Tanz in der Grauzone: Zu Besuch bei einem Corona-Rave in Wien

Bis in Österreichs Clubs wieder getanzt wird wie früher, werden noch Monate vergehen. Füße stillhalten ist aber für viele keine Option. profil hat sich bei einem Rave umgeschaut, der eigentlich gar nicht stattfinden hätte dürfen.

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von Johanna Brodträger

Künstlicher weißer Nebel schlingt sich zwischen stampfenden Beinen hindurch, steigt vom Boden empor, bis er sich in der Luft löst. Aus den Boxen klingen tiefe Techno-Bässe. Die Lautstärke ist erstaunlich gemütlich. Im bunten Licht blitzen lachende Gesichter aus der Menge. Das Publikum wirkt glücklich, so als hätte man kleinen Kindern nach monatelangem Stillsitzen das Spielen wieder erlaubt.

Erlaubt? Die Szene erinnert an eine ganz normale Nacht in einem Club. Aber halt: Seit Mitte März sind viele Nachtlokale in Österreich geschlossen. Die aktuelle Regelung, bis 1 Uhr öffnen zu können, ist nicht besonders attraktiv. Eine Verlängerung der Sperrstunde bis 4 Uhr ab Mitte August ist von der Regierung zwar angedacht - vor allem um die Betriebe vor dem finanziellen Ruin zu retten. Die Entscheidung, ob die Nachtgastronomie ab 15. August bis 4 Uhr öffnen darf, wurde wegen steigender Infektionszahlen zuletzt auf Ende Juli verschoben. Die trüben Aussichten für die Clubbetreiber und deren Personal dürften also noch länger Bestand haben.

Die fehlende Möglichkeit zum ausgiebigen, öffentlichen Tanzen und Feiern macht auch den Gästen zu schaffen. Sie suchen in der Zwischenzeit – es sind immerhin schon fünf Monate seit dem Lockdown -  nach Alternativen, veranstalten ihre eigenen Partys und nutzen dafür den öffentlichen Raum. Seit Beginn der Pandemie regen die „illegalen Corona-Raves“ auf – vor allem in Party-Hotspots wie Manchester, Berlin oder Mallorca. Aber auch in Österreich finden sich immer mehr Feierlustige außerhalb der Clubs zusammen. In der Sillschlucht bei Innsbruck zum Beispiel: Dort hat die Polizei vor drei Wochen mehrere solcher Partys mit über 1000 Feiernden aufgelöst.

Illegale Partys, veranstaltet von und für verantwortungslose Jugendliche, so lautet der allgemeine Tenor. Aber so einfach ist es nicht, wie ein Besuch bei einem Rave am Rande von Wien zeigt.

Feierlaune
Es ist Freitagabend in einem abgelegenen Wäldchen, Sommer in Wien. Die Sonne ist noch nicht ganz untergegangen, die Temperaturen – es war ein drückend heißer Tag – sind mittlerweile erträglich. Zwischen ein paar großen Laubbäumen steht ein mobiles DJ-Pult auf zwei Rädern. Ein Bügelbrett dient als Bar, wo es um wenig Geld kühles Dosenbier gibt. In der Wiese sitzen Menschen, zu zweit oder in großen Gruppen. Sie rauchen, tratschen und trinken. Auf den Mund-Nasen-Schutz wird gepfiffen. In der Mitte, direkt vor dem DJ, tanzen die Leute – mit Abstand und noch etwas vorsichtig.

Nach Wochen der sozialen Isolation und zwischenmenschlicher Zurückhaltung, sehnen sich gerade Jugendliche: nach Gesellschaft, nach Freiheit, nach Party.
In einer Umfrage des Marktforschungsinstitutes marketagent gaben 82 Prozent der Jugendlichen an, dass sie während des Lockdowns ihre Freundinnen und Freunde am meisten vermissten. 62 Prozent fehlten die Möglichkeit zum Ausgehen und Feiern. Nun verleiten die vergleichsweise niedrigen Infektionszahlen immer mehr Leute dazu, genau das nachzuholen.

Thomas, der in echt anders heißt, ist an diesem Abend einfach hier in dem kleinen Waldstück am Stadtrand, um zu tanzen. Er weiß von der Party, weil ihm Freunde Bescheid gegeben haben. Der Agrarwissenschaftsstudent sagt, er suche ein Ventil, um all die gesellschaftlichen Zwänge dieser Zeit für einen kurzen Moment loszuwerden.

Hätten die Clubs offen, würde Thomas trotzdem nicht hingehen - auch, wenn er das vor ein paar Monaten noch jedes Wochenende tat. „Tanzen mit Maske muss ich mir nicht geben“, sagt der 21-Jährige. Nicht, weil er Corona auf die leichte Schulter nehme. Im Gegenteil: Die Ansteckungsgefahr bei Open-Airs schätzt er einfach deutlich geringer ein als in geschlossenen Räumen oder im Gedränge am Donaukanal.

Tatsächlich ist laut Studien die Ansteckungsgefahr an der frischen Luft um einiges niedriger. Grund dafür sind sogenannte Aerosole, winzige Tröpfchen, die in der Luft schweben. Eine dieser Studien vergleicht das Verhalten der Aerosole in der Luft mit dem von ausgeatmetem Zigarettenrauch. Wird der Zigarettenrauch einer anderen Person eingeatmet, dann vermutlich auch die potenziell ansteckenden Luftpartikel. Und so wie Zigarettenrauch stockt mit der Zeit auch die Aerosolkonzentration in geschlossenen Räumen. Nun ist das Ansteckungspotenzial durch die zirkulierende Luft draußen zwar geringer, aber ohne Sicherheits- und Hygienekonzept keinesfalls weggewischt.

Nicht nur die Luft, sondern auch die Stimmung findet Thomas auf kleinen, inoffiziellen Veranstaltungen angenehmer: Es ist nicht eng und die Leute passen aufeinander auf. Das mit dem Babyelefanten-Abstand nehmen zwar nicht alle Tanzenden ernst, aber unreflektierte Rücksichtslosigkeit gibt es hier nicht. Wer möchte, kann Abstand halten.

„Sucht nach Gesellschaft“
Die Idee zur Party an diesem warmen Juliabend wurde im Mai geboren. Etwas Ähnliches hätten die Veranstalter noch nie organisiert, erzählt einer der DJs. Sie seien überrascht, dass so viele Leute gekommen sind. Eigentlich hätten sie nur den eigenen Freundeskreis eingeladen. Um die Exklusivität der Party dürften sie sich aber nicht allzu sehr bemüht haben: profil hat über einen Flyer, der uns online zugeschickt wurde, davon erfahren.

Bei solchen Veranstaltungen ist das üblich: Interessierte müssen sich an die richtigen Leute wenden und bekommen die nötigen Infos kurz vor dem Event zugeschickt. Das gibt ein Gefühl der Besonderheit.

Es ist dunkel geworden. Nur noch der Mond, die kleine bunte Lichtershow und zwei Lichterketten dienen als Beleuchtung. Der Wind bringt auch die grauen Baumkronen zum Tanzen. Unter ihnen sind ungefähr 150 Partygäste verstreut. Auf den Baumstämmen hängen Aschenbecher, gebastelt aus leeren Bierdosen, und Müllsäcke. Neben der Bar steht ein Schild: „Respect the Nature“.

Die beiden Freunde Julian und Peter, die hier anders heißen, weil sie gerne anonym bleiben wollen, haben die Musik aus der Ferne gehört und sind zufällig hier gelandet. Obwohl Techno nicht ihre Szene ist, genießen sie den Abend. Eigentlich stehen sie lieber mit einem Bier an der Bar eines entspannten Lokals.
Corona mache ihnen gerade keine Sorgen: „Die Sucht nach Gesellschaft ist einfach größer“, sagt der 26-jährige Julian, wissentlich, wie widersprüchlich das klingt. Die Party sei „ein völlig logischer Ausdruck einer relativ frustrierten Gesellschaft, die halt gerade für drei Monate daheim war“, fügt der Student im Bauingenieurswesen hinzu.

„Raves sind genau deshalb entstanden, weil man sich nichts von Oben sagen lassen wollte“, erklärt DJ Tim Es Punkt, der nebenbei auch Mitbegründer des Wiener Kollektivs Löwenzahn ist. Er selbst war nicht bei der Party, ist aber ein ausgewiesener Kenner der Technoszene in Wien. Aufgekommen sind die sogenannten Raves Ende der späten 80er Jahre in England – auch dort und damals als Antwort auf Restriktionen. Restriktionen gab es in den letzten Monaten zuhauf und in einem Ausmaß, wie es die meisten Feiernden hier vermutlich noch nicht erlebt haben. Seither bieten die spontanen Tanzveranstaltungen einen normfreien Rahmen, in ausgewähltem Kreis, um respektvoller miteinander zu feiern. Dabei gäbe es zwar keine niedergeschriebenen Regeln, aber stets einen Konsens, erklärt der DJ. Und dieser Konsens beruht auf Zusammenhalt und Respekt. Das zieht die Menschen an, nebst dem Reiz des Verbotenen.

