Die Mordmaschine: Der Amokfahrer von Graz

Ist der Amokfahrer von Graz ein Simulant? Oder konnte er gar nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden? Die Gutachter sind sich uneins.

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„Ein Gericht ist nicht der Ort, an dem grundsätzlich Gerechtigkeit stattfindet. Da müsste schon der liebe Gott selbst eingreifen. Doch es gibt das Bemühen“, sagt Michael Lehofer, Leiter der Psychiatrie am Sigmund-Freud-Krankenhaus, der den Amokfahrer von Graz für kurze Zeit an seiner Klinik hatte.

Lehofer will den Gutachter-Streit im Grazer Amokfahrer-Prozess nicht kommentieren. Nur so viel: „Schizophrenie ist eine der am schwierigsten zu diagnostizierenden psychischen Krankheiten. Symptome wie Paranoia etwa treten auch bei schweren Persönlichkeitsstörungen auf. Eine Frage ist unter anderem: „Wie konsistent sind die vorgebrachten Wahnideen?“

Auf der Anklagebank im Grazer Schwurgerichtssaal hat am Dienstag vergangener Woche ein bleicher, glattrasierter, zusammengesackter Mann Platz genommen, offenbar vollgepumpt mit Psychopharmaka; ein aufgedunsener John Lennon, mit ebensolchen Brillen; der weiße Anzug schlottert, ein Hemd von fahlem Weiß hängt über die Hosen, alles ist zu weit, zu lang. Leere Augen, Grabesstimme. Kaum vorstellbar, dass bei diesem 27-Jährigen ein IQ von 130 gemessen wurde. Dass dieser Mann vor einem Jahr an einem blitzblauen Sommertag mit seinem schweren, dunkelgrünschillernden Geländewagen durch die Straßen von Graz schoss, auf Gehsteige auffuhr, in die Fußgängerzone hinein, Menschen ummähte und dabei nicht ein einziges Mal mit einem anderen Fahrzeug oder einem feststehenden Hindernis kollidierte, das ihn hätte stoppen können.

Menschenjagd

Momentaufnahmen einer Überwachungskamera von damals zeigen einen Triumphator im Ruderleiberl, der hochkonzentriert seinen Wagen lenkt. Zeugen berichten, einmal sei er stehen geblieben, ausgestiegen und habe mit einem Taschenmesser auf einen Mann und eine Frau eingestochen, die er vorher umgefahren hatte. Dabei habe er höhnisch gelacht oder gegrölt. Einmal habe er sich bei heruntergekurbeltem Seitenfenster lässig abgestützt. Er habe gelacht bei der Menschenjagd. Nur wenige hatten mit ihm Blickkontakt, denn sie rannten um ihr Leben. Doch alle erzählen, er hätte sie anvisiert, er sei direkt auf sie zugerast.

Es wurde still im Saal, als der Richter das Video von der Ersteinvernahme des Täters am Tag nach der Amokfahrt vorführen ließ. Darauf erscheint ein bärtiger, genervt wirkender Halbstarker in Shorts, die Beine breit gespreizt sitzt er da. Seine Füße wippen. Er mault, reagiert patzig auf Fragen. Weiß er, was er getan hat? Er sei selbst fast umgebracht worden und deshalb zur Polizei geflohen. Vielleicht habe er auf dem Weg jemanden gestreift. Er habe Stress und werde wie ein Hund behandelt in Graz, gibt Alen R. an. Alen R. hatte das Protokoll damals gelesen, korrigiert – etwa den Islam als sein Religionsbekenntnis herausgestrichen – und unterschrieben.

Alen R. ist nicht angeklagt. Die Staatsanwaltschaft beantragt die Unterbringung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher. Sie musste so handeln, weil zwei von drei psychiatrischen Gutachtern Alen R. für unzurechnungsfähig halten und Verdacht auf paranoide Schizophrenie diagnostizieren. Ein Gutachter hält Alen R. für zurechnungsfähig und attestiert ihm eine schwere Persönlichkeitsstörung. Auch die beiden Staatsanwälte lassen durchblicken, dass sie Alen R. für schuldfähig halten. So ist dieser Prozess ein seltenes Zwitterwesen: ein als unzurechnungsfähig eingestufter Täter wird von einem Richtersenat befragt, als hätte er zum Tatzeitpunkt gewusst, was er tat. Die Stimmung bei Zuschauern und Opfern ist ebenfalls eindeutig. Ein Simulant, so heißt es. Die Vorstellung, dass Alen R. keiner Strafe zugeführt wird, ist in Graz eine Provokation. Anstalt statt Strafe, das will hier keiner hören.

Und dann ist da noch ein böser Verdacht. Nach islamistischen Terroranschlägen in Paris, Brüssel und Nizza, nach Aufrufen von IS-Propagandisten, mit einem Auto durch Einkaufsstraßen zu brettern und mit Messern zuzustechen, wird auch die Amokfahrt in Graz in diesem Licht betrachtet. Dass der Amokfahrer wegen eines Autoverkaufs von einem – nicht rechtskräftig verurteilten – dschihadischen Grazer Prediger kontaktiert worden war, dass er von seiner Frau verlangt haben soll, Burka oder Kopftuch zu tragen, dass er zahlreiche Follower aus dem arabischen Raum auf seinem Twitter-Account hatte, hat Spekulationen angeheizt. Der Verfassungsschutz ging all dem nach, fand jedoch keinen Hinweis auf einen islamistischen Hintergrund.

Und nun soll das Ereignis jeden Sinns enthoben, der Täter geisteskrank sein?

Therapeutische Funktion

Wahrscheinlich kennt jeder einen Menschen, der an diesem Tag in der Innenstadt war oder hätte sein können. Der Prozess hat auch therapeutische Funktion. Mehr als 100 Zeugen wurden geladen: Die, die einen Angehörigen verloren haben, die selbst schwer verletzt wurden, ebenso wie die, die noch rechtzeitig zur Seite springen konnten. Sie erzählen, wie der Amokfahrer seinen SUV wie ein Geschoss vorwärts trieb, auf Fußgänger und auf Radfahrer zu, über Gehsteige und durch die Fußgängerzone, scharfe Kurven in hohem Tempo nehmend, menschliche Ziele anpeilend; wie ein Kleinkind erfasst, die Beinchen in der Luft, unter das Auto gezogen, Körper auf der Windschutzscheibe, Totenstille, wieder Aufheulen eines Motors, Schreie, Knallen, und überall Blut. Es wird oft geweint. Der Vater, der sein Kind verlor, schaffte es nicht, vor Gericht zu erscheinen. Seine Familie wird nie wieder einen Fuß in die Innenstadt setzen. Die junge Bosnierin, die mit ihrem gerade erst angetrauten Ehemann von dem Auto erfasst wurde, sagt: Mit ihrem Mann habe sie damals ihr Leben verloren. Schmal und blass mit viel zu vielen Metallplatten im Körper sitzt sie im Zeugenstand. Sie stammt zufällig aus der Geburtsstadt ihres Mörders.

Alen R. starrt ungerührt in ihren Rücken. Er zeigt keinerlei Gefühle, keine Reue. Immer wieder sagt er mit monotoner Stimme: „Es tut mir leid, aber ich bin selbst ein Opfer.“ Immer öfter sagt er im Laufe der Verhandlung, er könne sich nicht erinnern.

Was weiß man von Alen R.? Mit vier Jahren war er als bosnischer Kriegsflüchtling aus der heftig umkämpften muslimischen Enklave Bihac nach Österreich gekommen. Sein Vater war schon vorher als Gastarbeiter hier gewesen. Er war 17 Jahre alt, mit nicht mehr als einem Pflichtschulabschluss, als seine Familie in Kalsdorf, einer kleinen Gemeinde südlich von Graz, ein altes Haus kaufte. Es ist heute noch ein Fremdkörper inmitten weißer Villen mit gestutzten Hecken und Blumenrabatten, ein hässliches Gebäude mit giftig-gelbem Anstrich zur Straße hin, an einer Seite unverputzt und roh. Mehr schlecht als recht lebten sie vom Ankauf schrottreifer Autos, die sie billig weiterverkauften. Im zweiten Stock hatte Alen R. mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kindern gelebt, sich oft in sein Zimmer eingeschlossen. Damals habe es angefangen mit den bedrohlichen Stimmen am Telefon, den Verfolgern, den Versuchen, ihn zu vergiften, dem Steinewerfern an sein Fenster, den Ankündigungen im Internet, man wolle ihn umbringen. Das hat Alen R. den Ärzten erzählt. So begründet er auch seine Amokfahrt. Er habe an jenem Tag am Griesplatz Schüsse gehört, sei in Panik geraten, er habe seine Verfolger gesehen, die bedrohliche Zeichen machten, er habe Angst um sein Leben gehabt und bei der Polizei in der Innenstadt Schutz gesucht.

"Horrorfamilie"

Lang vor der Amokfahrt galten die Zuzügler in Kalsdorf als „Horrorfamilie“. Es gab Dutzende Anzeigen gegen sie. Erst 2014 wurden Alen R. Waffenschein, Gewehr und Munition abgenommen, nachdem er im Garten herumgeballert hatte. Anrainer sagten, sie hätten vor den Eltern mehr Angst gehabt als vor dem Jungen. 2011 sei plötzlich eine junge Frau dagewesen, die ihren Kinderwagen die Straße entlang schob, immer hin und her, nie über die Grundstücksgrenzen hinaus. Niemals habe man sie im Ort allein gesehen. Sie sei „wie eine Gefangene gehalten“ worden und habe eingeschüchtert gewirkt. Seine zweite Ehefrau. Seine erste Ehe mit einer Bosnierin hatte nur wenige Monate gehalten.

Wenige Wochen vor der Amokfahrt war diese zweite Ehefrau mit den beiden kleinen Kindern in ein Frauenhaus in Graz gezogen. Er hatte sie häufig geschlagen, und sie hatte mit Rückhalt ihrer Familie Anzeige erstattet.

Alen R. sagt nun, hinter all den Männern, die ihm Böses wollen, stecke sein Schwiegervater. Ob diese Wahnidee nun konsistent ist oder nicht: Je mehr Abscheulichkeiten über den sozialen Hintergrund des Angeklagten bekannt werden, desto klarer wird das Bild eines rundum giftigen Cocktails des Lebens.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling