Schlaraffenland: So verwöhnt der Sozialstaat die Österreicher

Schlaraffenland: So verwöhnt der Sozialstaat die Österreicher

Drucken

Schriftgröße

Zuletzt schalteten sich auch noch die Sozialpartner ein. Damit gilt die Debatte hochoffiziell als ernst gemeint: Er sei sehr dafür, über die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose zu reden, erklärte Christoph Leitl, Präsident der Wirtschaftskammer. „Wenn ich lese, dass Wirtshäuser zusperren müssen, weil sie keine Leute mehr bekommen, die bereit sind, am Wochenende zu arbeiten, dann stimmt doch etwas in unserem Land nicht.“ Gottfried Winkler, Vorsitzender der Gewerkschaft Vida, konnte das so nicht stehen lassen. „Wenn der Wirtschaftskammerpräsident findet, dass etwas nicht stimmt, hat er schon recht: Es stimmen nämlich die Arbeitsbedingungen nicht.“ AK-Präsident Rudolf Kaske gab zu Protokoll, dass er solche „Sommerlochdebatten“ für nicht zumutbar hält.

Den Anfang hatte bekanntlich Finanzminister Hans Jörg Schelling gemacht. In einem Gespräch mit der Tageszeitung „Der Standard“ erklärte er, es gebe auch deshalb so viele Arbeitslose, weil der Unterschied zwischen deren Einkünften und den Arbeitseinkommen nicht groß genug sei. Schelling hat inzwischen klargestellt, dass er nicht das Arbeitslosengeld als solches gemeint habe, sondern andere Wohltaten wie die Mindestsicherung. Aber viel nützte das nicht. Das Etikett der Herzlosigkeit wird er so schnell nicht mehr los.

Möglicherweise wird die aktuelle Diskussion bald wieder versanden wie so viele zuvor. Das wäre schade. Österreichs üppiges Sozialsystem könnte eine Runderneuerung nämlich durchaus gebrauchen – und zwar in allen Bereichen. Rund 100 Milliarden Euro gibt der Staat pro Jahr unter dem Titel „Soziales“ aus. Das ist fast ein Drittel der gesamten Wirtschaftsleistung und im internationalen Vergleich ein Spitzenwert. Dafür wird auch einiges geboten: In Österreich muss niemand Angst davor haben, Hunger zu leiden oder bei einem Schicksalsschlag ins Elend zu stürzen. Die Umverteilung von oben nach unten funktioniert dank üppiger Transfers besser als in den meisten anderen Volkswirtschaften. Auf diese Errungenschaften kann man durchaus stolz sein. Allerdings ist die Rundumversorgung auch ein Grund für die drückende Schuldenlast der Republik sowie, auf der anderen Seite, für die hohen Steuern. Und vielleicht hat uns der ständig paratliegende Rettungsring tatsächlich, wie der Finanzminister meint, ein wenig träge gemacht. Wenn sowieso nichts passieren kann: Warum soll man sich extra anstrengen?

„Selbstverständlich verändert ein gutes soziales Netz das Verhalten und die Einstellung der Menschen“, meint der Sozialrechtler Wolfgang Mazal. Im Prinzip könnte die Absicherung auch dazu führen, dass die Bürger sich mehr trauen und gelegentlich ein Risiko eingehen. In Österreich beobachtet der Experte aber das Gegenteil: „Die Chancen durch innovatives Verhalten werden kleiner eingeschätzt als die Sicherheiten durch das System.“ Mazal hält es für gefährlich, alle Leistungen für sakrosankt zu erklären. „In gewissen Bereichen haben sich die Rahmenbedingungen so stark verändert, dass Anpassungen notwendig sind. Wenn der Sozialstaat in 20 Jahren noch funktionieren soll, muss man ihn auf die Höhe der Zeit bringen.“

Niemand entgeht der liebevollen Fürsorge durch Vater Staat. Lange bevor ein Österreicher auf die Welt kommt, schon als wenige Zentimeter großer Embryo, ist er bereits ein Kostenfaktor für die Allgemeinheit. Und viele werden das ein Leben lang bleiben. Nur zwei Millionen Menschen zahlen mit ihren Steuern und Sozialabgaben mehr ein, als sie herausbekommen. Alle anderen, also drei Viertel der Österreicher, sind Netto-Empfänger. Für sie ist die Umverteilung ein Geschäft. Deshalb wird jede Diskussion über Veränderungen oder gar Verschlechterungen zum politischen Hazard. Menschen lassen sich nun mal nicht gerne etwas wegnehmen, worauf sie ein Recht zu haben glauben. Die ÖVP versucht es trotzdem in regelmäßigen Abständen. Zwar nur bei ausgewählten Themen, aber immerhin.

Die Arbeitslosen galten lange nicht als lohnende Zielgruppe für Reformen – es gab ohnehin vergleichweise wenige. Doch das hat sich geändert. Fast 400.000 Menschen im Land sind derzeit ohne Job. Das ist der höchste Wert in der Geschichte der Zweiten Republik. Eine durchaus dramatische Entwicklung, die in vielen Köpfen offenbar noch nicht richtig angekommen ist.

Die „Oberösterreichischen Nachrichten“ berichteten vor ein paar Tagen über mehrere Gastwirte, die ihren Wochenendbetrieb einstellen oder gleich ganz zusperren, weil sie kein Personal finden (auf diesen Bericht bezog sich der Wirtschaftskammerpräsident). Um Leute zu bekommen, müsse man Kontakte nützen und die Mitarbeiter mit allerlei Motivation bei Laune halten, erklärt Johannes Roither, Chef der Wirtevereinigung „hotspots“. Franz Perner, Geschäftsführer der Fachgruppe Gastronomie in der burgenländischen Wirtschaftskammer, hat ebenfalls nicht den Eindruck, dass die Bewerber neuerdings Schlange stehen. „Etwas mehr als die Hälfte aller Stellen im Service werden bei uns im Land von Ungarn besetzt. Das sind gute Leute, aber natürlich gibt es manchmal Sprachbarrieren. Viele Unternehmer würden gerne mehr Österreicher beschäftigen, sie finden nur keine.“ In Tirol sind es nicht die Ungarn, die einspringen, sondern junge Ostdeutsche. Auf Tiroler Skihütten könne man als Gast kein Schlagobers mehr bestellen, bloß noch Sahne, witzelte Johannes Kopf, Vorstand des Arbeitsmarktservice, vor ein paar Monaten in einem „profil“-Interview. Junge Wiener oder Niederösterreicher wären unter keinen Umständen zu bewegen, für eine Lehrstelle nach ­Westösterreich zu übersiedeln, weiß Kopf. „In Deutschland ist es normal, für Ausbildungszwecke woanders hinzugehen. Bei uns ist es nur normal, nach Wien zu übersiedeln. Sonst geht man nirgendwo hin.“

Auch abseits der Gastronomie herrscht nicht gerade ein Hauen und Stechen um die freien Stellen. Beim Stahlkonzern Voestalpine, einem der größten Arbeitgeber Österreichs, registriert die Personalabteilung zwar grundsätzlich mehr Bewerbungen als früher. Ist ein Ortswechsel Bedingung für den neuen Job, kann das Interesse schnell nachlassen. „Diese Bereitschaft ist sehr eng an die Attraktivität der jeweiligen Stelle gekoppelt“, sagt Konzernsprecher Peter Felsbach. Ein genereller Trend sei nicht erkennbar.

Auf den ersten Blick ist das verwunderlich. Mit 55 Prozent des letzten Nettobezugs fällt das Arbeitslosengeld in Österreich nämlich eher bescheiden aus. Da es noch dazu von der Höchstbemessungsgrundlage der Sozialversicherung berechnet wird, kann der Jobverlust schnell zu finanziellen Engpässen führen. Allerdings gilt das nur für Gutverdiener. Wer schon vorher wenig hatte, verliert unter Umständen außer dem Job gar nichts. Die vor fünf Jahren beschlossene Bedarfsorientierte Mindestsicherung (BMS) garantiert, dass niemand weniger als 828 Euro pro Monat bekommt. Auch das ist nicht viel. Doch sobald Kinder im Haushalt leben, öffnen sich die Geldhähne. Ein Ehepaar mit zwei Kindern kommt – nur mit Mindestsicherung, Familienbeihilfe und anderen Wohltaten – ziemlich schnell auf über 2000 Euro netto im Monat. Ein Job in der Gastronomie (Mindestgehalt: 1400 Euro brutto) wirkt da nicht mehr sonderlich verlockend.

Selbstverständlich sind Regelungen wie diese auch ein Grund, dass Österreich bei Asylwerbern so populär ist. Integrationsminister Sebastian Kurz hat jetzt vorgeschlagen, einen Teil des Anspruchs nicht mehr in Form von Bargeld, sondern als Sachbezug zu leisten. So würde der Anreiz zur Jobsuche etwas größer, glaubt er wohl zu Recht.

Oft genug agiert die Politik schlicht zu vertrauensselig. Eigentlich wurde die Mindestsicherung als „Sprungbrett in den Job“ konzipiert. Bezieher dürfen also nicht einfach auf der faulen Haut liegen. In Wien war es allerdings bis vor Kurzem nicht üblich, Jugendlichen mit Sanktionen zu drohen, wenn sie nicht kooperierten. Das wird jetzt geändert. Eigentlich selbstverständlich, sollte man meinen. Nur der Koalitionspartner hält den Plan für herzlos. „Disziplinierungsmaßnahmen schaffen keine Jobs, keine Perspektiven“, klagte Birgit Hebein, Sozialsprecherin der Wiener Grünen. Es gibt eben auch Mandatare, die das Leben im Wohlfahrtsstaat weltfremd gemacht hat.

Der Sozialminister hat sich lange gegen Reformen gewehrt. Mittlerweile findet Rudolf Hundstorfer, dass Korrekturen notwendig sind. „Es muss sich merkbar lohnen, aus der BMS auszusteigen und einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Auch ein Schwerpunkt bei den Jugendlichen ist wichtig, um möglichst früh BMS-Karrieren zu vermeiden“, sagt er. Dass die für den Vollzug zuständigen Länder gar keine oder nur sehr unvollständige Daten über die Mindestsicherung liefern, will Hundstorfer ebenfalls nicht länger hinnehmen. Bei der nächsten Verhandlungsrunde werde man das ändern. Klar ist jetzt schon, dass die Transferleistung eine Menge Geld kostet. Im Vorjahr waren es 600 Millionen Euro, doppelt so viel wie früher die Sozialhilfe.

Wenn man dir gibt, dann nimm. Wenn man dir nimmt, dann schrei: Dieses Lebensmotto wird den Österreichern praktisch eingeimpft. Diverse Interessensvertreter gehen selbst mit gutem Beispiel voran. So gering kann der Anlass gar nicht sein, dass nicht ausreichend Lobbyisten den Weltuntergang kommen sehen. Als etwa die Regierung vor fünf Jahren ein Sparpaket schnürte und dabei auch ein paar Familienleistungen kürzte, protestierten der katholische Familienverband und die Hochschülerschaft über Wochen und in seltener Eintracht. Worum es überhaupt ging? Die Familienbeihilfe wird seither nicht mehr bis zum 26. Geburtstag des „Kindes“ bezahlt, sondern nur noch bis zum 24. Trotz dieses brutalen Einschnitts wurde bis dato kein Fall eines verhungerten Bummelstudenten aktenkundig. Das Studium selbst kostet ja zum Glück nach wie vor nichts – obwohl alle wissen, dass hauptsächlich Besserverdienende ihren Nachwuchs auf die Uni schicken. Einmal gratis, immer gratis.

Unternehmern wird gerne und häufig zu Recht vorgeworfen, dass sie jede noch so kleine Gesetzeslücke nützen, um sich Vorteile zu sichern. Leider funktionieren Unselbstständige ähnlich, wie etwa das Pensionssystem zeigt. Zu einem erfüllten Berufsleben gehört für den durchschnittlichen Österreicher, dass die Fron möglichst schnell endet. Und irgendein ­Schlupfloch in die Frühpension findet sich immer. Über Jahre gehörte es etwa unter Beamten zum guten Ton, mithilfe der Hacklerregelung aus dem Büro zu flüchten. Das Gesetz war ein politischer Pfusch, keine Frage. Aber es sagt auch etwas über die Grundstimmung im Land, wenn Tausende Staatsdiener ohne den geringsten Genierer eine Bestimmung ausnützen, die eigentlich für ausgelaugte Schwerarbeiter gedacht war. Schlechtes Gewissen? Nein, warum? Machen ja andere auch.

Ähnlich lief es lange bei Frühpensionierungen aufgrund von Invalidität. Es gab Jahre, in denen jeder dritte Neorentner seine angegriffene Gesundheit als Grund für den Berufsausstieg namhaft machte. Vor allem das schwer zu widerlegende Krankheitsbild „Burn-out“ sorgte für erstaunlich viele Ausfälle. Sozialminister Hundstorfer hofft nun auf einen „Mentalitätswandel“, wie er sagt. Seit Anfang 2014 dürfen Jahrgänge ab 1964 nicht mehr in Pension gehen, wenn eine Besserung ihrer gesundheitlichen Situation möglich scheint. Sie bekommen stattdessen Reha-Geld und müssen zur Therapie – was den Zulauf etwas bremste. Oder die Österreicher sind plötzlich fitter geworden. Kann natürlich auch sein. Das Gesundheitssystem funktioniert ja noch so halbwegs. Nur die längst beschlossene Reform will einfach nicht in Gang kommen. Vielleicht fällt dem Finanzminister dazu auch noch etwas ein.

Rosemarie Schwaiger