Die Suche nach Ilse Schey

Zeitgeschichte. 1938 wurden zwei Schulfreundinnen getrennt - eine Spurensuche

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Von Maria Steiner

Im November 2012 erhielt die Wiener AHS-Direktorin Ilse Rollett Post aus Kalifornien. Absenderin war eine Frau Edith Ehrenreich mit Wohnsitz in Los Angeles. Die ehemalige Schülerin, Jahrgang 1927, war zufällig auf der Homepage des Kreisky-Archivs auf Unterlagen über das Gymnasium in der Rahlgasse gestoßen. Im Schuljahr 1937/38 hatte sie das Gymnasium in der Rahlgasse in Wien Mariahilf besucht, ehe sie im März 1938 wegen ihrer jüdischen Abstammung von der Schule verwiesen worden war. Überrascht, dass ihre ehemalige Schule überhaupt noch existierte, hegte sie die Hoffnung, in den Schulunterlagen etwas über ihre Mitschülerin und Kindheitsfreundin Ilse Schey in Erfahrung zu bringen, die sie nach ihrer Flucht ins Ausland aus den Augen verloren hatte.

Direktorin Rollett wandte sich mit dem Brief an das Kreisky-Archiv, das anlässlich der 120-Jahr-Feier der Rahlgasse ein Online-Projekt zur Geschichte der Mädchenbildung durchgeführt hatte. Auf der Suche nach Ilse Schey wurde zuerst der Schulkatalog des Jahres 1937/38 gesichtet. Die Klasse 1b hatte aus 40 Schülerinnen bestanden. Bei neun von ihnen war ein kleiner handschriftlicher Vermerk hinzugefügt: „Abgemeldet mit 2. Juli 1938“. Der Grund: „Glaubensbekenntnis: mosaisch“. So auch bei Edith Ehrenreich, geborene Ehrenthal, und bei Ilse Schey. Was war aus Ilse Schey geworden? War sie ebenfalls emigriert? Hatte sie den Krieg überlebt, und wenn ja, wo?

„Adolph Lehmann’s Adress-Anzeiger“, der Vorläufer von Wiens Telefonbuch, listet sämtliche Hauptmieter der Stadt alphabetisch auf. Demnach hatte die Familie Schey nach dem „Anschluss“ offenbar noch einige Jahre in ihrer Wohnung gelebt. Bis 1939 war Ilses Vater als Mieter eingetragen: „Schey Richard., Priv. Bmt., Rechte Wienzeile 85“. 1940 und 1941 ist die Mutter angeführt: „Schey, Luise, Private“. Danach verliert sich die Spur der Familie Schey im „Lehmann“. Was war passiert?

Es gibt im Internet zahllose Datenbanken zu Holocaustopfern und -überlebenden: Im Netz finden sich Listen mit Geburts- und Heiratsnamen, Adressen, Berufen, Verhaftungs- und Deportationsdaten. Zu Ilse Schey gab es keinen Treffer, weder bei den Überlebenden noch bei den Ermordeten.
Eine Anfrage bei der Israelitischen Kultusgemeinde brachte einen entscheidenden Hinweis: „Die gesamte Familie Schey trat zwischen 1938 und 1940 aus dem Judentum aus, Adr. V.; Rechte Wienzeile 85/7: Mutter Aloisia am 27.06.1938, Vater Richard am 15.11.1939, Ilse am 22.01.1940. Sie finden sie alle im interkonfessionellen Teil des Zentralfriedhofs, gest. 1948 – 1955 – 1985 – hier ist nichts Weiteres bekannt.“

Offenbar hatte die Familie Schey also die Kriegsjahre in Wien verbracht und war eines „natürlichen“ Todes in Friedenszeiten gestorben.

Begraben am Zentralfriedhof also. Die Online-Datenbank der Wiener Friedhöfe vermerkt: „Vorname: Ilse, Nachname: Schey, Geburtsdatum 28.05.1927, Lebensalter: 21, Bestattungsdatum: 18.09.1948, Wiener Zentralfriedhof, Gruppe 4, Reihe 6, Nummer 76, Grabnutzungsrecht bis 01.07.1995. Weiters in diesem Grab bestattet: Schey Aloisia, Lebensalter: 83. Schey Richard, Lebensalter: 56.“

Da war sie also, die gesuchte Ilse Schey. Das Geburtsdatum stimmte. Sie war schon drei Jahre nach Kriegsende verstorben, ihre Mutter hatte sie um fast vier Jahrzehnte überlebt.

„Nie hätte ich gedacht, dass ich nach 73 Jahren wieder einen Brief in Deutsch schreiben würde“, schrieb Frau Ehrenreich aus Los Angeles im Februar 2013 an das Kreisky-Archiv, nachdem sie diese Informationen erhalten hatte. „Mein letzter deutscher Brief war an meine Jugendfreundin Ilse Schey gerichtet. Ich schrieb ihn im Mai 1940 von Los Angeles zur Gelegenheit ihres Geburtstags. Ich habe niemals eine Antwort von ihr bekommen. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Bemühungen, nach ihr zu suchen. Wie ein solch blühendes Mädchen im Alter von 21 Jahren ihr Leben verloren hat, ist mir ein Rätsel.“

Dem Brief waren ihr Schülerausweis, ein Klassenfoto und ein Foto von Ilse Schey beigefügt.

Die Mädchen kannten einander von klein auf, sie gingen miteinander in die Volksschule und wohnten in schräg gegenüberliegenden Häusern Ecke Wienzeile/Pilgramgasse. Aus den Fenstern ihrer Zimmer hatten sie einander immer zugewunken. Beide Häuser haben den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden und sich den Charme der Wiener Gründerzeitbauten erhalten.

Das Bonbongeschäft im Erdgeschoß von Ediths Wohnhaus in der Pilgramgasse 24 gibt es noch heute. „Ildefonso und Mannerschnitten waren die größten Begierden in meiner Kindheit“, erinnert sich Frau Ehrenreich. Von den politischen Umwälzungen der Ersten Republik hatten die beiden Mädchen nicht viel mitbekommen. Erst im Alter von etwa sieben Jahren wurde ihnen unmissverständlich klargemacht, dass sie als Jüdinnen einer ungeliebten Minderheit angehörten. Unter Bundeskanzler Schuschnigg war 1935 das morgendliche Schulgebet eingeführt worden. „Wieso betet ihr nicht mit?“, fragten ihre Mitschülerinnen. Bald darauf wurden Edith und Ilse als „Christusmörderinnen“ beschimpft. Das Gefühl des Ausgegrenztseins verstärkte die Freundschaft der beiden Mädchen. Am Ende der vierten Klasse Volksschule wurden sie für „gymnasiumsreif“ befunden. Für die beiden Freundinnen war das Wichtigste, wieder gemeinsam in eine Klasse zu kommen. Im Herbst 1937 war es so weit.

Am 12. März 1938, zwei Wochen vor Ediths elften Geburtstag, marschierte die deutsche Wehrmacht in Wien ein. Am Montag, dem 14. März 1938, machte sich Edith gemeinsam mit Ilse wie gewohnt auf den Weg in die Rahlgasse. Im Foyer der Schule empfing sie ein großes Packpapier mit Hakenkreuz und der Aufschrift „Juden und Sauhunde = Eintritt verboten“. Die beiden Mädchen rannten nach Hause. Edith wurde nun eine Zeitlang gar nicht unterrichtet, später kam sie in eine „Judenschule“. Im Mai 1938 wurde ihr Vater von einem SS-Mann auf offener Straße mit dem Motorrad niedergefahren und schwer verletzt, kurz darauf verlor er seine Tätigkeit als Kantor in der Wiener Synagoge. Drei Monate später wurde ihm die Wohnung in der Pilgramgasse gekündigt. Vorübergehend kam die Familie bei jüdischen Freunden unter. Sie warteten auf ihre Ausreisepapiere. Im September 1939 konnten sie endlich über Holland in die USA fliehen.
Doch was war in der Zwischenzeit aus der Familie Schey geworden? „Nur Ilses Vater war Jude, ihre Mutter war Arierin“, schrieb Frau Ehrenreich im März 2013 nach Wien. Tatsächlich war Ilses römisch-katholische Mutter Aloisia Vrbicky erst anlässlich ihrer Heirat mit Richard Schey zum Judentum übergetreten. Dadurch konnte sie ihre Familie nach dem „Anschluss“ vorerst einmal schützen. Laut den Meldeunterlagen der zuständigen Magistratsbehörde war Ilses Vater Richard Schey „durchgängig in Wien gemeldet, nur vom 2.10.1939 bis 6.11.1939 war er in Kaprun zum Arbeitsdienst. Bei seiner Rückkunft war er bei seiner Frau als Untermieter gemeldet, sie war die Hauptmieterin. Üblich war es ja sonst umgekehrt. Am 1.8.1942 sind sie dann nach Wien 2, Glockengasse 8a, gezogen, von dort am 1.5.1945 nach Wien 8, Josefstädterstraße 75/77, dann am 27.9.1945 nach Wien 8, Lerchenfelderstraße 124/I/III/19. Dort waren sie auch zum Todeszeitpunkt der Tochter.“

Ilses Mutter hatte sich also als Hauptmieterin in der Rechten Wienzeile eintragen lassen, denn als „Arierin“ konnte man ihr die Wohnung nicht so einfach kündigen. Im Sommer 1942 konnte Aloisia Schey die Kündigung ihrer Wohnung jedoch nicht mehr abwenden. Ihr wurde eine Wohnung im ehemaligen jüdischen Ghetto im zweiten Bezirk zugewiesen. Ilse musste ihre Schulausbildung abbrechen. Ab Jänner 1940 wurden ihre Lebensmittelmarken mit einem „J“ gestempelt, ab 15. September 1941 war sie zum Tragen des Judensterns verpflichtet. Sie wurde als Zwangsarbeiterin eingesetzt, wie aus dem Opferfürsorgeantrag hervorgeht, den Richard Schey zwei Jahre nach Kriegsende für seine Tochter gestellt hatte. In diesem wurde ihr Gesundheitszustand als „schlecht“ bezeichnet. Ein Jahr später, 1948, starb Ilse Schey an „Atemlähmung in Folge von Kinderlähmung“ – einer Infektionskrankheit, die im Nachkriegs-Wien wütete und gegen die es noch keine Impfung gab.

Ilses Eltern ließen die Unterschrift ihrer Tochter auf den Grabstein am Wiener Zentralfriedhof gravieren. Anhand der Fotos des Grabsteins erkannte Frau Ehrenreich sofort, dass es sich dabei um die Handschrift ihrer Freundin handelte. In einem Brief an das Kreisky-Archiv schreibt sie: „Mit Ihrer letzten Nachforschung bezüglich meiner Jugendfreundin Ilse Schey haben Sie eine schwere Last von meinen Schultern genommen. Sie können sich nicht vorstellen, wie es mich erleichtert hat, dass meine damalige Freundin nicht in einem KZ ihr Leben verloren hat. Ich denke, jetzt können wir den Fall Ilse Schey zur Ruhe legen.“