Deserteure als wahre Kriegshelden

Die wahren Kriegshelden: Wie prominente Österreicher dem NS-Terror widersetzten

Wie Österreicher dem NS-Terror widersetzten

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Im deutschen Bundestag wurden vergangene Woche Deserteure der Deutschen Wehrmacht offiziell rehabilitiert. In Österreich ist eine solche Würdigung bisher nicht erfolgt. Seit 2005 gilt zwar das so genannte „Aufhebungsgesetz“, mit dem die Urteile der NS-Militärjustiz für null und nichtig erklärt wurden, doch die Deserteure wurden darin nicht einmal erwähnt. Noch immer wird ihr Tun und Handeln von Teilen der Gesellschaft und Politik geächtet („Kameradenmörder“). Gern wird auch eingewandt, es sei zu prüfen, ob ein Deserteur aus politischer Überzeugung oder bloß aus „Feigheit“ desertiert sei. Eleonore Schönborn, die Mutter des Wiener Kardinals, berichtet, gewisse Leute hätten nicht mehr gegrüßt, als sich herumsprach, dass ihr Mann desertiert war.

Die von profil recherchierten Fälle zeigen vor allem eines: Wären Deserteure „feige“ gewesen, wären sie geblieben. Ihre Überlebenschance war nicht groß. Und jeder von ihnen kämpfte sein Leben lang mit seinen traumatischen Erinnerungen. Eine Ausstellung in Wien dokumentiert die Verbrechen der NS-Justiz gegenüber Fahnenflüchtigen und „Wehrkraftzersetzern“. Rund 15.000 Deserteure wurden im Zweiten Weltkrieg zum Tode verurteilt, darunter rund 1400 Österreicher. Dazu kommen tausende Haftstrafen und Versetzungen in ein Strafbataillon, was häufig ebenso den Tod bedeutete. Formal wurden die Gesetze der NS-Justiz in Österreich schon in den ersten Monaten nach der Befreiung 1945 aufgehoben. Doch die Behörden waren ignorant oder wussten nichts davon und die Betroffenen schon gar nicht. Der Dichter H. C. Artmann etwa wurde als Briefträger bei der Post 1946 als „vorbestraft“ abgelehnt. Der Schauspieler Fritz Muliar musste für seinen Opferfürsorgeantrag Anfang der fünfziger Jahre Zeugen und Anwälte aufbieten.

Währenddessen machten ehemalige NS-Militärrichter Karriere. Der frühere Justizminister Otto Tschadek (SPÖ) etwa war vier Jahre lang Militärrichter am Marinegericht in Kiel. Nach eigenen Angaben war er um Milde bemüht.
Bis 2005 wurden einem Deserteur die Zeiten der Haft für die Pension nicht angerechnet, im Gegensatz zu ehemaligen SSlern. Dass dies geändert wurde, ist vor allem dem Ehrenobmann des Vereins Gerechtigkeit für die Opfer der Militärjustiz, Richard Wadani, zu verdanken, der in den vergangenen Jahren unermüdlich für das Anliegen der Deserteure warb. In der Zeitung des EU-Abgeordneten Andreas Mölzer „Zur Zeit“ wird er als „Deserteurskapo“ dif­famiert.

Dietmar Schönherr, Schauspieler, 1926

Dietmar Schönherr entstammt einer altösterreichischen Generalsfamilie. Auch für ihn war die Offizierslaufbahn vorgesehen. Als Gymnasiast und Pimpfenführer der Hitlerjugend wurde er 1943 von der Ufa-Film entdeckt. Schönherr zögerte, doch die Gage, die geboten wurde, war höher als der Jahressold seines Vaters, der im Generalsrang diente und mit dem Widerstand sympathisierte. Schönherr nahm an. Die Eltern waren froh, dass der Sohn nicht einrückte, doch im Mai 1944 meldete er sich freiwillig zur Deutschen Wehrmacht, im Alter von knapp 18 Jahren. Wenige Monate später hatte er genug vom Krieg, doch Schönherr wagte es nicht wegzulaufen, aus Angst vor Sippenhaftung. In den April-Tagen des Jahres 1945 war Schönherr bei einer Einheit der Gebirgsjäger, die sein Vater kommandierte. „Der Krieg ist aus, du kannst tun, was du willst“, sagte dieser, und Schönherr ging mit einer Gruppe Soldaten in die Tiroler Berge, wo sie sich vor der SS versteckten, die nach Deserteuren fahndete. Der Bauer eines Berghofs nahm sie unter Lebensgefahr auf. Sein Vater verbarg sich unterdessen in der Scheune eines Onkels. „Über seine Kriegserlebnisse hat er nie geredet. Er war ein gebrochener Mann“, meint Schönherr.
„Wer desertiert ist, sollte als Held betrachtet werden und nicht als Feigling“, sagte er vor einigen Jahren in einem profil-Interview. Schönherr machte nach dem Krieg Karriere als Schauspieler, unter anderem mit „Der längste Tag“, einem Film über die Invasion der Alliierten 1944. Die Fernsehshow „Wünsch Dir was“ und die Hauptrolle in der Science-­Fiction-Serie „Raumpatrouille Orion“ machten ihn populär. Auch um seine Kriegserfahrungen weiterzugeben, engagierte er sich in der Friedensbewegung, später in der Nicaraguahilfe.