Der Demo-Trick
Ganz so verboten dürften die meisten Partys allerdings nicht sein. Unter den Gästen macht das Gerücht die Runde, die Polizei sei schon da gewesen, mit der Bitte, um elf Uhr die Musik abzudrehen. Aber auch mit der augenzwinkernden Anmerkung, dass sie heute Nacht eh nicht wiederkommen würde.

Dass die Veranstaltung nicht aufgelöst wurde - was die Polizei übrigens nur auf Anweisung des zuständigen Magistrats tut - liegt vermutlich daran, dass sie als Demonstration angemeldet war. Aktuell wäre dabei eine Maskenpflicht erforderlich, wenn der Sicherheitsabstand von einem Meter nicht gewährleistet werden kann.

Das Demo-Alibi ist mittlerweile Usus in der Szene, erklärt der DJ und Veranstalter: „Weil es in Wien keine kurzfristig mietbaren Flächen gibt, an denen man Open-Air-Partys veranstalten könnte und die Auflagen hoch sind, sucht man eben Grauzonen.“ Laut Wiener Veranstaltungsgesetz können nicht-angemeldete Tanzveranstaltungen mit einer bis zu 7000 Euro hohen Geldstrafe bestraft werden. Wer anmeldet, aber die Auflagen nicht erfüllt, dem droht dasselbe.

Bisher hat dieses Schlupfloch funktioniert, weil die Stadt Wien anscheinend nicht allzu genau hingesehen hat. Aber das ändere sich, so Tim Es Punkt. Er findet es schade, dass die Behörden nicht mehr Kooperationsbereitschaft zeigen: „Die Stadt Wien ist nicht bereit, anzuerkennen, dass es hier eine Kultur gibt, wenn auch eine kleine.“
Eine Kultur anzuerkennen ist das eine, das zu Corona-Zeiten zu tun, aber doch etwas anderes. Raves zu legalisieren, das wäre zu Coronazeiten fahrlässig. Oder?

Der deutsche Kulturjournalist Nils Erich behauptet genau das Gegenteil: Er schlägt vor, diese Partys gerade jetzt zu erlauben, um sie besser zu regulieren. Und obwohl das dem ursprünglich Ideal der illegalen Raves widersprechen würde, komme das den Anliegen der Szene sogar entgegen: „wir schauen ja immer noch auf unsere Omas, auch wenn wir raven“, so DJ und Veranstalter Tim Es Punkt. Auch die Vienna Club Commission (VCC), eine Interessensvertretung der Wiener Clubkultur, spricht sich dafür aus.

Den Feiernden wäre damit geholfen, die Clubs blieben aber weiterhin auf der Strecke. Einen Kompromiss, der auch die prekäre Lage der Nachtlokale miteinschließt, gibt es bisher nicht.

Auf Anfragen, welche Lösungen für die aktuelle Situation angedacht sind, verweist die Stadt Wien bloß auf den kurzfristig organisierten „Kultursommer“. Quer durch Wien werden zwei Monate lang 25 Open-Air-Bühnen zur Verfügung gestellt. Die organisatorische Abwicklung der aufwendigen Corona-Sicherheitsbestimmungen gewährleistet die Stadt.

Damit ist allerdings weder das Problem des drohenden Clubsterbens, noch der illegalen Corona-Partys gelöst. "Clubs sind existenziell bedroht: mit oder ohne Partys, die unter freiem Himmel stattfinden", erklärt die VCC. "Wenn der Bund die Clubs auch mit ausführlichen Konzepten für Prävention und Contact Tracing nicht aufsperren lässt, dann ist das legitim. Er muss dann aber dringend dafür sogen, dass die bereichernde Clubkultur und deren Angestellte nicht vor die Hunde gehen."

Aktuell sieht es für Wiens Nachtkultur nicht gut aus: Die Clubs werden sich den Sommer über stärker verschulden. Auf nichtregulierten Partys wird, wenn es warm ist, weiterhin getanzt werden.

Kurz nach Mitternacht stehen am mobilen Mischpult leere Getränkedosen. In der Luft hängt ein süßlicher Geruch. Auf der Tanzfläche verausgabt sich ein motivierter Raver mit Corona-Kurzhaarschnitt in weißen Tennissocken, sein T-Shirt hat er in die Hosentasche seiner Sporthose gesteckt. Bier gibt es an der Bügelbrett-Bar keines mehr. Der Rest der Menge trinkt jetzt die letzten mitgebrachten Weinflaschen, tratscht, tanzt und genießt. Daneben schmusen zwei Pärchen und wippen dabei im Takt. Corona, Isolation und Abstandhalten scheinen in diesem Moment zweitrangig.