Außenminister Sebastian Kurz

Sebastian Kurz: Die Ideenwelten des Außenministers

Welches Bild von Gesellschaft, Migration und Kontrolle hat Sebastian Kurz im Kopf? Edith Meinhart über die Ideenwelten des Außenministers.

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Massenweise Leichen spuckte das Mittelmeer bereits aus. 2918 zählte das „Missing Migrants Project“ allein in den ersten fünf Monaten des heurigen Jahres. Wer möchte da widersprechen, wenn der österreichische Außenminister befindet, die Überfahrten in klapprigen Booten müssten ein Ende haben? Klar. Warum aber stellt Sebastian Kurz ausgerechnet Australien als Vorbild hin, wo die Zustände in den Internierungslagern schlicht entsetzlich sind? Vor ihm hat das nur die FPÖ gemacht. Und als wäre das nicht genug, hievt der für Äußeres, Europa und Integration zuständige ÖVP-Minister in konzertierten Interviews ein paar griechische Inseln in die Debatte, die sich dafür eignen sollen, Bootsflüchtlinge vom europäischen Festland fernzuhalten.

Kurz ist kein Intellektueller, der ins Blaue hinein sinniert. Für einen Regierungspolitiker mit seriösen politischen Absichten ziemte es sich, die Insellösung im Rat der EU-Außenminister zu ventilieren. Dass Kurz darauf verzichtete, lässt auf einen unilateralen Streich schließen. Kann es sein, dass der ÖVP-Politiker glaubt, er komme im europäischen Flüchtlingsdrama auch nur einen Millimeter im Alleingang weiter? Eher nicht. Bleibt als Erklärung, dass ihn der innenpolitische Effekt auf die beträchtliche Außenwirkung seines Amtes vergessen lässt. Abseits von der Verstörung im Ausland und dem Zank in Österreich, den er damit ausgelöst hat, stellen sich Fragen: Welches Bild von Gesellschaft, Migration und Kontrolle hat der Außenminister im Kopf? Wie sortieren sich seine Aussagen in internationale Debatten ein? Verfügt er über Inspirationsquellen und Vorbilder?

Menschenrechtliche Ansprüche fallen

Auf dem Feld der Migrations- und Flüchtlingspolitik gibt es kaum noch unverrückbare Positionen. Das erschwert die Antwort. Der EU-Kommission sitzt die Angst vor einem Rechtsruck in Frankreich im Nacken. Zufall oder nicht, eben als die Kurz’sche Provokation vergangene Woche die Schlagzeilen kaperte, stand in Brüssel die Veröffentlichung eines Papiers an, das die Abschottung des Kontinents vorantreibt. Die Kommission, in nicht allzu ferner Vergangenheit noch verlässliche Hüterin der Verträge, lässt ihre menschenrechtlichen Ansprüche fallen. Jordanien, Tunesien, Libanon, Niger, Mali, Äthiopien, Senegal, Nigeria und Libyen werden in Migrationspartnerschaften gedrängt, weitere Länder aus Afrika und Asien sollen folgen. Geld und Handelserleichterungen gibt es künftig nur mehr, wenn Staaten rigoros gegen Menschenschmuggler vorgehen, Migranten aus Europa zurücknehmen und Flüchtlinge bei sich behalten. Dafür locken Investitionen von bis zu 62 Millionen Euro. Länder, die nicht mitspielen, müssen mit Sanktionen reden.

Die Vorschläge der EU-Kommission wurden publik, nachdem Kurz erklärt hatte, mit der Rettung aus dem Mittelmeer verbinde sich nicht automatisch ein „Ticket nach Europa“. Das ist falsch, wenn man unter diesem „Ticket“ den „Anspruch auf ein individuelles Asylverfahren“ versteht. Einen solchen haben aus Seenot evakuierte Flüchtlinge sehr wohl. Unterm Strich schmiegte sich der Vorstoß des Außenministers aber so gut an die Initiative aus Brüssel, als hätten seine PR-Berater die Zeitpläne abgestimmt.

Es hat Methode, dass die Unterschiede erst beim zweiten Blick ins Auge stechen. Kurz versteht es, brennende Probleme anzusprechen. Doch nicht zum ersten Mal rückt er sie gleichzeitig in ein populistisches Eck. Ein Beispiel: Bis heute gibt es keine legalen, sicheren Pfade nach Europa. Das führt dazu, dass vor allem jene durchkommen, die jung und stark sind und sich Schlepper leisten können. Um zu verhindern, dass die Schwächsten auf der Strecke bleiben, debattiert man auf europäischer und UN-Ebene Schutzzonen. Dort sollten auch die Chancen auf Asyl abgeklärt werden. Kurz münzte den Vorschlag vergangene Woche zu einer Verpflichtung um: „Wer in ein Boot steigt und versucht, illegal nach Europa zu kommen, hat seine Chance auf Asyl verwirkt.“ Damit löst er Beifall von der rechten Seite aus, boykottiert aber eine vernünftige Auseinandersetzung.

