Generation 1914

Generation 1914: Das schwere Los der Kinder des Ersten Weltkrieges

Schicksale. Das schwere Los der Kinder des Ersten Weltkrieges

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Was haben der Schauspieler Alec Guinness, der Regisseur George Tabori, der Zoologe Otto Koenig und die Mimin Lilli Palmer gemeinsam? Sie alle sind Jahrgang 1914 - und sie alle haben das Erwachsenenalter erreicht.

Das ist in dieser Generation nicht nur in Österreich keineswegs selbstverständlich: Wer zu Beginn oder während des Ersten Weltkrieges in Europa geboren wurde, hatte große Chancen, das 30. Lebensjahr nicht zu erreichen - in vielen Fällen nicht einmal das erste.

In Österreich etwa starben vor 100 Jahren 160 von je 1000 Säuglingen bei oder bald nach der Geburt, bei unehelich Geborenen war die Säuglingssterblichkeit fast doppelt so hoch (heute sterben drei von je 1000 Babys). Tausende Kinder fielen während der Kriegsjahre inzwischen problemlos heilbaren Infektionskrankheiten wie Masern und Scharlach zum Opfer. Die Spanische Grippe raffte ab 1917 weltweit mehr als 25 Millionen geschwächte Menschen dahin.

Erste Hungerkrawalle
Im von Flüchtlingen überfluteten Wien war die Lage besonders schlimm. Schon zwei Monate nach Kriegsbeginn war die Hälfte der Schulen zu Hilfsspitälern für verwundete Soldaten umgebaut worden. Die Preise für Gemüse und Brot stiegen im Herbst 1914 sprunghaft an, weil die ungarische Reichshälfte ihre Lieferungen weitgehend einstellte. Ab 1916 gab es erste Hungerkrawalle, das Gros der Bevölkerung hatte zu wenig zu essen. Viele Kinder waren sich selbst überlassen, weil die Väter an der Front waren und die Mütter arbeiteten. Gegen Kriegsende waren 80 Prozent der Kinder unterernährt.

Den meisten von ihnen prägten sich die traumatischen Ereignisse der Kriegs- und Nachkriegsjahre für immer ein.

Schreckenstaten
Erst mehr als zehn Jahre nach Kriegsende waren viele Soldaten des Ersten Weltkrieges in der Lage, über das Grauen zu sprechen. Die sozialdemokratische Boulevardzeitung "Kleines Blatt“ rief 1930 dazu auf, Kriegserlebnisse einzuschicken. Hunderte Kriegsteilnehmer sandten ihre schockierenden Beiträge an die Redaktion in der Rechten Wienzeile: Sie erzählten von Kameraden, die neben ihnen im Schützengraben zerfetzt wurden, über Schreckenstaten gegen Zivilisten im Hinterland, über sadistische Offiziere, die ihnen anvertraute Männer kaltblütig in den Tod hetzten.

Der damals 16-jährige Albrecht Kollmann - geboren nach Ausbruch des Krieges - war von den Schilderungen tief bewegt. Er schnitt jeden Tag die entsprechenden Berichte aus dem "Kleinen Blatt“ aus und klebte sie in ein von ihm selbst gebasteltes Buch, das er mit einem roten Einband versah und auf den er den Titel seiner Sammlung schrieb: "Ein Volk klagt an“.

Das inzwischen stark vergilbte Buch ist das Einzige, was von Albrecht Kollmann geblieben ist: Ihn, der als Heranwachsender die Gräuel des Ersten Weltkrieges so penibel dokumentiert hatte, fraß wie so viele junge Männer der "Generation ’14“ der zweite große Krieg des 20. Jahrhunderts. Bei dessen Ausbruch waren sie gerade 25 Jahre alt - das richtige Alter für Kanonenfutter.

Albrecht Kollmann gehörte nicht zu jenen Kindern, die bei Kriegsende 1918 nur dadurch vor dem Hungertod bewahrt werden konnten, indem sie ihre meist verwitweten Mütter zur Adoption in die Schweiz oder nach Holland freigaben.

