Jeremy Corbyn

Nach Brexit: Labour-Partei in der Krise

Die britische Labour-Partei hätte vom Brexit-Schock profitieren können. Stattdessen zerlegt sie sich gerade selbst. Ihr Chef Jeremy Corbyn ist alles andere als ein begnadeter Oppositionsführer.

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Was macht ein linker britischer Oppositionsführer, um der Welt die scheußlichen Folgen des Neoliberalismus vor Augen zu führen? Wenn er Jeremy Corbyn heißt, kauert er sich bei der Anreise zu einem Wahlkampfauftritt auf den Boden einer Zugsgarnitur und beklagt wortreich, dass er keinen Sitzplatz mehr gefunden habe. Alle Waggons seien "gerammelt voll" - eine Folge der Privatisierung des Bahnverkehrs, unter der viele Pendler zu leiden hätten. Das Video, das der Labour-Chef Mitte August von seiner Protestaktion online stellte, wurde zum Hit -allerdings nur für seine Gegner. Wenig später konterte der Bahnbetreiber Virgin, das Unternehmen des Multimilliardärs Richard Branson, mit Videos aus einer Überwachungskamera. Sie zeigten, dass der Zug nur halb voll war und Corbyn sich nach vollbrachter Jeremiade auf einem der zahlreichen freien Plätze niederließ.

"Traingate" ist nur eines von zahlreichen PR-Desastern, die Corbyn im vergangenen Jahr hingelegt hat. Mit bizarren Aktionen produziert er regelmäßig negative Schlagzeilen, was die zahlreichen Feinde in den eigenen Reihen in ihrer Meinung bestärkt: Der Linksaußen-Star ist ein miserabler Parteiführer. Das glauben selbst die meisten Labour-Wähler. 69 Prozent von ihnen erklärten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Juli, die konservative Regierungschefin Theresa May für die bessere Premierministerin zu halten.

Corbyn will bleiben

Bei Labour heißt es dennoch: Corbyn und kein Ende. Aller Voraussicht nach wird der Vegetarier, Radfahrer und ehemalige Friedensaktivist am 24. September zum zweiten Mal im Amt bestätigt. Zur Verzweiflung der angestammten Labour-Granden können sie ihn als Parteiführer nicht absetzen. Nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni war es parteiintern zum Aufstand gegen Corbyn gekommen -zum einen, weil der Europa-Skeptiker nicht klar genug für einen Verbleib in der EU eingetreten war; zum anderen, weil er nach dem Referendum eine unmittelbare Auslösung des Artikels 50 und damit den sofortigen Austritt gefordert hatte - gegen eine breite Mehrheit der Labour-Abgeordneten, die proeuropäisch eingestellt ist. Daraufhin traten mehr als zwei Dutzend Mitglieder seines Schattenkabinetts zurück; bei einem Misstrauensantrag stimmten 172 Abgeordnete gegen den Parteichef, nur 40 für ihn. Dennoch weigerte sich Corbyn, den Hut zu nehmen.

Denn so sehr die Funktionäre gegen ihn sind, so sehr weiß er die Parteibasis auf seiner Seite. Mehr als 100.000 neue Mitglieder hat Labour dieses Jahr bereits gewonnen, die meisten von ihnen Corbyn-Fans. Junge Aktivisten aus dem Umfeld der Labour-Partei, aus den Gewerkschaften, aber auch extrem linken Gruppen wie der Socialist Workers Party (SWP) schwören auf "Jeez", so der Spitzname von Corbyn, und seine linken Retro-Rezepte.

"Worum geht es bei der sozialistischen Revolution?", heißt es auf der SWP-Website: "Es geht nicht um Gewalt. Die Arbeiterklasse muss neue Institutionen entwickeln, die bestehende hierarchische Strukturen ersetzen." Die moderate Labour-Führungsriege der Prä-Corbyn-Ära sieht die Partei von linken Gruppen in Geiselhaft genommen. Vizechef Tom Watson spricht sogar von "trotzkistischem Entrismus" - einer aus der Geschichte bekannten kommunistischen Taktik, Organisationen zu unterwandern.

Keine Führungspersönlichkeit in Sicht

In diesem Fall würde Labour die Spaltung drohen. Eine Meuterei braucht allerdings eine charismatische Führungspersönlichkeit. Diese fehlt bisher. Zwar hat sich ein Gegenkandidat für Corbyn gefunden, doch Owen Smith, ein 46-jähriger ehemaliger BBC-Journalist aus Wales, war bis zu seiner Nominierung kaum jemandem außerhalb seines Wahlkreises Pontypridd bekannt. Smith geht mit einer deklariert pro-europäischen Agenda ins Rennen: Er möchte den Brexit mit einem zweiten Referendum blockieren und genießt dafür die Sympathie vieler Funktionäre. Vor lauter internen Querelen kommt die Partei nicht dazu, die Gunst der Stunde zu nutzen. Großbritannien muss sich nach dem Brexit-Votum neu orientieren. Die konservativen Tories müssen sich nach dem Rücktritt von David Cameron und anderen Parteigranden von Theresa May neu aufstellen lassen, woraus ein angriffiger Oppositionsführer Kapital schlagen könnte.

Genau das jedoch ist Corbyn nicht. Er spricht gern über Basisdemokratie und Menschenrechte, hat aber seine Parlamentsfraktion nicht im Griff. Seine Wiederwahl dürfte trotzdem nicht zu verhindern sein. Denn nicht nur Parteimitglieder sind stimmberechtigt, auch Sympathisanten, die sich für 25 Pfund registrieren lassen, stimmen über den neuen Chef ab. Seine Gegner fürchten danach eine "Säuberung" von Labour -und den Absturz der Partei in die Bedeutungslosigkeit. Denn intern mag Corbyn die Mehrheit zwar gewonnen haben, bei den Wählern verliert er sie aber. Und die Chance, die nächsten nationalen Parlamentswahlen zu gewinnen, die eventuell schon im Herbst stattfinden könnten, ist mit ihm gleich null.

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz