Leitartikel

Gernot Bauer: Amateure und Anarchisten

Sind die da oben unfähig oder wir da unten naturdeppert? Was uns Pandemie und neuerlicher Lockdown über das Verhältnis zwischen Staat und Bürger zeigen.

Drucken

Schriftgröße

Wenn die Regierenden nicht mehr weiterwissen, „so bezeichnen sie diesen Zustand ganz allgemein als eine ‚Schicksalsstunde für das Volk‘“. (Herbert Müller-Guttenbrunn, „Alphabet des anarchistischen Amateurs“). Offensichtlich wissen unsere Regierenden in der Corona-Pandemie nicht mehr weiter. Die Neuinfektionen steigen fast ungebremst. Die Krankenhäuser überfüllen sich. Das Contact-Tracing bricht zusammen. Nicht einmal das Zahlenwerk funktioniert. Und jetzt werden auch noch die PCR-Tests knapp. Die „Schicksalsstunde für das Volk“ nannte Gesundheitsminister Rudolf Anschober „Tage der Weichenstellung“. Bundesoptimist Sebastian Kurz rechnet weiterhin mit einer „deutlichen Rückkehr zur Normalität“ im ersten Halbjahr 2021. Aber vorerst sind wir wieder im verschärften  Lockdown, der langsam, aber wirklich zur neuen Normalität wird.

In Österreich wird man bekanntlich zum großen Mann, wen man etwas auffällig nicht tut. Gesundheitsminister Rudolf Anschober beweist es. Als die Zahlen schon explodierten und Experten warnten, schloss er einen zweiten Lockdown sanft, aber auffällig aus. Laut den Meinungsumfragen ist Anschober derzeit der beliebteste Regierungspolitiker. Bundeskanzler Kurz wollte früher härtere Maßnahmen. In der Gunst der Bürger hat er zuletzt verloren.

Kurz und Anschober haben unterschiedliche Vorstellungen, wie man die Bürger in der Krise zum Wohlverhalten (Maske, Abstand, Händewaschen, Daheimbleiben, Niesetikette) bringt. Kurz glaubt an Angstmache als notwendiges Mittel. Im Zweifel ist der Bürger rechtsunterworfener Untertan. Anschober glaubt an das weiche Mittel Überzeugungskraft. Der Bürger handelt voller Eigenverantwortung.

Die Lehre der vergangenen Wochen: Der autoritäre Ansatz des Kanzlers funktioniert unter Umständen. Anschobers Kuschelkurs mit dem Bürger funktioniert mit Sicherheit nicht. Man muss die Österreicher offenbar zu ihrer Gesundheit zwingen.Fußballväter, die im Rudel ihren Söhnen am Spielfeldrand ohne Maske, aber mit Bier zuschauen – und dann über gesperrte Fußballplätze und -vereine stänkern. Studenten, die im Park Partys feiern – und über geschlossene Hörsäle jammern; Paketzusteller und Handwerker, die ohne Maske vor der Wohnungstür stehen – und sehr patzig reagieren, wenn sie darauf angesprochen werden; Wirte, die sich nicht an Sperrstunden halten – und toben, weil sie wieder zusperen müssen; Eltern, die Geburtstagspartys für ihre Kleinen samt Bewirtung anderer Eltern ausrichten – und dann Petitionen für offene Schulen unterschreiben; Besucher von Kulturveranstaltungen, die nach der Vorstellung vor dem Theater gemeinsam Wein vom Würstelstand trinken; Mitbürger mit Migrationshintergrund, die auf Großhochzeiten nicht verzichten wollen; Möbelhäuser, die in der Corona-Hochphase neueröffnen oder Kunden mit Sonderangeboten locken; Christen, die in Kirchen singen.

Die Motive für das Fehlverhalten sind unterschiedlich: Der eine ist ein Naturdepperter, der andere hält die Einsamkeit nicht aus; der eine will nicht anders, der andere kann nicht; der eine weiß es nicht besser, der andere schon, pfeift aber drauf. Das Ergebnis bleibt stets dasselbe: mehr Schwerkranke, mehr Tote.

Leidtragende sind Kinder und Jugendliche, die keinen vereinsmäßigen Sport mehr betreiben können; Gastronomen und Hoteliers, die alle Regeln befolgt haben; Kulturveranstalter, die aufwendige Hygienekonzepte erstellten; berufstätige Eltern, die nicht wissen, wie sie die neuerliche Sperre der Schulen bewältigen sollen; Gläubige, die in Ruhe beten wollen; Unternehmer, die pleitegehen; Beschäftigte, die arbeitslos werden.

Die Wissenschaft spricht von Adhärenz. Sie beschreibt das Ausmaß, mit dem sich Patienten (die Österreicher) an die Empfehlungen der Ärzte (der Regierung) halten. Die Adhärenz in Österreich ist mittlerweile so schlecht, dass die Wirkung von Maßnahmen gegen die Pandemie kaum mehr berechnet, geschweige denn prognostiziert werden kann. Verbote sind derzeit zum Übertreten da. (Dass fast alle coronapositiven Promis öffentlich behaupten, nur milde Symptome zu haben, verharmlost die Krankheit und reduziert das Problembewusstsein zusätzlich.)

Wenn teils amateurhaftes Krisenmanagement der Politik (Warum wartet man in Wien tagelang auf Testergebnisse? Wieso funktioniert das Epidemiologische Meldesystem des Bundes nicht einwandfrei?) auf anarchische Stimmungen in weiten Teilen der Bevölkerung trifft, drohen Störungen im Staatsbetrieb. Bei schweren Störungen werden Systeme heruntergefahren. Die Hauptschuld am Lockdown tragen wir Bürger.
Der Österreicher ist dem Virus ein guter Wirt.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.