Leitartikel von Sven Gächter

Sven Gächter Verstörungstheoretiker

Verstörungstheoretiker

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Es war ein später öffentlich-rechtlicher Triumph – „eine Sache, die so noch nie stattgefunden hat“, wie Ingrid Thurnher mit der ihr eigenen rhetorischen Brillanz klarstellte. Wolfgang Schüssel und Susanne Riess-Passer, erstmals traut vereint im Nachrichtenstudio: Die „ZiB 2“ lud am 4. Februar 2010 zur Weltexklusivpremiere, und eine lähmende Viertelstunde lang schien es, als habe das Murmeltier das Grüßen noch immer nicht verlernt. Auf den Tag genau zehn Jahre nach der Angelobung der schwarz-blauen Koali­tion durften die damaligen Regierungschefs von ÖVP und FPÖ Schönfärberei im Duett betreiben. Der Ex-Kanzler wähnte sich offenbar nach wie vor im Wahlkampf – anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, dass er es für geboten ­erachtete, langatmig über Ambulanzgebühren und andere tagespolitische Peanuts von vorgestern zu referieren. Tatsächlich verhinderte er damit, taktisch ausgefuchst, ein Entgleiten der Diskussion ins Prinzipielle, was Ingrid Thurnher ihm auch jovial durchgehen ließ, weiß sie doch um die verschärfte Rutschgefahr auf der Metaebene.
Am Vorabend hatten die früheren FP-Minister Karl-Heinz Grasser und Herbert Scheibner im „Club 2“ postum gute Stimmung für Schwarz-Blau zu verbreiten versucht, ­allerdings ohne nennenswerten Erfolg, denn sie waren, im Gegensatz zu Schüssel und Riess-Passer, mit massivem links-renitentem Widerstand auf der Couch vis-à-vis konfrontiert. Die Debatte erreichte streckenweise die Dezibelwerte eines crashenden Flugzeugs und hinterließ wie dieses am Ende nur Rauchgas und Trümmer.

Eine rationale Auseinandersetzung mit den Ereignissen zwischen 1999 und 2006 fällt schon deshalb schwer, weil zu wenig Zeit für Wundheilung verstrichen ist und alle Beteiligten sich nach Kräften mühen, alte Wunden aufzureißen, sobald auch nur die flüchtigsten Vernarbungsansätze drohen. Die Arroganz und Starrsinnigkeit jedoch, mit der das führende Wendepersonal von damals die jüngere Politikgeschichte Österreichs klittert, trägt nahezu verschwörerische Züge – einschließlich der konzertierten Bestrebungen, die Verschwörungstheoretiker hartnäckig ins gegnerische Lager ­abzuschieben.
Herbert Scheibner führt die so genannten EU-Sanktionen ­allen Ernstes auf ein pansozialistisches Komplott zurück (wofür der konservative französische Ex-Präsident Jacques Chirac ihn verklagen sollte); Wolfgang Schüssel preist KHG bis heute ohne jeden erkennbaren Anflug von Ironie als besten Finanzminister der Zweiten Republik; und wenn Grasser selbst die Nulldefizit-Nummer zum Besten gibt, tut er dies offenbar im frommen Glauben, auch in diesem Fall gelte die Unschuldsvermutung.
Die Kommentatoren, die schon vor zehn Jahren mit ­moderater Betulichkeit eine Dehysterisierung forderten, können sich heute noch so wacker an der „sachpolitischen“ Agenda der zwei Schüssel-Kabinette abarbeiten – sie werden keine einzige „Reform“ namhaft machen, die einer nüchternen Bewertung im Hinblick auf Konsistenz und Nachhaltigkeit ernsthaft standhält.

Die formale Bilanz der schwarz-blau-orangen Ära mag deshalb bestenfalls umstritten sein, das atmosphärische Erbe dagegen ist unstreitbar verheerend. Die Aufregung der ersten Monate des Jahres 2000 wurde nachträglich gern als überzogen dargestellt, in Wahrheit war sie berechtigt – und sie bleibt es bis heute. Der Pakt zwischen Schüssel und Haider markierte nicht etwa, wie Schüssel unermüdlich behauptet, einen Aufbruch hin zu demokratiepolitischer Normalität, er beendete vielmehr abrupt jenen schmerzhaften Aufklärungsprozess, dem Österreich sich – spät genug – nach der Waldheim-Affäre gestellt hatte. Die Vergangenheitsbewältigung wurde in Restitutionsverfahren ausgelagert, und der auf diese Weise amtlich entsorgte Postfaschismus konnte ungestört zu einem zeitgemäßen Rechtspopulismus mutieren, der die Politik und vor allem die Stimmung des Landes anno 2010 fest im Griff hat.
Die Schüssel-Mär von der Zähmung der Rechten wird bei jeder Wahl dröhnend ad absurdum geführt, und der verhängnisvolle Denkfehler, wonach eine Partei nur hinreichend viele Wähler nachweisen müsse, um sich für Regierungsweihen zu legitimieren, gilt in weiten Kreisen mittlerweile als unwidersprochene Staatsräson.
Schwarz-Blau hat die Republik vielleicht weniger verändert, als es sich die damaligen Protagonisten erhofften – tatsächlich aber viel dramatischer erschüttert, als viele bis heute wahrhaben wollen. Die Wende war mit Schüssels Abwahl 2006 keineswegs zu Ende, sie fand unter nunmehr wieder rot-schwarzer Ägide eine durchaus konsequente Fortsetzung. Die „Normalität“, die vor zehn Jahren zur Beschwichtigung der erhitzten Gemüter gern beschworen wurde, ist endgültig eingetreten. Erfolgsgeschichten sehen anders aus, selbst im verklärenden Rückblick.

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Sven   Gächter

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