Er wuchs in der Herbeckstraße in Wien-Währing auf. Der Vater war Ingenieur, die Mutter Hausfrau, es gab noch eine jüngere Schwester. Albrecht war ein begabter Musiker, dennoch studierte er Latein und Altgriechisch für das Lehramt. Das Studium bewahrte ihn davor, bereits im September 1939 in Hitlers Wehrmacht eingezogen zu werden. Aber genau ein Jahr nach Kriegsbeginn war es dann so weit: Nach der Grundausbildung in Belgien wurde Albrecht Kollmann einer in Serbien operierenden Einheit zugewiesen. Stationierungsort: eine Kleinstadt namens Zajecar, von der aus seine Kompanie Tito-Partisanen bekämpfen sollte. Die Zivilbevölkerung durfte den Ort nicht verlassen; Männer mussten im Haus bleiben, die Arbeit auf den Feldern musste von den Frauen erledigt werden. Bewohner, die man außerhalb der Ortsgrenze antraf, wurden erschossen.

Albrecht Kollmann, der leidlich serbokroatisch sprach, fungierte als Dolmetscher - so wie einige hundert Kilometer weiter südlich, in Saloniki, ein Leutnant namens Kurt Waldheim. Der Kriegsgegner Kollmann hatte allerdings keine Sympathien für jenes Heer, dem er dienen sollte. Immer öfter übersetzte er falsch, um die Festgenommenen vor der Hinrichtung zu bewahren, oder er gab ihnen in ihrer Landessprache sogar Tipps, wie sie sich rechtfertigen sollten.

"Himmelfahrtskommanden"
Nach etwa einem Jahr kam ihm die "Geheime Feldpolizei“, eine Art Gestapo der Wehrmacht, auf die Spur. Der Kommandant seiner Einheit - im Zivilberuf ebenfalls Gymnasiallehrer - konnte ihn in letzter Minute durch einen Marschbefehl an die Ostfront vor dem Kriegsgericht bewahren. Er landete im Jänner 1942 bei einer Einheit nahe Jaroslawl.

Sein neuer Kompaniekommandant wusste allerdings über den Grund für die hastige Versetzung Bescheid. Albrecht Kollmann wurde deshalb von Beginn an bei "Himmelfahrtskommanden“ eingesetzt - meist als Aufklärer, der vor den Truppen das Gelände zu sondieren hatte. In den baumlosen Weiten der russischen Ebene war dies einer der gefährlichsten Einsätze.

Im Juni 1942 war Kollmann wieder einmal als Aufklärer unterwegs, robbte einen Hügel hoch und stand plötzlich einem ebenso verdatterten Rotarmisten gegenüber. Wortlos schüttelten sie einander die Hände und schlichen zu ihrer Einheit zurück. Allerdings hatte Kollmanns Kompaniekommandant den Vorfall mit seinem Feldstecher beobachtet. Erschießen wollte er den Soldaten nicht - er hatte sich etwas weit Infameres ausgedacht.

Noch am selben Abend zwang der Kompaniechef Albrecht Kollmann mit vorgehaltener Pistole, sich auf ein nicht gereinigtes Feldbett zu legen, in dem gerade ein Kamerad an dem hochansteckenden Flecktyphus gestorben war.

Eine Woche später war auch Kollmann tot. Er wurde an einem unbekannten Ort verscharrt. Seine Familie erfuhr erst nach Kriegsende von seinen Kameraden, wie er wirklich zugrunde gegangen war.

"Generation ’14"
Wenige Wochen nach dem Tod ihres Bruders brachte Kollmanns Schwester einen Sohn zu Welt. Sie gab ihm in Erinnerung an den Verstorbenen den Vornamen Albrecht. Der Vater des Säuglings hieß Karl Konecny, auch er war einer der "Generation ’14“ und auch er sollte nie aus dem Krieg zurückkehren. Ihm zu Ehren nahm der 1942 geborene Albrecht Konecny später den Mittelnamen Karl an. In den 1980er-Jahren wurde Albrecht K. Konecny, wie er sich nun nannte, Abgeordneter zum Nationalrat (SPÖ) und danach Vorsitzender des Bundesrats.

Von seinem Onkel Albrecht ist ihm nur das Buch mit dem roten Einband geblieben. Albrecht Kollmanns Vater, der Ingenieur, wurde noch in den letzten Kriegswochen zum Befestigungsbau nach Sylt eingezogen, obwohl er bereits jenseits der 60 war. Er kam nach Kriegsende todkrank zurück und starb wenig später.

Die Tragik der während des Ersten Weltkrieges in Österreich geborenen Kinder macht auch die Bevölkerungsstatistik deutlich: Im Jahr 1950 gab es nur 20.000 Männer im Alter von 35 Jahren. Heute sind es dreimal so viele.

Albrecht Kollmann durfte nur 27 werden.

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