„Sie haben uns doch nur verarscht“

Wie ein junger deutscher Jude den Kommandeur des KZ Ausschwitz aufspürte

Zeitgeschichte. Wie ein junger deutscher Jude den Kommandeur des KZ Ausschwitz aufspürte

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Rudolf Höß öffnete schlaftrunken das Scheunentor des Bauernhofs, in dem er sich seit Monaten versteckt hatte, und bekam als Erstes kaltes Metall zu spüren. Der britische Lieutenant Hanns Alexander hatte ihm den Lauf seiner Pistole in den Mund gestoßen, danach befahl er dem Begleitarzt: „Schau nach, ob er sauber ist.“ Doch der ehemalige Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz trug keine Zyanidkapsel bei sich, als er in einer Märznacht 1946 an der dänischen Grenze in Norddeutschland aufgespürt wurde. Er fühlte sich sicher, hatte falsche Papiere; die SS-übliche Blutgruppentätowierung auf seinem Arm fehlte. Identifiziert wurde er über die Gravur in seinem Ehering. Höߒ Weigerung, ihn abzuziehen, hatte der junge Lieutenant mit „Macht nichts, dann schneide ich dir den Finger ab“ beantwortet und ein Messer verlangt.

Danach überließ Alexander den Gejagten der Wut der Männer von der britischen Field Security; einige von ihnen waren – wie auch er selbst – deutsche Juden, deren Familienmitglieder in Auschwitz ermordet worden waren. „Er wusste, was jetzt kommen würde, und war bereit, dafür die Konsequenzen zu tragen“, schreibt der britische Journalist Thomas Harding. In dem Buch „Hanns und Rudolf“ zeichnet er detektivisch nach, wie der damals 29-jährige Lieutenant Hanns Alexander einen der gnadenlosesten NS-Kriegsverbrecher suchte und fand. Die genauen Umstände von Höߒ Entdeckung kannte bisher nur der britische Militärgeheimdienst. Eine bizarre Szene fand Autor Harding freilich nicht in dem geheimen Dossier, sondern in einem Brief im Archiv seiner Familie erwähnt: Demnach hatten die britischen Soldaten den Abtransport des Gefassten ins Gefängnis kurzerhand unterbrochen, um ihren Erfolg in einer Kneipe ausgiebig zu feiern. Harding ist ein Großneffe von Höߒ Jäger Hanns Alexander; aber auch er erfuhr von der verwegen-abenteuerlichen Geschichte erst, nachdem sein Großonkel 2006 in London verstorben war. Die englischsprachige Ausgabe seines Buchs im Vorjahr sorgte international für Aufsehen, Ende dieser Woche erscheint es auf Deutsch.

„Ich bin völlig normal“
Dass Höß bei seiner Festnahme und beim ersten Verhör geschlagen worden war, ist bekannt. Holocaust-Leugner leiteten daraus ab, das Geständnis des Auschwitz-Kommandanten sei gewaltsam erpresst worden. Doch Höß hatte seine ersten Angaben, in denen er das Morden in den Gaskammern beschrieb und die Zahlen der nach Auschwitz Deportierten mit 1,13 Millionen Menschen bezifferte, nie widerrufen. Was er jedoch abstritt, war persönliche Schuld. Höß: „Ich habe niemanden umgebracht. Ich war nur der Leiter des Vernichtungsprogramms in Auschwitz.“ Einen Monat nach seiner Festnahme wurde er als Zeuge im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vorgeführt. Bis zu seinem Auftritt hatten die Angeklagten, an ihrer Spitze Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess und sein designierter Nachfolger Hermann Göring, dort jedes Wissen von einem Vernichtungsprogramm geleugnet. Am Tag danach gestand Hans Frank, der brutale NS-Generalgouverneur im besetzten Polen, auch er habe an der Vernichtung von Juden teilgenommen. Höß wurde in Polen vor Gericht gestellt und im April 1947 in Auschwitz gehenkt. Der Galgen war unweit der Villa errichtet worden, die er mit Frau und fünf Kindern direkt neben dem Konzentrationslager bewohnt hatte. Im Nürnberger Gericht hatte er über sein Selbstverständnis als Kommandant in Auschwitz gemeint: „Ich bin völlig normal. Sogar als ich die Vernichtungstätigkeit ausübte, führte ich ein normales Familienleben.“

Leere und Wut
Der moralischen Leere des bei seiner Gefangennahme 46-jährigen Höß steht in dem neuen Buch die Wut seines Jägers Hanns Alexander gegenüber. Er war der Sohn eines bekannten Berliner Arztes; Albert Einstein, Marlene Dietrich und Max Reinhardt waren regelmäßig Gäste des großbürgerlichen Hauses gewesen. Mitte der 1930er-Jahre flüchtete die Familie nach Großbritannien, mit Kriegsbeginn meldeten sich Hanns Alexander und sein Zwillingsbruder zur britischen Armee. Im Mai 1945 war der Lieutenant einer jener britischen Soldaten, die im eben befreiten KZ Bergen-Belsen tagelang Leichen zu Gruben schleppten. Als Dolmetsch bei Einvernahmen deutscher Gefangener studierte er die Verhörtechniken des britischen Colonel Robin Stephens, der von seinem Team Engagement und Erfahrung mit persönlichen Verlusten verlangte und „unerbittlichen Hass auf den Feind“ als Voraussetzung für aggressives Vorgehen gegenüber den Gefangenen betrachtete.

Lieutenant Alexander war nach der Erfahrung in Bergen-Belsen nicht mehr der sorglose, übermutige junge Mann wie davor. In den Einvernahmen hatte er das erste Mal den Namen Höß gehört, in Berlin erfuhr er, dass seine alte Tante nach Auschwitz gebracht worden war. Alexander wollte selbst auf Jagd nach Kriegsverbrechern gehen; als das abgelehnt wurde, unternahm er Streifzüge auf eigene Faust. Sein erster offizieller Suchbefehl hieß Aufspüren des Gauleiters von Luxemburg; danach wurde er mit dem Fall Höß befasst, dessen Frau die Briten bis dahin erfolglos nach seinem Versteck befragt hatten. Alexander drohte ihr mit der Deportation des ältesten Sohns nach Sibirien, worauf Hedwig Höß wortlos die Fluchtadresse ihres Mannes auf einen hingeschobenen Zettel schrieb.

Die Wut, die Alexander als Leichenträger im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen empfunden hatte, blieb. Jahre später vertraute er einem Freund an: „Es machte mich krank, zu sehen, wie viele Mörder ich gehen lassen musste. Sie haben uns doch nur verarscht. Weißt du, die Russen waren da praktischer. Sie haben einfach die Schuldigen gesucht und erschossen. Wir durften das nicht.“

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Thomas Harding
„Hanns und Rudolf. Der deutsche Jude und die Jagd nach dem Kommandanten von Auschwitz“; dtv, 400 Seiten Euro 25,60