"Kein Durchkommen nach Mitteleuropa"

In freundlichem Licht betrachtet, muss man ihm zugestehen, die politische Kunst der Abschreckung zu beherrschen, die in weiten Teilen Europas mittlerweile hoch angesehen ist. Sie flankiert die Botschaft des EU-Ratspräsidenten Donald Tusk („Do not come to Europe“) ebenso wie die Linie der Visegrád-Gruppe. Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sehen sich gerne als Opfer, und zwar sowohl der deutschen Willkommenskultur als auch der Länder im Süden, die es nicht schafften, die Außengrenzen zu schützen. Kurz fordert „kein Durchkommen nach Mitteleuropa“ und hofft, dass sich die Warnung weit herumspricht, wie er der „NZZ“ verriet: „Dann werden sich wesentlich weniger Menschen auf den Weg machen, und den Schleppern wird das Handwerk gelegt.“

Visegrád steht für nationalistische Alleingänge. Die Länder wehren sich gegen Einwanderung im Allgemeinen und Muslime im Besonderen. Laut Migrationsforscher Bernhard Perchinig fehlen diesen Staaten zwei für Westeuropa prägende historische Erfahrungen: die Frauenbewegung der 1960er-Jahre und die Gastarbeiter. Österreich erweise sich in dieser Hinsicht als Gebilde dazwischen. In europäischen Wertestudien rangiert das Land mit hohen Autoritarismuswerten und gering geschätzten persönlichen Freiheiten regelmäßig näher bei Ungarn als bei Deutschland. Kürzlich erklärte Minister Kurz, der kaum eine Gelegenheit auslässt, die besondere Beziehung sowohl zu Osteuropa als auch zum Westbalkan hervorzustreichen, in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: „Die Region ist uns nicht nur historisch und kulturell, sondern auch politisch und wirtschaftlich sehr verbunden.“

Die Umarmung erstreckt sich nicht auf Griechenland, das seit der Schließung der Westbalkan-Route zum Auffangbecken zu werden droht. Das Relocation-Programm, das Entlastung versprach, hebt und hebt nicht ab. Von 65.000 Flüchtlingen sind erst rund 700 auf Europa verteilt. Dass die Zustände in den Hotspots schlimmer werden, wirkt – so hartherzig das klingt – einkalkuliert: Vielleicht kommen dann weniger nach. Gewiss wurden in der Marscheuphorie des Vorjahres viele mitgerissen, die andernfalls in der Türkei oder in Nordafrika geblieben wären. Doch NGO-Vertreter hegen nicht den geringsten Zweifel, dass jene, die flüchten müssen, sich auch in Zukunft auf den Weg machen werden. Ihre Reisen werden nur noch gefährlicher und teurer. Für diesen Befund spricht, dass selbst im abgeriegelten Ungarn jede Woche über 1000 Menschen Asyl suchen, fast so viel wie in Österreich. Sie kommen mit Schleppern ins Land, versteckt in Kastenwägen und Lkws.

"Vor Ort helfen" bedeutet nicht "Abschottung"

Dass man die Not am besten dort bekämpft, wo sie entsteht, sagen alle – auch Minister Kurz. Man muss diese Behauptung nur ein bisschen weiter drehen, dann wird daraus: Den Ärmsten kann überhaupt nur dort geholfen werden. Das ist, nebenbei bemerkt, falsch: Remittances, also Gelder, die von Migranten in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden, können nachweislich bessere Effekte haben als Mittel der Entwicklungszusammenarbeit. Vor Ort helfen bedeutet unter diesem Gesichtspunkt nicht Abschottung, sondern Migration zuzulassen und zu steuern. Von der vermeintlich plausiblen Behauptung, nützlich sei Hilfe nur vor Ort, ist es wiederum nur ein kleiner Schritt bis zur rechtsextremen Position, Europa müsse sich vor „Invasoren“ schützen.

Hier ist Kurz dann doch bei der EU-Kommission. Brüssel pocht bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf mehr Engagement. Während die Visegrád-Länder niemanden aufnehmen, schwebt Kurz eine „verkraftbare“ Zahl vor. Vergangene Woche kündigte er an, bis zu 15.000 weitere Flüchtlinge ins Land zu holen. Sein Bild von der Einwanderungsgesellschaft aber bleibt verschwommen. Als Integrationsminister zog er mit der Parole „Integration durch Leistung“ durch das Land. Er stand auf der Seite des britischen Premiers David Cameron, als dieser in Brüssel die Erlaubnis durchboxte, die Sozialleistungen für Einwanderer zu kürzen.

Redet Kurz über die Gefahren der demografischen Entwicklung, blitzen die Ideen Gunnar Heinsohns durch. Der deutsche Soziologe lehrt am Nato Defense College Kriegsdemografie. Seine These erscheint plausibel, ist aber auch nicht unumstritten: In Gesellschaften mit hohen Geburtenraten rittern viele junge Männer um wenige frei werdende Jobs. Das erhöhe den Druck auszuwandern und irgendwann die Neigung, bewaffnete Konflikte anzuzetteln. In Schwarzafrika, dem arabischen Raum und in Südasien, den großen Rekrutierungsräumen der aktuellen Migration, drängen sich zwei Milliarden Menschen. Mitte des vorigen Jahrhunderts waren es noch 400 Millionen. Geht es nach Heinsohn, steht Europa nun vor der Wahl, entweder humanitär zur Weltspitze zu gehören – oder ökonomisch.

Kein Zweifel, dass Kurz zur zweiten Fraktion gehören will.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges