Ein letzter Tanz

100 Jahre Erster Weltkrieg: Ein letzter Tanz

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg: 1.-7. Juni 1914

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Im Theater an der Wien tritt die göttliche Anna Pawlowa auf, die berühmteste Tänzerin der Welt. Die Kritiken sind hymnisch: „Ihr geschmeidiger Körper, ihre wunderbare Fußspitzentechnik, ihr ausdrucksvolles Gesicht und ihre dramatische Darstellungskunst trugen der Künstlerin stürmische Ovationen ein“, schreibt „Die neue Zeitung“. Die Pawlowa (1881–1931) stammt aus Petersburg, ihre Berühmtheit verdankt sie vor allem der Darstellung des „Sterbenden Schwans“ zur Musik eines Cello-Solos aus dem „Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saëns. Kurz nach ihrem Gastspiel in Wien ist die Primaballerina in einen hässlichen Skandal verwickelt. Sie zieht mit ihrem aus Russland geflohenen Gönner Victor Dandré nach London. Der Geschäftsmann steht im Verdacht, in Petersburg Regierungsgelder veruntreut zu haben.

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Im äußersten Osten der Monarchie, im galizischen Przemyśl, hat sich eine furchtbare Bluttat ereignet. Der 54-jährige Fleischlieferant Markus Fuß, seine Frau und drei seiner Kinder sowie das 18-jährige Dienstmädchen wurden mit Eisenstangen erschlagen. Drei weitere Kinder überlebten, weil sie sich unter einem Bett versteckt hatten. Als Täter wurden nur Stunden später zwei in der Stadt stationierte Soldaten festgenommen. Sie hatten vermutet, der Armeelieferant habe am Tag der Tat sein Geld für die letzte Lieferung erhalten. Die Zahlung war aber ausgeblieben. Ihre Beute: zwei Kronen.

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Die Regierung hatte im März den Reichsrat aufgelöst und regiert daher mit Verordnungen. In der ersten Juni-Woche erlässt sie eine „Gerichtsentlastungsverordnung“, mit der die Abläufe der Justiz vereinfacht werden sollen. Grund der Maßnahme: Die Verfahren dauern zu lange.

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Am 4. Juni ist Thronfolger Franz Ferdinand zum ersten Mal seit der Genesung des Kaisers zur Audienz in Schönbrunn. Das unterkühlte Verhältnis zwischen ihm und seinem kaiserlichen Onkel lassen es Franz Ferdinand ratsam erscheinen, diesen davon in Kenntnis zu setzen, dass er auf die Reise zu den Manövern in Bosnien seine Gattin Sophie mitnehmen werde. Sophie ist bloß eine gebürtige Gräfin Chotek und angesichts der Anfeindungen bei Hofe ist es nicht selbstverständlich, sie als Quasi-Thronfolgerin in Sarajevo zu präsentieren. Franz Joseph ist, vielleicht durch seine Rekonvaleszenz bedingt, gnädig. Franz Ferdinand darf Sophie mitnehmen.

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Am Tag nach Franz Ferdinands Audienz in Schönbrunn spricht am 5. Juni der serbische Gesandte in Wien, Jovan Jovanović, bei Finanzminister Leon (Ritter) von Biliński vor.
Biliński, 68, ist in seiner zweiten Funktion Gouverneur des 1908 annektierten Bosnien. Und darum geht es dem Besucher: Die königlich-serbische Regierung sei besorgt über den am 28. Juni bevorstehenden Besuch des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo, sagt Jovanović. Die von Franz Ferdinand besuchten Manöver fänden ausgerechnet am serbischen Nationalfeiertag statt und niemand könne ausschließen, dass nicht ein fehlgeleiteter Gardist der k. u. k. Armee scharfe Munition statt Platzpatronen in sein Gewehr lade. Biliński reagiert pikiert: Will der Serbe unterstellen, der Thronfolger genieße nicht die Liebe seiner Soldaten? Er danke aber für die Vorsprache und werde der Mitteilung jene Aufmerksamkeit schenken, die sie verdiene.
Ritter von Biliński beschließt, gar nichts zu tun. Denn sollte sich dieses „Gewäsch“ herumsprechen, würde sich wieder nur der Militärstatthalter in Bosnien, General Oskar Potiorek, wichtigmachen – und der ist schließlich Bilińskis Erzfeind.

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Jovanović hat dem Minister nicht die ganze Wahrheit gesagt. Er hat ihm verschwiegen, dass Belgrad Informationen zugegangen waren, wonach in der Woche davor drei bewaffnete Jugendliche über die Drina von Serbien nach Bosnien gebracht wurden, wohl unter Mithilfe des Militärgeheimdienstes. Mehr hat die Regierung des Ministerpräsidenten Pašić nicht herausgebracht; sie liegt gerade in schwerem Streit mit der Armee über die Geschäftsgebarung des Offiziers-Uniformierungsvereins.

Noch acht Wochen bis zum Krieg.

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