Oskar Werner, Schauspieler, 1922–1984
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Oskar Werner litt zeitlebens unter dem Krieg. Nach Auskunft seines Biografen Robert Dachs gründete die Lebenskrankheit des berühmten Schauspielers, der Alkoholismus, nicht zuletzt in den traumatischen Erlebnissen dieser Jahre.
Oskar Werner, der eigentlich Oskar Josef Bschließmayer hieß, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in Wien-Gumpendorf auf. Der Vater war Magazineur, die Mutter arbeitete in einer Damenhutfabrik. Die Ehe wurde früh geschieden. Dass Oskar Werner jemals ans Burgtheater kommen würde, war vorerst ein Traum, genährt von unzähligen Theaterbesuchen vom Stehplatz aus.
Er war 15 Jahre alt und schwer erschüttert, als er im November 1939, in der so genannten „Kristallnacht“ sah, „wie man siebzig Jahre alte Universitätsprofessoren mit Fußtritten zwang, mit der Zahnbürste das Trottoir zu waschen, weil sie Juden waren. Ich hab gesehen, wie die Synagogen brannten und die SA Scheiterhaufen mit Büchern von Sigmund Freud und Stefan Zweig errichtete.“ (Aus Robert Dachs: „Ein Nachklang“)
Im Oktober 1941 sprach Werner im Burgtheater vor und wurde im Alter von 18 Jahren das jüngste Ensemblemitglied, formell schon zur Wehrmacht eingezogen, für Vorstellungen jedoch beurlaubt. Der Dienst an der Front war ihm so erspart geblieben, doch wurde er tageweise zum Arbeitsdienst in ein Arbeitslager in Niederösterreich eingezogen, häufig auch zur Wache am Westbahnhof, wo er die Passagierscheine der
abrückenden Soldaten prüfte und bei Gelegenheit wegen angeblicher Überfüllung des Zugs dem einen oder anderen Jungen seines Alters einen kleinen Aufschub an die Front verschaffte.
Alles in ihm sträubte sich. In traumatischer Erinnerung blieb der Arbeitsdienst: „Für mich ist die Uniform ein Sträflingsanzug, und behandelt haben s’ uns eh wie Sträflinge. (…) Es war ein Klein-KZ. Ich musste Scheiße wegputzen und wurde immer sondergeschliffen; ich wollte mich umbringen“, erzählte er Dachs.
Um die Jahreswende 1941/42 wurde der Schauspieler zur Artillerieausbildung eingezogen und schwor sich, „niemals auf einen Menschen zu schießen“. Jeden Tag widerte es ihn mehr an. „Ich war für sie wohl die Verkörperung des Ariers, darum benahm ich mich wie ein Idiot.“ Beim Morsen gab er Zettel weiter, auf denen er beliebige Punkte und Striche gezeichnet hatte, vor Pferden hatte er Angst.
Im Frühjahr 1944 heiratete er seine Schauspielkollegin Elisabeth Kallina, im August kam ihre Tochter zur Welt. In diesem Jahr wurde das Wiener Arsenal, in dem Oskar Werner sich aufhielt, heftig bombardiert. Das Feuer, die Bomben, die Toten lösten bei Oskar Werner einen Nervenschock aus. Er bekam zwei Monate Genesungsurlaub und sollte danach an die Front geschickt werden. Am 8. Dezember 1944 entschloss er sich zu desertieren, besorgte sich Zivilkleidung und versteckte sich in Baden bei Wien.
Als Baden zu unsicher wurde, flüchtete die junge Familie, das Baby im Körbchen, zum Schrebergartenhäuschen einer Tante im Wienerwald, geriet jedoch mitten ins Artilleriefeuer und musste eineinhalb Tage, unter Beschuss zusammengekauert, vor der Hütte ausharren.
„Ich hätte uns umgebracht, wenn ich eine Waffe gehabt hätte. Ich bin 24 Stunden am elektrischen Stuhl gesessen mit meiner Familie. Und hab gewartet, dass der Volltreffer kommt“, erinnerte sich Oskar Werner.
Die Angst vor Gewittern hat ihn sein Leben lang gequält. „Es war mir wie ein Bombenangriff, akustisch und optisch ist es dasselbe“, erklärte Oskar Werner. Robert Dachs erinnert sich, dass sein Freund in solchen Situationen ein versteinertes Gesicht bekam, als sei der Krieg wieder gegenwärtig. Ein Amulett seiner Frau, das „Flucht­amulett“, legte der Schauspieler seit damals kaum noch ab. Er trug es selbst als sterbender Soldat in dem Film „Der letzte Akt“ von G. W. Pabst. Als Künstler war es ihm ein Anliegen, die Schrecken des Kriegs der jungen Generation bewusst zu machen. Mit dem französischen Regisseur François Truffaut, der ihn mit „Jules et Jim“ berühmt machte, zerstritt er sich bei den Dreharbeiten zu „Fahrenheit 451“ unwiderruflich. Die Art und Weise, wie eine Bücherverbrennung in Szene gesetzt wurde, fand er „zu läppisch“. Den amerikanischen Antikriegsfilm „Entscheidung vor Morgengrauen“, in dem Oskar Werner einen deutschen Deserteur spielte, der hingerichtet wird, bezeichnete er als sein Vermächtnis. Schwer enttäuscht war Oskar Werner über die Verdrängung der Verbrechen in den Nachkriegsjahren. Bei einer von ihm initiierten Gedenkveranstaltung im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen im August 1983 war kein einziger Politiker und kaum einer seiner Schauspielkollegen anwesend. Über seine geliebte Wachau, in der er als Kind oft gewesen war, sagte er laut Dachs: „Es ist furchtbar. In jedem zweiten Weinkeller ein Hitlermuseum.“

Fritz Muliar, Schauspieler, 1919–2009
Fritz Muliar hat noch kurz vor seinem Tod im Mai dieses Jahres die Deserteursausstellung nach Kräften unterstützt und gehofft, das Thema würde gesellschaftsfähig. Muliar war kein Deserteur im juristischen Sinn. Er stand wegen „Wehrkraftzersetzung“ vor Gericht. In seiner Kindheit in Wien waren die politischen Fronten noch quer durch die Familie gegangen. Seine Mutter war eine überzeugte Sozialdemokratin, die 1924 einen russischen Juden heiratete, was dazu führte, dass Muliar den jüdischen Religionsunterricht besuchte. Sein leiblicher Vater, ein Offizier, der sich allerdings kaum um den Sohn kümmerte, und dessen Verwandtschaft wurden später begeisterte Nationalsozialisten. 1938 musste Muliar seinen geliebten Stiefvater verabschieden, der in die USA emigrierte. Im ersten Kriegsjahr retteten den angehenden Schauspieler diverse Engagements vor dem Einrücken, doch am 20. August 1940 wurde auch Muliar eingezogen und kam zur Ausbildung in den Fliegerhorst nach Fels am Wagram, zu einer Kraftfahrerkompanie. Er war 21 Jahre alt und schlug sich ganz gut als Offiziersdiener durch, als „Pfeifendeckel“, wie die Wiener sagten. „Der Schwejk“, der sich mit List und Witz vor dem Kriegseinsatz zu drücken sucht und dessen Rolle später Muliars Ruf als Volksschauspieler begründete, habe sich damals schon angekündigt, schreibt Fritz Muliar in seinen Memoiren. Muliars Einheit wurde im Herbst 1940 nach Auxerre ins besetzte Frankreich verlegt. Muliar wurde bald in die Propagandakompanie gesteckt und arbeitete beim deutschen Soldatensender in Paris, verliebte sich in ein jüdisches Mädchen, das ihren Davidstern versteckt unter dem Mantel trug, stahl bei Gelegenheit ein paar Passierscheine und brachte sie über die Grenze in den damals noch unbesetzten Teil Frankreichs. Das sprach sich herum, und es kamen auch andere, die seine Hilfe suchten. „Irgendwie habe ich es als meine Pflicht empfunden, weil ich schließlich die Möglichkeit hatte“, sagte Muliar später. Es tat es allein, anvertrauen konnte er sich niemandem. Doch mit Witzen über den Führer und seiner Verachtung für die Nationalsozialisten hielt er sich nicht zurück. Er wurde von einem Kameraden angezeigt und kam vor das Feldgericht der 10. Fliegerdivision. „Zersetzung der Wehrkraft“, lautete die Anklage. Laut Bescheid der Opferfürsorge, um die er nach dem Krieg ansuchte, hatte er sich der „Führerbeleidigung, Verächtlichmachung des NS-Regimes“ und „Aufhetzung der Kameraden“ schuldig gemacht. Das Ersturteil lief noch glimpflich ab, vier Monate Haft, doch dann wurde Revision beantragt, und nun stand die Todesstrafe im Raum. Der 22-Jährige verfasste ein Testament, die Familie bat den Nazi-Vater um Hilfe, der die Strafe jedoch für gerecht hielt. Muliar bekam fünf Jahre, wurde in das berüchtigte Moorlager nach Elmshorn geschickt, zeitweise zur Zwangsarbeit bei IG-Farben abkommandiert, wo er so sehr unter giftigen Schwefeldämpfen litt, dass die Mutter bei einem Besuch zur Überzeugung kam, der Sohn werde das nicht überleben. Muliar stellte ein Gesuch auf Frontbewährung und gelangte, schon halb verhungert und krank, nach Russland. „Wir Strafsoldaten wurden elend behandelt. Man setzte uns zwischen den Linien für ungeheuer gefährliche Arbeiten ein. Wir waren durch Durchfälle und Bauchkrämpfe so fertig, dass an Flucht nicht zu denken war“, erzählte Muliar später. Einmal war er so verzweifelt, dass er in ein Minenfeld lief, um allem ein Ende zu setzen. In den letzten Kriegsmonaten, Muliar war mittlerweile in einem Sturmregiment der Fallschirmjäger in Italien, wurde er einem Exekutionskommando des Feldgerichts zugeteilt und sollte einen Deserteur erschießen. Er hat sich geweigert.

