Der Welser Bürgermeister Andreas Rabl

Wels: Die verlorene Stadt

Das einst rote und jetzt blaue Wels wurde zum Symbol des Niedergangs. Nun soll es für den Neustart der SPÖ stehen, Kanzler Kern hält dort kommende Woche seine Rede. Reportage aus einer Stadt, die ihre alte Rolle verspielt hat und eine neue noch sucht.

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Andreas Rabl tritt in die Gaststube wie einer, der keine Sekunde darüber nachdenkt, dass er hier der Einzige mit Anzug und Krawatte sein wird. Die Männer, die in ausgebeulten Wolljacken und Hemden, die über dem Bauch spannen, am späten Vormittag vor einem Seidel Bier sitzen, drehen ihm die Köpfe zu: "Servas! Griaß di! Da schau her!" Der FPÖ-Bürgermeister lässt sich an einem der Tische des Welser "Boni"-Wirts nieder. Rauchschwaden hängen in der Luft.

Heinrich Simon, 64, ist seit Jahren in Pension. Er sagt, er sei der letzte Rote seiner Familie, trotzdem habe er sich gefreut, als Rabl Bürgermeister wurde: "Eine Veränderung war notwendig." Der Stadtteil Vogelweide war eine SPÖ-Hochburg, jetzt ist er tiefblau. "Die Leute sagen, mein Viertel ist noch in Ordnung, ich will, dass das auch so bleibt", sagt Rabl. Der 72-jährige Franz Siegfried Schnitzer, der in jungen Jahren zum Arbeiten nach Stuttgart ging, pflichtet bei. Es habe ihm gefallen, wie Rabl in einer Diskussionsrunde in ServusTV den anderen "Konter gegeben" habe: "Mit den Flüchtlingen ist so viel Terroristengeschmeiß hereingekommen; ist ja wahr!" Am Nebentisch trinkt ein Landmaschinen-Techniker, der auch schon in Pension ist, "immer einen Roten, weil die weggehören". Sein SPÖ-Parteibuch habe er in den 1990er-Jahren zurückgegeben. Der Bundeskanzler, der am Mittwoch in Wels seine große Rede zur Zukunft des Landes halten will, kann den Männern hier gestohlen bleiben: "Arrogant" und "abgehoben" ist noch das Freundlichste, das ihnen zum ehemaligen ÖBB-Chef einfällt.

Seit 1945 regierte in Wels die SPÖ. Im November 2015 fiel der Sessel des Bürgermeisters an den FPÖ-Kandidaten, den auch bei bürgerlichen Welsern angesehenen Anwalt Rabl. 63 Prozent der Stimmen schaffte er in der Stichwahl. Der rote Amtsanwärter schlich geschlagen vom Platz. Damit war die erste Statutarstadt in Oberösterreich blau. Politische Kampfzone ist Wels aber schon länger. Ganz verloren ist das Terrain für die SPÖ noch nicht. Immerhin wählten bei der Stichwahl für das Amt des Bundespräsidenten 56,4 Prozent nicht Hofer, sondern Alexander Van der Bellen (Österreich: 54 Prozent).

Symbol des Niedergangs

Nun hat also Bundeskanzler Christian Kern die verlorene Stadt als Schauplatz für einen symbolträchtigen Auftritt auserkoren. "Worauf warten? Zeit, die Dinge neu zu ordnen", schwebt als Motto über dem lange angekündigten "New Deal" Kerns. Wels ist ein Symbol des Niedergangs. Kann es auch für einen Neustart stehen? Kluge Analysen zu steuerlicher Gerechtigkeit und hübsche Instagram-Bilder sind am Mittwoch zu erwarten. Wird Kern in der neuen Messehalle 21 auch ausbuchstabieren, wie die Partei es anstellen will, dass die verloren gegangenen Wähler zurückkommen? Unter Umständen wäre Wels, dieser seltsame Nicht-Ort, genau richtig für die schwierige Übung. Zu groß geraten für ein Dorf, zu klein für eine Stadt, so spotten die Bewohner.

Wels ist eine Niedergangserzählung, sagt Georg Wolfmayr. Er forscht am Institut für Europäische Ethnologie und schreibt an einer Dissertation über das semiurbane Drama der Stadt. Mit 60.000 Einwohnern ist sie in Oberösterreich die Nummer zwei; die Nummer acht im Land. In den boomenden Nachkriegsjahrzehnten war hier viel und hoch gebaut worden. Auswärtige strömten zum Einkaufen nach Wels.

Doch alles, was hier glänzt, ist Vergangenheit. Die aufragenden Bauten, Zeichen des technischen Fortschritts, gelten als Schandflecken. Die am Reißbrett entworfene moderne Parksiedlung Noitzmühle ist als Ausländerviertel verrufen. Die schmucke Altstadt weiß sich nur schwer gegen die kaufkraftabsaugenden Märkte an der Peripherie zu helfen. Zwischen dem versmogten Moloch Linz, der sich als Kulturmetropole neu erfand, und der Festspielstadt Salzburg, bleibt Wels "orientierungslos auf der Strecke", sagt der Stadtforscher Wolfmayr. 2009 sollte ein Science Center für erneuerbare Energien der Stadt ein unverwechselbares Gesicht verleihen. Doch der Museumsbau "Welios" zog viel zu wenig Besucher an und wurde zum Politikum. Eher verzweifelt wirkte der Versuch, sich mit einem leuchtenden riesigen Christkindl ins "Guiness Buch der Rekorde" einzuschreiben.

Es ist gelungen, hilft aber nicht gegen die Identitätskrise einer abblätternden Stadt. "In semiurbanen Räumen sind die Netzwerke besonders instabil. Deshalb zeigt sich hier am schnellsten, welche Folgen es hat, wenn Menschen nicht mehr verstehen, was in der Welt vor sich geht, wenn sie ihre eigene Rolle nicht mehr als sinnvoll erleben und sie daran auch nicht das Geringste ändern können", sagt der Netzwerkforscher Harald Katzmair, ein gebürtiger Oberösterreicher. Entwertung und Ohnmacht prägen das Lebensgefühl ebenso wie das Straßenbild. Von außen betrachtet wirkt Wels wie ein auseinandergefallenes Ganzes, dessen Teile sich nicht mehr zusammenfügen.

In der Rathausstube des Bürgermeisters lehnt -auf Karton -das neue Logo der Stadt: "Wels lädt ein". So wie der Bundeskanzler den Aufbruch des Landes zelebriert, setzt Rabl auf den Aufbruch der Stadt. Er habe die Leerstände der Geschäfte reduziert, die Innenstadt neu gepflastert, die Arbeitslosigkeit sinke: "Wir haben den Turnaround geschafft." Das ist übertrieben, aber selbst seine Gegner konzedieren dem FPÖ-Mann, dass er etwas bewege. Es gefällt den Welsern, dass Rabl zwei von drei Dienstwägen strich und beim Personal sparen will. Doch viele seiner Vorhaben sind umstritten. Rabl strich Kulturvereinen wie dem Schlachthof zehn Prozent der Förderungen, kürzte bei Sozialprojekten, subventionierte eine Volkstanzgruppe und verschaffte sich finanziell Luft, indem er die Anteile an der Sparkasse verkaufte. Natürlich trommelt er für Sanktionen, "wenn Migranten sich nicht integrieren wollen", und will noch mehr Videoüberwachung, als es ohnehin schon gibt. Doch kaum jemand bestreitet, dass Wels dringend eine Rolle finden muss.

Lebensqualität im Sinken

Gerhard Kürner war Konzernsprecher der Voestalpine, bevor er sich mit der Werbeagentur Lunik 2 selbstständig machte. Er hat an vielen Plätzen gelebt, jetzt ist er zurück in der Stadt seiner Kindheit. "Wels ist in einen Dämmerschlaf gefallen", sagt er. Bücherei und Kunsteislaufbahn takelten ab. Das Schwimmbad Welldorado geriet durch eine Veruntreuungsaffäre in die Schlagzeilen. Der Niedergang der Stadt ist keine Gefühlssache. Die Zeichen sind zu sehen - und zu messen. Seit Jahren zeige sich in Erhebungen, dass es mit Lebensqualität und Zufriedenheit bergab gehe, sagt Meinungsforscherin Edith Jaksch.

Doch Wels ist auch das Gegenteil. Auf ehemaligen Gründen der Industriellendynastie Fritsch, zu der auch der Tierpharmakonzern Richter gehört, lässt KTM-Chef Stefan Pierer seit den 1990er-Jahren ein Gewerbeviertel wachsen. In einem der Bauten residiert die Österreich-Zentrale von Conrad Electronics. 100 Meter vom Eingang zum Messegelände plant Pierer ein Hotel. "All das ist möglich, wenn ein potenter Investor an Wels glaubt", sagt Kürner.

Es ist bezeichnend für die Gegend, dass viele Betriebe noch von ihren Eigentümern geführt werden - etwa der Stempelerzeuger Trodat, der Lackehersteller Tiger, der Seilefabrikant Teufelberger, der Möbelhändler Lutz oder das Transportunternehmen Felbermayr. Es sind tüchtige Menschen, oft Ingenieure und Techniker, hart zu sich und anderen, die sich im globalen Wettbewerb nicht durch bahnbrechende Innovationen behaupten, sondern indem sie Jahr für Jahr rationalisieren. In politische Debatten bringen sie sich selten ein. Das Welser Bürgertum ist deutschnational geprägt, zumindest zum Teil erklärt das die bescheidenen Erfolge der ÖVP bei Wahlen.

Das Migrantenviertel Noitzmühle

Ein Drittel der Bevölkerung hat Migrationshintergrund, 23 Prozent besitzen keinen österreichischen Pass. Viele landeten im Viertel Noitzmühle. Das Elternhaus von Thomas Rammerstorfer steht in der Nähe, sein Sohn wächst damit auf, dass seine Freunde den einen oder anderen Migrationshintergrund haben: "Für ihn ist das normal. Schwer tun sich Menschen, die zu Migranten keinen Kontakt haben." Und wie überall sonst schneidet auch in Wels die FPÖ dort am besten ab, wo die wenigsten Ausländer leben.

Rammerstorfer machte eine Ausstellung zu den Einwanderungen, die das Stadtbild prägten - von den Volksdeutschen über die Ungarn-Flüchtlinge bis zu Gastarbeitern und Flüchtlingswellen - und hält Vorträge zu Rechtsextremismus. "Wenn ich erzähle, dass ich aus Wels komme, gibt es darauf zwei Reaktionen: Um Gottes willen, dort gibt es ja so viele Türken. Oder: Um Gottes willen, dort leben ja so viele Rechte." Nach der Ostöffnung zog Wels ungelernte Arbeitskräfte an, die von Geschäftsleuten in Massenquartiere in der Innenstadt gepfercht wurden. Die Probleme spitzten sich zu, bis die Stadt die Noitzmühle-Bauten für Ausländer öffnete. Nach 30 Jahren hätten sie von Grund auf saniert werden müssen. Die Betontröge erodierten, Eisenteile arbeiteten sich heraus.

"Integration zu spät und zu wenig"

15 Jahre lang hatte die Stadt nicht viel mehr getan, außer immer noch mehr Ausländer in die Bauten zu stecken. "Integration war zu spät und zu wenig", sagt Rammerstorfer. Die Bankfiliale im Grätzel sperrte zu, der Lebensmittelhändler gab auf, nur ein Wettbüro hielt sich bis zum Schluss. Vor wenigen Jahren riss die Stadt die Gebäude ab und errichtete ein Seniorenheim. Inzwischen gibt es hier wieder einen Arzt und ein Café. An den Wohnungsklingeln aber finden sich kaum noch österreichische Namen. Vor den 1980er-Bauten flattern bunte Handtücher an Wäscheleinen in der Wintersonne. Auf der Wiese werfen Kinder mit Schneebällen aufeinander. Die Szene wirkt friedlich, der Ruf des Viertels aber ist ruiniert.

"Kulturvereine und Stadtschreiber waren der SPÖ wichtiger als Wohnen", erklärt Bürgermeister Rabl auf die Frage, warum Wels blau geworden sei: "Dass man mir 2009 das Ressort überlassen hat, zeigt ihre Wertigkeiten." Viele der 8000 Wohnungen unter der Obhut der Welser Heimstätten hätte er "auf Vordermann gebracht". Rabl zog mit der Losung durch die Stadt: "Ohne Deutsch keine Wohnung" und gefiel sich in der Rolle des Vorreiters. Er entfalte den "Integrationsdruck", der unter der roten Stadtherrschaft gefehlt habe, "weshalb manche Einwanderer kein Bedürfnis oder keine Notwendigkeit gehabt haben, die Sprache zu lernen". Das ist FPÖ-Propaganda und trotzdem nicht falsch. Selbst SPÖler räumen hinter vorgehaltener Hand ein, es sei falsch gewesen, Probleme in Kindergärten und Schulen kleinzureden.

Die Schmidtgasse in Wels

Dass Wels Probleme hat, ist nicht mehr von der Hand zu weisen. Laut einer Untersuchung der Arbeiterkammer haben 31 Prozent der jungen Erwachsenen nur geringe Bildung. Bei den Lösungen aber scheiden sich die Geister.

Die gebürtige Welserin Laurien Scheinecker, 29, wurde als Studentin der Politikwissenschaften in der Uni-brennt- Bewegung politisiert. Es ist Teil des Dramas mittlerer Städte, dass die Jungen, die mit 18 zum Studieren wegziehen, entweder nicht mehr zurückkommen, oder erst, wenn sie Mitte 30 sind, eine Familie gründen und ein Haus in hübscher Randlage bauen. Scheinecker ist eine Ausnahme. Sie studierte in Wien, lebte in Wels, ging hier zur SJ und rutschte - selbst für sie eher unerwartet -2015 auf die SPÖ-Liste und in den Gemeinderat.

"Lösungen suchen"

Wochenlang hatte sie in Gemeindebauten, die blau geworden waren, Klinken geputzt und an Tankstellen über Ausländer, selbstgefällige Politiker und eine Stadt, in der nichts mehr weitergehe, diskutiert. Am Mittwoch wird sie im Publikum sitzen, wenn Kern über die Zukunft Österreichs referiert. Sie erhoffe sich einen Energieschub. Der Rest ist alltägliche, illusionslose Arbeit. "Da müssen wir weitermachen, offen sein für Anliegen, die Ängste von Eltern, die sich sorgen, dass die Chancen ihrer Kinder schwinden, wenn sie mit vielen Migranten in der Klasse sitzen, sie nicht nur ernst nehmen, wie es dauernd heißt, sondern nach Lösungen suchen."

Scheinecker gehört zum linken Flügel der Stadtpartei. Die ideologischen Kämpfe zwischen Wiener Innenstadtbezirken und den Flächenbezirken an der Peripherie spielen sich hier im Kleinen ab. Dass Dankbarkeit im politischen Metier keine Währung ist, hat sie schnell begriffen. Das Neubauviertel Lahen gehört zum Stadtteil Vogelweide. Hier hat die Wohnbaugenossenschaft Welser Heimstätte eine Anlage errichtet, mit Häusern, von denen keines höher als zwei oder drei Stockwerke ist, kleinen Terrassen, Gärten und Spielplätzen. Nebenan siedelten sich Lebensmittelgeschäfte, ein Café und eine Polizeiinspektion an. Seit der letzten Wahl ist der Sprengel blau. "Es ist angenehm, hier zu wohnen", sagt ein Passant. "Aber man muss schauen, dass mit der Gegend nicht das Gleiche passiert wie mit Noitzmühle."

Wer die Orte versteht, bekommt vielleicht auch Ideen, wie sich Bruchstücke wieder zusammenfügen. Bereits 2009 hatte SPÖ-Stadtchef Peter Koits sich einer Stichwahl stellen müssen. Der blaue Verkehrsstadt Bernhard Wieser bekam 45 Prozent der Stimmen, obwohl er buchstäblich keine Gelegenheit ausgelassen hatte, zu signalisieren, dass er nicht Bürgermeister werden will. Schriller kann eine Alarmglocke nicht läuten. Die Welser Genossen aber hielten sich die Ohren zu und machten weiter wie bisher.

Arbeiterkammerpräsident Johann Kalliauer ist ebenfalls gebürtiger Welser. Er pendelt jeden Tag nach Linz, Magistratsinterna registriert er nur am Rande. Die Probleme der Sozialdemokratie aber sind ihm vertraut. Er hofft, dass Kanzler Kern die "richtigen Dinge anspricht, sinkende Reallohneinkommen und Steuergerechtigkeit, dann kann er Glaubwürdigkeit zurückholen". Nicht alle teilen seine Zuversicht. Schon gar nicht am Stammtisch des "Boni"-Wirts.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges