Leitartikel

Martin Staudinger: Die Angst vor dem 3. November

Nichts wäre schlimmer als ein Sieg von Donald Trump. Außer vielleicht eine Niederlage.

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Acht Wochen vor der Wahl in den Vereinigten Staaten drohen zwei Schreckensszenarien. Das erste lautet: Donald Trump gewinnt. Das zweite: Donald Trump verliert.


Tritt am 3. November Szenario Nummer eins ein, dann steht den USA und der Welt eine zweite Amtszeit bevor, die das Potenzial hat, noch verrückter zu verlaufen als die erste: Immerhin muss Trump dann keinen Gedanken mehr an eine Wiederwahl verschwenden (es sei denn, erhofft, 2024 jemanden aus seinem Clan ins Weiße Haus zu befördern). Zwar hat sich mittlerweile aufgrund von Umfragen die frohgemute Zuversicht durchgesetzt, dass der demokratische Kandidat Joe Biden das Rennen machen wird (was folgerichtig zu Szenario Nummer zwei führen würde, aber dazu später). Kategorisch abschreiben sollte man Trump jedoch keineswegs. Immerhin deutet einiges darauf hin, dass seine Propaganda bei relevanten Wählerschichten besser verfängt, als die Empörung darüber wahrhaben will. Und er verfügt über eine solide Anhängerschaft,die sich–wie etwa ein Dokumentarfilm der Regisseurin Susanne Brandstätter illustriert – ganz bewusst wieder für ihn entscheiden wird.


Was aber, wenn Trump verlieren sollte? Zumal wenn die Entscheidung extrem knapp ausfällt? Dafür hat er bereits vorgebaut: Etwa indem er skrupellos Zweifel an der korrekten Ermittlung der Ergebnisse schürt. Besonders wüst attackiert er die Briefwahl, die vor allem bei
demokratischen Parteigängern populär ist.Für seine Behauptung, das System sei wie gemacht für Manipulationen, gibt es zwar keinen Beweis – dafür aber guten Grund für die Sorge, dass die US-Post aufgrund massiver Einsparungen Schwierigkeiten haben könnte,Millionen von Wahlkarten fristgerecht zur Auszählung anzuliefern.


„Ich werde nicht einfach ja sagen“, ließ Trump in einem Interview ostentativ offen, ob er den Wahlausgang akzeptieren wird. Dass er gegen ein unliebsames Ergebnis mit allen juristischen Mitteln vorgehen wird, gilt als fix. Es ist also nicht bloß Angstlust, wenn Juristen die US-Gesetzgebung nach Schlupflöchern durchforsten, die es möglich machen würden, dass Trump im Weißen Haus bleibt, obwohl er eigentlich verloren hat – oder weil ein klares Ergebnis aufgrund von Einsprüchen und Auszählungsproblemen auf sich warten lässt. Keine Sorge,hier beginnt kein Proseminar über Feinheiten des amerikanischen Rechtssystems, nur so viel: Der zwölfte Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung regelt den Fall, dass keiner der Anwärter eine absolute Mehrheit bekommt. Seine Anwendung könnte kurz gesagt dazu
führen, dass der nächste Präsident ermittelt wird, indem sich jeder Bundesstaat gemäß seinem Wahlergebnis für einen der Kandidaten entscheidet. Das große, verlässlich demokratische Kalifornien mit seinen 40 Millionen Einwohnern hätte dann genauso viel zu sagen wie das kleine,überzeugt republikanische Nebraska mit seinen knapp zwei Millionen. Und das dürfte Trump begünstigen, weil es in Summe mehr republikanischwählende Bundesstaaten gibt als demokratische.

 

"Auch wenn es absurd klingt: Derzeit kann man sich also mit Fug und Recht genauso davor fürchten, dass Donald Trump die US-Wahl gewinnt wie davor, dass er sie verliert."


Ein zweites Szenario blickt noch weiter in die Zukunft. Es sieht Donald Trump zwar nicht mehr an der Regierung, aber die USA komplett im Chaos: Das würde passieren, wenn bis zum 20. Jänner, dem Tag der Inauguration, aufgrund bereits erwähnter Einsprüche oder Auszählungsprobleme weder ein legitimer Nachfolger ermittelt werden kann, noch ein Sprecher des Repräsentantenhauses, der dann laut Verfassung die Führung interimistisch übernehmen müsste. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, welche beispiellose Krise das auslösen würde – zumal vor dem Hintergrund gewalttätiger Unruhen, die im Fall einer von Trump nicht anerkannten Niederlage alles andere als ausgeschlossen sind.


Auch wenn es absurd klingt: Derzeit kann man sich also mit Fug und Recht genauso davor fürchten, dass Donald Trump die US-Wahl gewinnt wie davor, dass er sie verliert. Aber Moment: Da ist immer noch die Resilienz der US-Demokratie.


Sie hat die vergangenen dreieinhalb Jahre weitaus besser überstanden als zu befürchten war. Nicht zuletzt, weil ihre Grundsätze über die Parteigrenzen hinaus sakrosankt sind. Als Trump jüngst die Idee ventilierte, die Wahl doch einfach zu verschieben, kam eine der schärfsten Absagen aus der eigenen Fraktion. „Das hat es noch nie in der Geschichte dieses Landes gegeben, ob in Kriegen, der Großen Depression oder im Bürgerkrieg“, fuhr ihm sein Parteifreund Mitch McConnell, Vorsitzender des Senats, in die Parade.

Welchen Schaden das politische System der USA bei einer weiteren Amtszeit Trumps nehmen würde, ist jedoch fraglich. Daher dämmert es inzwischen auch vielen republikanischen Politikern und Wählern, dass der eigentliche Worst Case wohl Szenario eins ist (Trump gewinnt). Und Worst-Case-Szenarien haben erfahrungsgemäß eine positive Wirkung: Der Schrecken, den sie verbreiten, führt zum Bestreben, ihr Eintreten zu verhindern – und tut das häufig auch.Vielleicht sogar am 3.November.