Michael Guttenbrunner, Schriftsteller, 1919–2004

Der Kärntner Schriftsteller und Autodidakt, der in einer Familie mit acht Geschwistern aufwuchs und dessen Vater eine Zeit lang als Pferdeknecht arbeitete und als Bauarbeiter tödlich verunglückte, hatte sich ursprünglich Hölderlin zum Vorbild genommen. Der Antrieb seines Schreibens war dann die Empörung gegen den Krieg und das Unrecht. Seine Prosatexte sind im achtbändigen ­Zyklus „Im Machtgehege“ versammelt. 1935 wurde Guttenbrunner wegen „illegaler Betätigung für die verbotene Sozialdemokratische Partei“ verhaftet. 1938 wurde er der Schule verwiesen, weil er sich geweigert hatte, das „Horst-Wessel-Lied“ zu singen. Im September 1939 befand er sich schon auf dem Balkanfeldzug und wurde von einem fliegenden Feldgericht in Griechenland wegen „Widersetzlichkeit“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Einen Teil der Strafe verbüßte er in einem Strafbataillon in Russland. Er wurde verwundet und stand, kaum aus dem Lazarett entlassen, neuerlich wegen „Ungehorsam“ (zu langes Haar) vor dem Kriegsgericht. Diesmal gab es zwei Jahre. Im August 1944 wurde er nach Süditalien in Marsch gesetzt. „Dort hat es sich dann dramatisch zugespitzt“, schreibt er. Das Stauffenberg-Attentat hatte sich bis zu den Abruzzen durchgesprochen, und Guttenberg sagte in Gegenwart eines Vorgesetzten, dass „jetzt schon die Preußengeneräle meutern und ihr hier mit Fleiß noch alles kaputt macht!“. Der Hauptmann ging auf ihn los, der Dichter schlug zurück und kam ein drittes Mal vor das Kriegsgericht. „Der Ankläger, Oberstabsrichter Dr. Prechtl, vertrat die These, dass nach allem, was erhoben worden und zweifellos gestellt sei, das Leben des Angeklagten für das Deutsche Volk und insbesondere für die Deutsche Wehrmacht jeden Wert verloren habe, und er mit dem Tode zu bestrafen sei, weil nun vor allem auch im Hinblick auf die allgemeine Situation des Reiches drastische Exempel zu statuieren seien“, schreibt Guttenbrunner in ­einem seiner Texte. Nach Interventionen aus der Truppe wurde die Todesstrafe gegen Guttenbrunner in eine Haftstrafe umgewandelt. Er wurde zur berüchtigten SS-„Sturmbrigade Dirlewanger“ abgestellt, die er in einem Prosatext als „militärisches Monstrum zum Zwecke doppelt rücksichtsloser Kriegsführung“ bezeichnete. Zu Weihnachten 1944 wurde er nördlich von Budapest verwundet. Kurz danach war er schon wieder in Slowenien eingesetzt und sah „in Reihen hingestreckte Kinderleichen. Sie waren als Geiseln erschossen worden.“ Er sei wohl „durch die Geburt ein Ketzer“ gewesen, sagte ­Guttenbrunner einmal über sich.

H. C. Artmann, Dichter, 1921–2000

Hans Carl Artmann hat jahrzehntelang über seine Deserteursvergangenheit geschwiegen. Erst als ihm 1997 der Büchner-Preis verliehen worden war, griff er das Thema in Interviews auf. Er habe sich nicht dazu geäußert, „sonst hätten mich die Nazis nicht mehr gelesen“. Der Sohn eines Schuhmachers, der vor dem Krieg als Büropraktikant arbeitete, wurde im November 1940 zur Wehrmacht eingezogen. Da war er 19 Jahre alt und machte sich mit einem Sack voller Bücher auf den Weg ins Feld. Ein halbes Jahr später rettete ihm ein deutsch-spanisches Wörterbuch, das er in der Brusttasche mitführte, das Leben. Eine Kugel, aus einem russischen Maschinengewehr abgefeuert, durchquerte erst der Länge nach den gesamten Buchblock des Vokabulars, um dann schräg nach unten Artmanns rechte Hüfte zu durchschlagen. Im Lazarett wurde seine Angst vor der Rückkehr an die Front immer größer, und „da bin ich durchgegangen, wollte über die Schweiz zu den Engländern rüber – gar nicht aus politischen, aus anarchischen Gründen“, sagte er später. Artmann wurde erwischt und bekam zwölf Jahre Zuchthaus wegen Fahnenflucht, abzudienen in einer Strafkompanie. „Da hab ich sofort wieder gedacht, ich geh durch, ich muss weg“, sagte Artmann. Im Jänner 1943 überstellte man ihn in ein bereits heillos überfülltes Wehrmachtsgefängnis bei Breslau. Kurz danach wurde er in ein Strafbataillon in Weißrussland transportiert. In diesen Einheiten wurden die Häftlinge unbewaffnet im Kampfgebiet zum Hindernisbau vor den eigenen Linien oder zur Räumung von Minen- und Leichenfeldern eingesetzt. Die Wachmannschaften hatten den Befehl zu schießen. An Flucht war nicht zu denken. Im Mai 1944 kam Artmann in ein Strafbataillon am Oberrhein, dem ein besonders übler Ruf vorauseilte. Den Neuzugängen wurde mitgeteilt, dass ihnen hier kein langes Leben beschieden sei, die Ermordung von Gefangenen war an der Tagesordnung. Artmann machte sich bei erster Gelegenheit davon. „Ich bin gelaufen wie ein Hirsch“, erzählte er einmal. Und wieder wurde er gefasst. Vergeblich hatte er sich, bekleidet mit einem entsprechenden Overall, als kanadischer Flieger ausgegeben. Noch einmal gelang es ihm, während eines Bombenangriffs auf das Gefängnis Döllersheim, in dem er nun einsaß, zu entkommen, diesmal mit Zivilkleidung aus der Gefängnisdirektion. Den Winter 1944 verbrachte er in einer kleinen Laube bei Wien, von der Mutter mit Essen versorgt. Doch ein Nachbar verriet ihn. Wieder kam er vor ein Kriegsgericht. Als zwei­facher Deserteur wurde er zum Tode verurteilt. Glücklicherweise funktionierte die NS-Bürokratie gegen Kriegsende nicht mehr wie am Schnürchen, und die Bestätigung des Todesurteils aus Berlin ließ auf sich warten: „Wie oft bin ich da in der Nacht niedergeschossen oder mit der Maschine geköpft worden, brrrr“, erinnerte sich Artmann. Er war noch einmal davongekommen. Als er sich 1946 bei der Post um eine Stelle bewarb, lief die Bürokratie schon wieder wie geschmiert. Man könne ihn leider nicht nehmen, er gelte als „vorbestraft“, wurde ihm beschieden.

