Christian Rainer: Wo ist Christian Kern?

Opposition tut not. Die SPÖ ist dafür vielleicht besser geeignet als fürs Regieren.

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Der kürzest dienende Bundeskanzler der Zweiten Republik gewesen zu sein, muss schmerzen. Wer da keine Wirkung zeigt, ist vielleicht Politiker – aber er ist nicht Christian Kern. Dass ihm eine für diesen Berufsstand überhöhte Sensibilität zugeschrieben, ein sprödes Kinn attestiert wird, ist ja nicht die einzig mögliche Befundung des Kern- Charakters. Denn: Haben wir nicht Sebastian Kurz dessen aalig-ölige Glattheit vorgeworfen? Kritisieren wir nicht zeitgleich Kerns zur Schau getragene Intellektualität und Kurzens Unlust am Zitieren? Klagen wir nicht über die Häferl ebenso wie über die Fatzken?

Kern, umgekehrt gelesen, buchstabiert sich daher so: endlich einer, bei dem die Außenreize nicht an der Imprägnierung abperlen; einer, bei dem das Innenleben durch die Lederhaut nach außen dringen darf. In Skandinavien gab es vor einigen Jahren einen Premier, der sich über den Sommer wegen einer depressiven Verstimmung Auszeit nahm; er war danach noch beliebter als davor. Und überhaupt: Haben wir, habe ich den damaligen Bundeskanzler nicht als „unter den besten Europas“ verortet? Das geht doch nicht über die Nachwahlnacht verloren.

Das alles vorausgeschickt: Wo ist Christian Kern? Er ist auf Tauchstation (mit gelegentlicher Oberflächenortung wie seiner Freitagkritik an Kickls-Konzentrations-Lagerung).

Demokratie braucht Opposition. Die Konservativen sollten sich keine Republik ohne robuste Sozialdemokratie wünschen; die aktuelle Euphorie und die satte Genugtuung über den Durchfall der Sozis würden in einem orbánisierten, kaczyńskisierten Österreich postwendend der Ernüchterung über die Marginalisierung des Bürgertums und seiner Rechte weichen. Wenn die Bundes-SPÖ nicht schnell in die Spur findet, droht dieses Szenario; wenn Wien das Führungsvakuum nicht mit Neubeginn füllt, wird Johann Gudenus für den spritzerverwöhnten Rathausmann eine bierselige Republika Srpska errichten.

Dabei verlangen die Gegebenheiten ja nach Kritikern. Das Tor für die Opposition steht sperrangelweit offen. Für welche Opposition? Die Grünen sind zum abstrakten Begriff verkommen; die Liste Pilz hat sich selbst vergiftet; die NEOS verwalten über Wochen das Oppositionsmonopol. Wer also, wenn nicht er?

Die antifaschistische Haltung der SPÖ findet nun reale Angriffsflächen.

Die SPÖ hat gleich dreifach die Legitimation, zu opponieren.

Erstens gegen Schwarz: Schwarz-Blau macht Politik für den Mittelstand. Und nicht nur gegen die Faulen, sondern auch gegen die Bedürftigen: Beim Familienbonus, dem Gesellenstück des Kanzlers, wird Armut bestraft; da bleiben Leistungswillige auf der Strecke, wenn ihr Leistungslohn sie nicht in die richtige Einkommensklasse gehoben hat. Das bloßzustellen, zu erklären, anzuprangern, ist Aufgabe der SPÖ und eine Fingerübung. Klassenkampf gegen den Klassenkampf. Fruchtbarer Boden für die Linken.

Zweitens gegen Blau: Die antifaschistische Haltung der SPÖ findet nun reale Angriffsflächen. Mit einem Mal ist das keine Spiegelfechterei gegen Hinterbänkler. Sie zielt jetzt gegen die Machtzentren der Republik. Dort sitzen schlagende Burschenschafter und ihre Adepten. Der Kampf um Deutungshoheiten bringt im Gegensatz zum Klassenkampf nur wenige Wähler. Aber er eint die Partei – jetzt, da man sich die Freiheitlichen nicht mehr als möglichen Koalitionspartner stur schönreden muss.

Drittens: Die SPÖ ist durch ihre Historie für Opposition besser geeignet als fürs Regieren. Die Krise der Linken in den westlichen Demokratien hängt ja damit zusammen, dass die Ziele der Sozialdemokratie in hohem Maße erreicht wurden: Bildung für alle, Arbeiterrechte, Bekämpfung der Armut, Gleichstellung der Frau. Für eine revolutionäre Bewegung lässt sich da kein Krieg mehr gewinnen; mit Anpassen und Verwalten wird die Linke ihrer DNA nicht gerecht. Hinzu kommt, dass sich die makroökonomischen Rezepte der Sozialdemokratie mit der starken Berufung auf staatliche Lenkung als nicht belastbar erwiesen haben.

In der Opposition sieht das anders aus: Da darf eine Partei mit Worten, Visionen und Emotionen revolutionär und ungestraft über das Ziel hinausschießen. Die rechten Populisten haben das über Jahrzehnte getan, mit weniger sympathischen Inhalten, aber sehr erfolgreich.

[email protected] Twitter: @chr_rai