„Schattenseiten der menschlichen Natur“

Heinz Fischer: „Schattenseiten der menschlichen Natur“

Interview. Heinz Fischer über den so lang nicht bewältigten März 1938

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Interview: Herbert Lackner

profil: Herr Bundespräsident, Sie halten am Dienstag, dem 75. Jahrestag des Einmarsches der Hitler-Truppen, eine Rede. Vorweg: War Österreich 1938 ein Opfer, wie es die späteren Siegermächte in der Moskauer Deklaration festgeschrieben haben?
Fischer: Der Staat Österreich war zweifellos ein Opfer der militärischen Aktion Deutschlands. Sehr viele Menschen in Österreich empfingen Hitler begeistert, leisteten einen unübersehbaren Beitrag dazu, dass diese militärische Aktion zustande kam, dass sie ohne jeden Widerstand über die Bühne ging und dass Jubelbilder rund um die Welt gehen konnten. Was mich besonders bedrückt, ist die Tatsache, dass in vielen Städten Österreichs, noch bevor der erste deutsche Soldat seinen Fuß auf österreichischen Boden setzte, eine Festbeflaggung mit Hakenkreuzen stattfand und Jubelstimmung herrschte.

profil: Das klingt etwas anders als in der Präambel zur Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, in der vom „Terror einer nazifaschistischen Minderheit“ die Rede ist, von einer „Besetzung, die dem Volk aufgezwungen wurde“.
Fischer: Man würde das heute nicht so ­schreiben, man darf es heute auch nicht so schreiben. Der operative Teil der Unabhängigkeitserklärung, wonach Österreich als unabhängiger, demokratischer Staat in den Grenzen von vor 1938 wiederhergestellt wurde, ist ein Grundstein der Zweiten Republik. Aber die Begründung wird den Tatsachen nicht gerecht. Sie blendet völlig aus, wie stark die Zustimmung zum so genannten Anschluss war und wie stark einzelne Österreicher in die Maschinerie Hitlers verstrickt waren.

profil: Der Beginn einer nationalen Lebenslüge?
Fischer: Es war jedenfalls so: Nach dem Einmarsch hieß es, das gesamte Volk stehe wie ein Mann hinter Hitler und der Idee des Anschlusses. 1945 hieß es, niemand habe das je gewollt.

profil: Hitler kam 1933 in Deutschland auf legalem Weg an die Macht. Hätte man ihn damals verhindern können?
Fischer: Es hätten jene verhindern können, die ihm im Jänner 1933 eine Mehrheit im Reichstag verschafften. Man dachte, die Generäle der Wehrmacht und die alten Politiker würden Hitler schon in Schach halten können und er würde sich bis zu den nächsten Wahlen so abgenützt haben, dass er sie verliert. Er hatte ja, als er Kanzler wurde, nur ein Drittel der Wählerstimmen hinter sich. Aber jene, die damals glaubten, Hitler übertölpeln zu können, waren dann die betrogenen Betrüger. Sie haben sich schrecklich verrechnet. 1933 hätte Hitler verhindert werden können. Schon ein Jahr später war die Demokratie kaputt, und er saß fest im Sattel.

profil: 1938 gab es in Deutschland schon KZs, Bücherverbrennungen und Judenhatz. Wie konnte Hitler in Österreich so freudig empfangen werden?
Fischer: 1938 war klar, dass Hitler in Deutschland eine Diktatur errichtet hatte, aber der Begriff der Diktatur hat die Massen in der Zeit der Arbeitslosigkeit und der Perspektivlosigkeit nicht mehr erschreckt. Die Demokratie wurde schlechtgemacht und machte sich zum Teil selbst schlecht. Sie erwies sich als unfähig, Probleme zu lösen. Man konnte auch in Österreich nicht sagen, wir verteidigen die Demokratie gegen Deutschland, weil auch in Österreich ein autoritäres System an der Macht war. Hitler bediente viele Schattenseiten der menschlichen Natur. Es gab hier fanatische Hitler-Anhänger, eine in die Defensive geratene Mannschaft um Kanzler Schuschnigg und eine in die Illegalität gedrängte, verbitterte Arbeiterschaft, der man erst ein paar Stunden vor dem Anschluss Mitwirkungsrechte in Aussicht stellte. Das alles führte dazu, dass sich die Lawine des Hitlerismus Bahn brechen konnte.

profil: Den Anschlussgedanken gab es ja in allen Parteien.
Fischer: Man glaubte nach 1918, Österreich sei nicht lebensfähig. Der Anschlussgedanke war populär und wurde auch von den Sozialdemokraten erst 1933, also nach der Machtergreifung Hitlers, aus dem Parteiprogramm gestrichen. Da war es bereits zu spät. Hitler nützte den Anschlussgedanken aus und suggerierte, ein großdeutsches Reich könne alle Probleme lösen.

profil: In österreichischen Nachkriegsfilmen sprechen Nazis meist mit preußischem Akzent. Tatsächlich waren 97 Prozent der Gestapo-Beamten in Österreich Österreicher. Vorher waren sie oft einfache Verkehrspolizisten gewesen. Ist Grausamkeit im Menschen angelegt und muss nur abgerufen werden?
Fischer: Es gibt tatsächlich keinerlei wissenschaftliche Evidenz dafür, dass die österreichischen Nationalsozialisten humaner gewesen wären als die deutschen. 2000 Wiener Polizisten traten im März 1938 am Heldenplatz an und wurden en bloc in die deutsche Polizei übernommen. Das gesamte österreichische Bundesheer wurde in die deutsche Wehrmacht übernommen. Das Personal in den Ministerien, einschließlich aller Diplomaten, wurde auf Adolf Hitler vereidigt. Die Schandtaten und Verbrechen der NS-Zeit wurden sowohl von Deutschen als auch von Österreichern begangen. Manche behaupten, der Antisemitismus in Wien war aggressiver als in Berlin.

profil: Ihr Vater war nach 1945 Staatssekretär im Handelsministerium. Wie wurde in Ihrer Familie über dieses Thema gesprochen?
Fischer: In meiner Familie wurde oft darüber diskutiert, meine Eltern erzählten mir viele ihrer Erlebnisse aus der Zeit zwischen 1938 und 1945. Sie hatten auch Freunde und Bekannte, die aus Konzen­trationslagern zurückgekommen waren und über ihre Erlebnisse berichteten. Ich war sensibilisiert für das Thema.

profil: Die österreichische Nachkriegsjustiz fällte bis 1948 mehr als 30 Todesurteile, aber nach 1956 saß keiner der 13.000 wegen NS-Verbrechen Verurteilten noch im Gefängnis, obwohl manche erst wenige Jahre zuvor gefasst worden waren. Wie dachten Sie darüber?
Fischer: Das habe ich damals nicht so gesehen, weil es ja auch später noch Prozesse gab – teilweise allerdings mit skandalösen Freisprüchen. Meiner Meinung nach können Wunden nur heilen, wenn man sie vorher reinigt und säubert. Und dazu kam es in den 1950er-Jahren vielfach nicht.

profil: Der junge Journalist Oscar Bronner veröffentlichte 1965 eine Liste von NS-Richtern, die immer noch im Amt waren. Justizminister Broda reagierte beleidigt, obwohl er selbst im Widerstand gegen die Nazis gestanden war. Sie waren ein Freund Brodas. Wie erklären Sie sich seine Reaktion?
Fischer: Das Thema beschäftigte ihn sehr. Aber Richter entlassen konnte er nicht. Das war sein Dilemma. Es wurde ihm zeit seines Lebens vorgehalten.

profil: Hat Broda intern darüber gesprochen?
Fischer: Natürlich. Ich habe öfter mit ihm über diese Problematik diskutiert. Er hat das auch oft mit seinem Freund, dem Rechtsanwalt Wilhelm Rosenzweig, besprochen, der Jude war, emigrieren musste und nach 1945 zurückkehrte. Sie haben sehr intensiv über dieses Thema gesprochen.

profil: In den Briefen, die Bruno Kreisky zwischen 1946 und 1951 aus Wien an seine Frau in Schweden schrieb, ging er mit keinem Wort auf die Nazis oder den Holocaust ein, obwohl Dutzende seiner Verwandten umgebracht worden waren. Wie ist das möglich?
Fischer: Es gibt zwei Typen von Menschen, die an dieser Zeit litten. Die einen kommen davon nicht mehr los, wie zum Beispiel Rosa Jochmann, mit der man nicht länger als zehn Minuten sprechen konnte, ohne dass man bei diesem Thema landete. Sie erzählte mir noch in den 1970er-Jahren, dass sie oft nicht schlafen könne und in der Nacht noch immer die junge Polin schreien und weinen höre, die neben ihr auf dem nackten Boden in der Dunkelhaft verhungert und erfroren war. Eine andere Gruppe wollte einfach nicht mehr daran denken und kapselte alles in sich ein. Bei meinem Schwiegervater erlebte ich das aus nächster Nähe. Er war in Dachau und Buchenwald, ehe er nach Schweden emigrieren konnte, aber er hat mit seiner Tochter und mir kaum über diese Erlebnisse gesprochen. Erst später, als meine Kinder heranwuchsen, fasste er den Entschluss, „für seine Enkelkinder“ etwas schriftlich festzuhalten. Daraus entstand dann sogar ein Buch.

profil: Bald werden alle Täter und Oper tot sein. Wird der Holocaust dann nur ein Nachhall aus der Vergangenheit sein, wie viele andere historische Begebenheiten?
Fischer: Die Akzente werden sich verschieben. Die subjektive Betroffenheit wird abnehmen, weil es keine Überlebenden mehr geben wird, aber die wissenschaftliche Exaktheit der Beschäftigung mit dem Thema wird zunehmen. Sie hat ja schon zugenommen. Wir wissen heute viel genauer Bescheid über die NS-Zeit als in den 1950er- und 1960er-Jahren. Ich kann Ihnen heute Dutzende Wissenschafter an österreichischen Universitäten nennen, die sich sehr detailliert mit dieser Zeit befassen. Früher war die Liste sehr kurz.