Hans Lebert, Schriftsteller, 1919–1993

Der Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich, „als sich Wien plötzlich in eine miese Provinzstadt verwandelt hat, in der nur noch der Pöbel auf den Straßen war“, sei der traurigste Tag seines Lebens gewesen, sagte Lebert nach dem Krieg. Er wusste nur eines: „Da mache ich nicht mit.“ Der Sohn eines Fabrikanten, verarmt durch den frühen Tod des Vaters, hatte sich zum Opernsänger ausbilden lassen und konnte das erste Kriegsjahr mit kleinen Engagements übertauchen. 1941 bekam der damals 22-Jährige ­einen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht, den er jedoch ignorierte. Das hatte Folgen. Lebert wurde wegen „Wehrkraftzersetzung“ angeklagt. Während der Untersuchungshaft reifte in ihm die Idee, sich einer drohenden Versetzung in ein Strafbataillon oder noch Schlimmerem durch eine vorgetäuschte Geisteskrankheit zu entziehen, und erfand ein „amerikanisches Giftgassyndikat zur Ausrottung wehrfähiger deutscher junger Männer“. Aus der Zelle schrieb er Anzeigen an den Staatsanwalt. „Ich hab denen mit größter Akribie mitgeteilt, wie die Nacht für Nacht in mein Zimmer das Giftgas hereinlassen, und eine ganze Liste von Namen, die an diesem Giftgassyndikat beteiligt sind, unter anderem meinen eigenen Verteidiger, den Theaterdirektor und noch etliche“, erzählte Lebert 1992 in einem Interview. Auch weigerte er sich, seinen schwarzen Gummimantel abzulegen, selbst bei wärmsten Tempera­turen. Die NS-Behörden verhörten daraufhin tatsächlich seinen Verteidiger, um der Sache auf den Grund zu gehen, und wiesen Lebert schießlich in eine Anstalt für Geisteskranke ein. Auf Betreiben seiner Mutter kam Lebert in eine private Klinik, da schon Gerüchte umgingen, dass Geisteskranke ermordet wurden. Lebert wurde jedoch bald wieder entlassen und vor Gericht gestellt. Er gab eine bühnenreife Vorstellung. Mit irrem Gekicher näherte er sich dem Richter, setzte eine arrogante Miene auf und donnerte in den Saal, „dass sich dieser Gerichtshof nicht aus staatlichen Gerichtspersonen zusammensetzt, sondern vielmehr aus einer Bande schlechter Komödianten, die mir im Auftrag des amerikanischen Giftgassyndikats eine der mir schon sattsam bekannten Komödien vorspielen soll und daher keinerlei Beachtung bedarf“. Mit „Heil Hitler!“ setzte er sich wieder an seinen Platz. Ein Jahr später erhielt Lebert sein Ausmusterungsschreiben. Damals lebte er schon unbehelligt im Jagdhaus seines Onkels Alban Berg im steirischen Trahütten, nahm Kontakt auf zu österreichischen Partisanen, die sich im Kor­almgebiet versteckt hielten, versorgte sie mit Nachrichten und warnte vor anrückenden SS-Banden. Von Alban Berg zum Schreiben ermutigt, veröffentlichte Lebert nach dem Krieg, 1960, seinen Debütroman „Die Wolfshaut“. In der Geschichte geht es um ein österreichisches Dorf namens Schweigen, in dem Zwangsarbeiter ermordet wurden und die beteiligten Einwohner ohne Gewissensbisse weiterleben. Nur jene, die Skrupel hatten, zerbrechen daran. „Die Wolfshaut“ – für Literaturnobelpreisträgerin Elfriede ­Jelinek „eines der größten Leseerlebnisse ihres Lebens“ – fand in Österreich zuerst keinen Verlag und wurde in Deutschland herausgebracht. Auch Leberts zweiter Roman zu dieser Thematik, „Der Feuerkreis“ (1971), wurde vehement angefeindet. Erst in den vergangenen Jahren wurde Leberts literarische Leistung allseits gewürdigt.

Hugo-Damian Schönborn, Maler, 1916–1979

Als der letzte Schmuck der einst begüterten Familie im Jahr 1950 nach der Vertreibung aus der Tschechoslowakei endgültig verbraucht war und sich Eleonore Schönborn bei einer Firma in Bludenz als Fremdsprachensekretärin bewarb, waren es nicht nur ihre Herkunft und ihr schönes Prager Deutsch, was sie von anderen unterschied. Dass ihr Mann Hugo-Damian seine offene Tuberkulose in Davos auskurierte und das Gerücht umging, er sei ein Wehrmachtsdeserteur, machte die Sache nicht leichter. „Es war nicht so schlimm. Bestimmte Leute im Ort haben uns nicht gegrüßt“, sagt die heute 89-jährige Mutter des Wiener Kardinals Christoph Schönborn. Es muss eine Art von „amour fou“ gewesen sein, ganz unüblich in diesen Kreisen. Mitten im Krieg, 1942, hatte die junge Eleonore, Freiin von Doblhoff, bei einer Cocktailparty in Prag den deutschen Wehrmachtssoldaten Hugo Graf Schönborn kennen gelernt, der sie tags darauf besuchte und schon beim dritten Zusammensein fragte, ob sie ihn heiraten wolle. Und sie sagte Ja. „Die Eltern waren entsetzt, die haben gesagt, so was macht man nicht“, erinnerte sich Eleonore Schönborn in einem ORF-Radio-Interview im Juni 2009. Kurz danach musste Schönborn wieder an die Front, diesmal nach Russland, als einfacher Gefreiter, der sich beharrlich weigerte, Offizier der Wehrmacht zu werden, wie es seinem Stand entsprochen hätte. Die junge Ehefrau lebte von da an auf dem Schloss ihres Mannes bei Leitmaritz, nordwestlich von Prag, „nicht sehr schön, nicht sehr einladend, sehr kalt“. In den letzten Kriegswochen brachte sie ihren zweiten Sohn Christoph zur Welt. Im Mai 1945 wurden sie vertrieben. Eleonore Schönborn, deren Vater die österreichische Staatsbürgerschaft besaß, flüchtete mit den Kindern nach Graz, wo sie bei Freunden unterkam. Dort traf sie eineinhalb Jahre später ihren Mann wieder. Hugo-Damian Schönborn war desertiert und hatte sich der britischen Armee angeschlossen, unter der Bedingung, dass er nicht mit der Waffe in der Hand gegen seine ehemaligen Kameraden kämpfen müsse und als Dolmetscher beschäftigt werde. „Ich war nicht überrascht“, erzählt Eleonore Schönborn. „Vom Tag unserer Heirat an hat mein Mann mir gesagt, dass er dies tun werde, wenn die Chance sich ergäbe, eine englische Truppe zu finden. Die Gründe für diese Haltung habe ich mit ihm geteilt: Wir waren schon damals überzeugt, dass Hitler ein Verbrecher war und dass es richtig sei und dass es das Gewissen gebiete, möglichst wenig für diesen Krieg zu tun. Hugo wollte deshalb auch nie deutscher Offizier werden. Er hat als Gefreiter in Stalingrad gekämpft, wurde verwundet und mit dem letzten Flugzeug ausgeflogen. Wie so viele, die in Stalingrad gewesen sind, blieb bei ihm als beherrschendes Gefühl zurück, dass dieser Krieg nicht nur sinnlos und verloren, sondern verbrecherisch sei. Er war in der sudetendeutschen, deutschnational gestimmten Gesellschaft mit solchen Ansichten ein Außenseiter. Im Oktober 1944 ist mein Mann in Belgien zusammen mit einem Flamen zu den Engländern übergelaufen.“ Kardinal Schönborn hat nun den Ehrenschutz für die Ausstellung über Wehrmachtsdeserteure übernommen: „Weil meine Familiengeschichte damit zu tun hat, die ,richtige Seite‘ zu wählen, trotz aller Probleme und Fragen.“ Er wolle „den Opfern von damals Ehrfurcht erweisen. Es muss klar sein, dass dieser Krieg mit all seinen Begleiterscheinungen nichts mit Verteidigung zu tun hatte. Es war ein sinnloses Geschehen“, ließ er profil in einer Stellungnahme übermitteln.

