Kuratorin Beral Madra: "Ich bin nicht romantisch und meiner Heimat nicht übertrieben zugetan."

"Es geht mehr ums Überleben als ums Leben!"

Beral Madra über die Situation der Kunstschaffenden in der Türkei.

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profil: Die Organisatoren der Sinopale haben ihr internationales Programm aufgrund des Putschversuchs um ein Jahr verschoben. Die Canakkale-Biennale soll hingegen wie geplant starten. Woran liegt das? Beral Madra: Die drei Biennalen Sinopale, Canakkale und Mardin sind sehr unterschiedlich, obwohl sie alle mit internationalen Ausstellungen nachhaltig in ihren Städten wirken wollen. Die Canakkale hat die bessere Infrastruktur für internationale Veranstaltungen, starke Unterstützung durch die Stadtverwaltung und die Bevölkerung. Die meisten Künstler sind über die aktuelle Situation in der Türkei genau informiert und wollen auf jeden Fall kommen.

profil: Sehen Sie die künstlerische Freiheit nicht gefährdet? Madra: Im Augenblick müssen wir sehr wachsam sein, was jede Art der Einschränkung von Menschenrechten angeht. So sind derzeit viele Journalisten inhaftiert, offenkundig ohne akzeptable Begründung. Die Website siyahbant.org dokumentiert viele Beispiele von Zensur. Gegenwartskunst wird, sogar wenn sie regimekritisch ist, nicht als Bedrohung der herrschenden Ideologie angesehen - solange sie nicht öffentlich ausgestellt wird. Aber selbst wenn die Künstler ein breites Publikum ansprechen wollen, erreicht moderne Kunst in der Türkei nur die Eliten. Die letzte Istanbul Biennale hatte nur 500.000 Besucher -und das in einer Stadt von 15 Millionen, in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern.

Gegenwärtig ist dieses Land von ethnischen, religiös fundamentalistischen und neokapitalistischen Ambitionen bedroht.

profil: Sie haben Ihre Biennale unter das Generalmotto "Heimat" gestellt - ein politisch brisanter Begriff. Madra: Nach UN-Statistiken gibt es derzeit weltweit 24 Millionen Migranten, 20 Millionen davon sind Flüchtlinge. Unter diesen Umständen sich heute mit dem scheinbar unschuldigen Konzept der Heimat zu beschäftigen, heißt, sich mit umstrittenen und gefährlichen Ideologien zu konfrontieren.

profil: In welcher Weise hat sich Ihre Heimat zuletzt verändert? Madra: Ich bin nicht romantisch und meiner Heimat nicht übertrieben zugetan. Ich liebe es, in der Türkei zu leben, weil sie historisch und landschaftlich grandios ist. Mit den hier herrschenden Kräften bin ich schon seit meiner Jugend nicht zufrieden. Ich weiß, was Demokratie ist, habe das in der Türkei aber nie erfahren. Gegenwärtig ist dieses Land von ethnischen, religiös fundamentalistischen und neokapitalistischen Ambitionen bedroht; in dieser Situation geht es mehr ums Überleben als ums Leben.

Zur Person

Beral Madra, 76, geboren in Istanbul, ist als Kunstkritikerin und Kuratorin international aktiv. Sie verantwortete das Programm der ersten beiden Istanbul Biennalen (1987 und 1989) sowie zahlreiche Länderbeiträge der Türkei zur Kunstbiennale von Venedig. Derzeit leitet sie das künstlerische Programm der 5. Biennale in Canakkale, an der ab 24. September 40 internationale Künstler teilnehmen werden.