lernen war, haben wir im Wahlkampf gelernt, und was es zu wissen gibt, hat uns dieses so unerhört knappe Ergebnis gelehrt.

Zunächst dürfen wir uns noch einmal ins Gedächtnis rufen, dass wir es hier mit einer Volkswahl zu tun haben. Diese Eigentümlichkeit der österreichischen Verfasstheit, die Tatsache, dass die Österreicher einen konstitutionellen Monarchen auf Zeit wählen, geht beim Vergleich mit den Jahren 1999 und 2000 verloren. Damals hatte das Volk Parteien gewählt, es hatte die SPÖ an die erste Stelle gesetzt, gefolgt von FPÖ und ÖVP. Die Emotionen richteten sich daher auch nicht gegen jenes Volk, sondern gegen das Tun der Politiker, allen voran gegen Wolfgang Schüssel: Es war keine Entscheidung der Österreicher, die Freiheitlichen an der Regierung zu beteiligen, erst recht nicht eine Entscheidung der Österreicher, die größte Partei in die Opposition zu schicken.

Das Volk hat entschieden, das Volk hat geschieden. Das ist die zentrale Nachricht, die uns erreicht. Die Vermessungslinie, die quer durch die Republik geht, wurde verschoben.

Dieses Mal aber hat nicht der repräsentierte Bürger entschieden, sondern der Bürger als Repräsentant des demokratischen Systems. Da wäre Protest undemokratisch und Emotion lächerlich.

Das Volk hat entschieden, das Volk hat geschieden. Das ist die zentrale Nachricht, die uns erreicht. Die Vermessungslinie, die quer durch die Republik geht, wurde verschoben. Es ist keine Verschiebung in die eine oder in die andere Richtung, sodass der eine Teil größer wurde und der andere kleiner. Halbe-halbe, das ließ sich auf die Flächenanteile der bisherigen Lager Sozialdemokratie und Volkspartei projizieren. Aber diese beiden Lager, die Auffanggefäße der Nachkriegsgeschichte, wurden marginalisiert, in der Stichwahl, im Ergebnis und damit in der Hofburg sind sie nicht mehr vertreten. An ihre Stelle sind jeweils zur Hälfte zwei komplexe Gebilde getreten, die nicht wie bisher durch Geschichte, soziale Schicht, Haltung zu Ökonomie, Religion und Familie als das traditionelle Links und Rechts verortet sind.

Die beiden Kandidaten haben diese neue Teilung des Landes repräsentiert, als hätte sie Fred Zinnemann für den Director’s Cut von „High Noon“ gecastet, inklusive Showdown am Wahltag (und dann noch einer Verlängerung). Auf der einen Seite standen Norbert Hofer mit seinem Patron Heinz-Christian Strache und 50 Prozent der Wähler: Sie wollen eine radikale Veränderung des Systems und seiner Statthalter mit radikalen Mitteln. Sie wollen eine Abgrenzung zu Europa und eine Ausgrenzung aller Nichtösterreicher (mit Ausnahme jener germanischer Herkunft natürlich; das Deutschtümeln hat die Wähler aber kaltgelassen). Auf der anderen Seite Alexander Van der Bellen und die Seinen: Ihre gesellschaftspolitischen Ziele sind zum guten Teil erreicht. Von marxistischen Wirtschaftsmodellen hat man sich zugunsten eines verantwortungsbewussten Unternehmertums verabschiedet. Geträumt wird weiter von einer multikulturellen Gesellschaft, allerdings gebremst durch die Realität des gewaltbereiten und machistischen Islam. Die ehemals revolutionäre grüne Alternative wurde so zum Bewahrer von Stabilität und Status quo.

Und jetzt überqueren wir den Wiener Ballhausplatz und betreten das im Zuge dieses Wahlgangs neu besetzte Kanzleramt. Denn dort wird bis spätestens 2018 entschieden, ob sich unter einem freiheitlichen Regierungschef die Welt dann tatsächlich verändert. Oder nicht.