Friedrich Cerha, Komponist, 1926

Spät erst wurde ihm bewusst, wie der Krieg in seine Musik eingeflossen ist. Geblieben sind auch „jahrzehntelang Albträume“, sagt Friedrich Cerha. Der Doyen der Neuen Musik in Österreich hatte sich in den fünfziger Jahren einer Gruppe junger Komponisten angeschlossen. Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und Luigi Nono gehörten zu jener Generation, die mit einer neuen Ästhetik, etwa dem Einbeziehen von Geräuschen als formbares Material, auf den Kulturschock des Zweiten Weltkriegs rea­gierte. „Mein Schaffen war geprägt von Angst, Depression, einer gewissen Aufmüpfigkeit, aber auch Bestürzung. Viele haben damals von der Gewalt des Ausdrucks in meiner Musik gesprochen. Das hat mich veranlasst, darüber nachzudenken. Ich habe die Wurzeln dieser Haltung in meinen Kriegserlebnissen gefunden“, sagt der Komponist gegenüber profil. Er redet nicht leicht darüber. Es kostet ihn Kraft, den Schrecken dieser Jahre wieder auferstehen zu lassen. Der Musikstudent war 17 Jahre alt, als er seinen Einberufungsbefehl erhielt. Auf dem Transport schon hatte er mit dem Gedanken gespielt abzuhauen. „Ich wollte mein Leben nicht für dieses Regime geben. Ich bin in Ottakring in einem sehr stark jüdischen Viertel aufgewachsen. Meine Freunde waren alle Juden. Ich konnte dem Antisemitismus nichts abgewinnen.“ Im Frühjahr 1943 kam Cerha auf eine Offiziersschule in Dänemark. Dort bot sich die Gelegenheit, auf der Schreibstube blanko unterschriebene Marschpapiere zu entwenden. Mit diesen Dokumenten setzte er sich eines Tages ab und nahm Kontakt zur dänischen Widerstandsbewegung auf. Seine mangelnden Sprach- und Landeskenntnisse ließen es geraten scheinen, den Jungen, ausgerüstet mit Adressen von NS-Gegnern und gefälschten Marschpapieren, wieder nach Deutschland zu bringen. Cerha fuhr in Uniform zu seinen angeblichen Einsatzorten, dreimal die Strecke Hamburg–Berlin–Stettin–Rostock. „Wie mir die Knie gezittert haben, als ich in Berlin, wo Deserteure schon an Lichtmasten gehangen sind, von deutschen Wehrmachtsstreifen kontrolliert wurde“, erinnert sich Cerha. Seine Eltern wussten nichts von diesem Unternehmen. Er war auf sich allein gestellt. In Stettin wurde er aus dem Zug geholt – „glücklicherweise, das ist das Groteske daran“, sagt Cerha – und in einer eilends zusammengestellten Noteinheit nach Pommern beordert, wo gegen die vorrückende Rote Armee gekämpft wurde. Im Laufe des Jahres 1944 kam er an die Westfront, wurde durch Handgranatensplitter leicht verwundet und nach Göttingen ins Krankenhaus gebracht. Auf dem Dachboden fand er einen Koffer mit Zivilkleidung, zog einen Anzug unter die Uniform und flüchtete in den Thüringer Wald. Hungernd und frierend irrte er in den Wäldern herum, schon in Zivil; an eine Tür zu klopfen, wagte er nicht. Auf einem Waldkamm geriet er zwischen die Fronten, Schüsse pfiffen von beiden Seiten, und Cerha ging in der Morgendämmerung auf die amerikanischen Sturmgeschütze zu, „langsam und friedlich, fast wie ein Wanderer, amerikanische Soldaten lagen in Schützenlöchern eingegraben, richteten ihre Gewehre auf mich, und ich ging ruhig weiter“, erzählt Cerha. Er wanderte südwärts, wäre fast in ein Minenfeld geraten, wenn ihn nicht ein Amerikaner gewarnt hätte, kam durch Franken und Bayern, wo die Menschen in diesen letzten Kriegswochen schon freundlicher waren. „Da hat man auch Essen bekommen, jeder hatte wohl Angehörige, von denen sie annahmen, dass sie sich in ähnlichen Zuständen befinden“, sagt Cerha. Er gelangte zu Fuß nach Tirol und verbrachte den Sommer 1945 in großer Einsamkeit in den Bergen. „Nach den Schrecken habe ich mich dort selbst wiedergefunden“, sagt Cerha. Der Komponist hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass er desertiert war. „Aber es verbittert mich heute noch, wenn Deserteure als Verbrecher und Verräter bezeichnet ­werden“. Mit seinem Freund H. C. Artmann, ebenfalls ein Deserteur, hat er oft darüber geredet.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling