Und Ruhe ist

Sterbejournal „Arbeit und Struktur” des „Tschick”-Autors Wolfgang Herrndorf

Literatur. Das Sterbejournal des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf

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Es ist der Moment, den der Kranke am meisten gefürchtet hat. Das Aufwachen nach der Operation, die Angst, dass sich Hirn und Persönlichkeit unkontrollierbar verändert haben könnten. "Ich weiß, dass ich mir für diesen Fall von Anfang an ein bestimmtes Vorgehen überlegt habe“, schreibt der Berliner Schriftsteller Wolfgang Herrndorf in "Arbeit und Struktur“ - "Selbstmord, solange ich noch einen Rest von Kontrolle habe über das Gemüse, das einmal meinen Namen trug.“

"Arbeit und Struktur“ ist Tagebuch, Werkstattbericht, Traumjournal, Existenzergründung via Literatur - und alles andere als Krankheitsbewältigungsschrift. Auf dem einst als Privatmitteilungskanal geplanten Blog, entstanden in den vergangenen dreieinhalb Jahren und nun postum in Buchform publiziert, finden sich Komik, Empathie, Sentimentalität, Verzweiflung und Todesangst auf engem Raum - dazu jene von Herrndorf gewünschte Form des Zynismus, die seine Selbstrecherche grundiert: "Was Status betrifft, ist Hirntumor natürlich der Mercedes unter den Krankheiten. Und das Glioblastom der Rolls-Royce. Mit Prostatakrebs oder einem Schnupfen hätte ich dieses Blog jedenfalls nie begonnen.“

"Es beginnt mit fünf Bier und einem Kater am nächsten Tag, Kopfschmerzen.“ Im Februar 2010 wird Wolfgang Herrndorf von den Ärzten mitgeteilt, dass er bald sterben werde - Diagnose: Glioblastom, bösartiger Tumor, der schnell wächst und in den allermeisten Fällen tödlich endet. Der Autor stürzt sich in Arbeit, gerät in einen regelrechten Schaffensrausch. Innerhalb weniger Monate beendet er seinen vor sechs Jahren begonnenen Jugendroman "Tschick“, im Jahr darauf die knapp 500 Seiten des Wüsten-Agententhrillers "Sand“. Für die Bücher zuvor hatte er sich lange Zeit gelassen: 2002 war sein Debütroman "In Plüschgewittern“ erschienen. 2007 folgte der Erzählband "Diesseits des Van-Allen-Gürtels“.

Bereits als Zeichner für das Satiremagazin "Titanic“ und Schriftsteller, der an jedem Satz tagelang feilte, hielt sich Herrndorf vom sogenannten Literaturbetrieb fern, der ihm eine diffuse Mischung aus PR und Gefälligkeitsschreiben war. Er lebte jahrelang in einem Loch von Wohnung, knapp am Existenzminimum, mit einem Nachbarn, der ihn durch Lärm, getarnt als Musik, terrorisierte. Herrndorf inszenierte sich aber nie als poète maudit, gab kaum Interviews, sogar den Erfolg von "Tschick“ - die hochkomische Abenteuerfahrt zweier jugendlicher Ausreißer verkaufte sich in kurzer Zeit über eine Million Mal - registrierte er ungerührt. Ende 2010 notiert er in "Arbeit und Struktur“: "Wohnungsbesichtigung in Charlottenburg. Der Versuch, mein Leben nicht in einer dunklen 1-Zimmer-Hinterhofwohnung ausklingen zu lassen, erweist sich als schwierig. Nie im Leben einen Pfennig Schulden gehabt, durch, Tschick‘ Geld wie Heu auf dem Konto, aber kein Einkommensnachweis. Ohne Bürgschaft meiner Eltern käme ich an keine Wohnung ran. Auch insofern vorteilhaft, sie nicht zu überleben.“

Die Krankheit registriert Herrndorf in all ihrer Hässlichkeit und Banalität, ohne Larmoyanz. Eintrag vom 9. April 2010: "Auf Wiedersehen, Haare.“ 26. Juli 2010: "Wenn ich ausgehe, fühlt sich das Leben an wie früher. Ich werde gedankenlos, ich verplempere Zeit.“ Als er wieder mal einem Mediziner gegenübersitzt, fällt Herrndorf ein, dass er sich nie wieder verlieben, dass sich nie wieder jemand in ihn verlieben werde: "Stinkend und krebszerfressen.“

Heroenmaskerade und Durchhaltegestus sucht man in "Arbeit und Struktur“ vergebens. Es ist ein Bericht, in dem viel von Operationen, Medikationen, Bestrahlungen, Chemotherapien, blutigem Kotzen, von Überlebensstatistik und Sterbewahrscheinlichkeit die Rede ist. "Sehr epileptischer Tag“, schreibt Herrndorf.

Der Autor erzählt, oft mit schwarzhumorigem Unterton, von Sichtfeldausfällen und fatalen Konzentrationsstörungen: "Wenn ich lese, ergänzt mein Gehirn jeden Satz: Lee Harvey Oswald ging die Straße entlang, und du wirst sterben. Er sah die Autos, und du wirst sterben. An allen Gegenständen und Menschen haften jetzt kleine Zettel mit der Aufschrift, Tod’, wie mit Reißzwecken dahingepinnt.“ Bitter klagt er gegen Ende der Aufzeichnungen über Sprachverfall und Leseunfähigkeit. Manie, Panik, Angst und Freude wechseln bisweilen im Minutentakt: "Später dann Zusammenbruch, am Ufer der Spree gekrochen, geheult.“ Er irrt in Berlin umher, auf Wegen, die ihm vertraut sind. Beim Fußball weiß er nicht mehr, in welche Richtung er spielen muss. Nur das Trikot verrät ihm, welche Mannschaft seine ist.

Und Ruhe ist
Das Sterben nimmt Herrndorf selbst in die Hand. Am 3. Juli 2010 notiert er: "Meine vermutlich letzte Steuererklärung gemacht.“ Zwei Wochen später schreibt er: "Niemand kommt an mich heran / bis an die Stunde meines Todes. / Und auch dann wird niemand kommen. / Nichts wird kommen, und es ist in meiner Hand.“ Von Ende August datiert die Mitteilung: "Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick. Schon seit Tagen keine Beunruhigung mehr. Sobald ein Gedanke kommt, höre ich das geschmeidig klickende und einrastende Geräusch der Abzugsgruppe, und Ruhe ist.“ Er füllt die Badewanne randvoll mit seinen Notizbüchern, Journalen und Briefen, weicht den Papierberg ein, entsorgt sein Künstlerleben: Briefe aus 31 Jahren, Tagebücher aus 28 Jahren. Eingeweicht, zerrissen, zerstört. Seine Freunde müssen ihm versprechen, dass Festplatten und Speichermedien nach seinem Ableben zerstört und Priester mit "Waffengewalt“ von ihm ferngehalten würden. Mitte 2010 findet sich in "Arbeit und Struktur“ der Eintrag: "Und wo wir schon dabei sind: Ich hoffe, es kommt keiner auf die Idee, eine Annonce aufzugeben oder einen Kranz zu kaufen. Und um das restliche Pathos gleich noch mit wegzuerledigen: Ich wünsche euch, wenn eure Stunde kommt, dass ihr Freunde habt, wie ihr es seid. Thema Ende.“ Am 9. August 2013, wenige Tage vor seinem Tod, schreibt er: "Abschied von meinen Eltern. Ich kann nichts sagen. Ich sitze neben ihnen, ich kann nicht in ihre Gesichter sehen.“ Am Montag, den 26. August 2013, gegen 23.15 Uhr, schießt sich Wolfgang Herrndorf mit 48 Jahren am Ufer des Hohenzollernkanals mit einem Revolver in den Kopf.

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur. Rowohlt, 451 S., EUR 20,60