Gay Talese

Der Herumtreiber

Amerikas Journalistenlegende kämpft um ihre Glaubwürdigkeit.

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Im April 2016 veröffentlichte Gay Talese im Magazin "The New Yorker" die Reportage "The Voyeur's Motel", den detaillierten Bericht über Gerald Foos, der in Aurora, US-Bundesstaat Colorado, in den 1960er-Jahren eine Pension gekauft hatte -mit dem Ziel, seine voyeuristischen Bedürfnisse zu befriedigen. Durch präparierte Lüftungsschächte in den Zimmer spionierte er seine Gäste beim Sex aus; 1977 will er sogar einen Mord in einem seiner Apartments beobachtet haben. Jahrzehntelang hielten Foos und Talese losen Kontakt, ehe Foos 2013 seine Taten mit Unterstützung des Journalisten in die Öffentlichkeit bringen wollte. Nachdem "The Voyeur's Motel" in den USA als Buch erschienen war, machten sich bald Zweifel und Ungereimtheiten breit, es tauchten massive Bedenken an der Glaubwürdigkeit des zwanghaften Spanners auf. Datumsangaben stellten sich als falsch heraus, und die Polizei von Aurora fand keine Unterlagen zum vermeintlichen Mordfall. War Foos ein Schwindler, ein Schaumschläger? Und der Bericht "Der Voyeur" (soeben auch auf Deutsch erschienen) nur ein groß angelegtes Täuschungsmanöver?

"Die Quelle meines Buches, Gerald Foos, ist offensichtlich unzuverlässig", ruderte Talese zurück. "Er ist ein unehrenhafter Mann. Ich weiß das. Ich habe mein Bestes versucht mit diesem Buch, aber das war möglicherweise nicht genug." Die Betroffenheit ist seit damals groß, die Ratlosigkeit nicht minder.

Keine Zeit für Interviews

Talese, 85, ist ein Getriebener. Über seine Agentur lässt er ausrichten, er habe keine Zeit für Interviews, er stecke mitten in der Arbeit für seine nächsten Bücher. Talese wuchs in Ocean City auf, einer Kleinstadt an der Küste von New Jersey. Immer wieder schrieb er über das Leben der italienischen Einwanderer der ersten Generation, über die langen Nachmittage im Kleidergeschäft seiner Mutter, die Stunden unter dem Ladentisch des "Talese Town Shop", den der Vater in den Bankrott trieb.

Mit seinen Büchern hat Talese Millionen verdient. Selten geht er ohne dreiteiligen Anzug aus dem Haus, Schuhe, Stecktuch, Strümpfe aufeinander abgestimmt, nie ohne Hut.

Er schreibt seit 50 Jahren nach dem von ihm selbst abgesteckten Talese-Statut: Er ändert nie die Namen seiner Helden in den Reportagen, vertraut allein nachprüfbaren Fakten und schreibt lieber über Verlierer als Gewinner; jede Geschichte, die er erzählt, muss zu einer Schlussfolgerung führen, einen "universellen Kern" enthüllen, wie er es nennt. "Fiktiv" gilt in Taleses Welt als grobes Schimpfwort. Er tippt bevorzugt auf elektrischen Schreibmaschinen und macht seine Notizen auf klein geschnittenen Kartons aus einer Wäscherei. Seine Recherchemethode bezeichnet er als "The Fine Art of Hanging Around": die hohe Kunst des Wartens, Abhängens, Herumtreibens. Er interviewt die Frau und den Mann von der Straße - Brückenbauer, Verkehrspolizisten, Kirchenchorsängerinnen, Studentinnen in Massagesalons - ebenso wie Berühmtheiten.

Taleses Archiv mit dem gesammelten Material seiner Recherchen, untergebracht in seinem Haus an der Ecke zur Park Avenue in Manhattans Upper East Side, in dem er seit 1945 lebt und arbeitet, ist so etwas wie eine Schatzkammer jüngerer Zeitgeschichte. "Bunker" nennt er die fensterlose Schreibklause im Untergeschoss. Talese hat Boxer wie Floyd Patterson und Muhammad Ali porträtiert und den Kummer des einstigen Baseballstars Joe DiMaggio nach dem Tod von dessen Exfrau Marilyn Monroe beschrieben; er arbeitete für die "New York Times" und die Magazine "The New Yorker","Esquire" und "Rolling Stone".

Glanzstück über Sinatra

Seine berühmteste Geschichte war das Resultat einer Zurückweisung. Als Talese sich Anfang der 1960er-Jahre um ein Interview mit dem damals 50-jährigen Frank Sinatra bemühte, erklärte dessen Agent, sorry, Mr. Sinatra habe Schnupfen. Darauf bezog Gay Talese in Los Angeles ein Luxushotel und verfolgte Sinatra auf Schritt und Tritt. Wochenlang. Er sprach mit dessen Freunden und Eltern, fertigte Skizzen von Begegnungen und erstellte Memos, weil er sich bereits damals weigerte, Tonaufnahmen zu machen. Das erhoffte Interview kam nie zustande. In "Frank Sinatra ist erkältet" (1966) näherte sich Talese dem Sänger und Schauspieler aus der Perspektive jener Entourage, von der Sinatra umspült war: Sekretär, Toupet-Friseuse, Maskenbildner, Chauffeur, Groupies, Zechbrüder, Exehefrauen, Kinder. "Sinatra mit Schnupfen ist wie Picasso ohne Farbe, Ferrari ohne Sprit - nur schlimmer", schrieb Talese. Den Text kennt seither jeder angehende Journalist in den USA; er gilt als Glanzstück der Gattung, von dem man mehr lernen kann als aus den meisten Reportageratgebern.

Talese ist der formstrengste, wissensdurstigste, gewandteste Reporter Amerikas. Norman Mailer, Truman Capote, Hunter S. Thompson und Tom Wolfe, durchweg berühmtere Namen auf dem Feld des "Neuen Journalismus", haben von Taleses Pioniergeist, die Wirklichkeit mit den Methoden und Mitteln der Literatur zu untersuchen, enorm profitiert. Taleses beste Geschichten lesen sich wie Erzählungen, seine Hunderte Seiten starken Berichte über Amerikas sexuelle Revolution ("Du sollst begehren") und den New Yorker Mafia-Mob ("Ehre deinen Vater") wie Romane, in denen aber alle Einzelheiten authentisch sind.

In "Der Voyeur" hält sich Talese mit Konjunktiven auf. Es könnte sein. Es wäre möglich. Alle Indizien weisen darauf hin, dass er in dem Buch, das zu einem Großteil aus Foos' wichtigtuerischer Eros-Tagebuchprosa besteht, einem Prahlhans mit obsessiver Passion auf den Leim gegangen ist. "Ich habe genug gesehen", resümiert Gerald Foos als alter Mann sein Faible für die Nachtseite der Erotik. Ein Satz wie dieser ist Gay Talese nie passiert.

Gay Talese: Der Voyeur. Übersetzt von Alexander Weber. Tempo, 223 S., EUR 20,60

Dieser Artikel stammt aus dem profil Nr. 16 vom 13.4.2017. Das aktuelle profil können Sie im Handel oder als E-Paper erwerben.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.