profil-Redakteur Lahodynsky mit Jacques Delors
Zu viele Blockierer

EU-Politik: Zu viele Blockierer

Seit über 30 Jahren verfolgt Otmar Lahodynsky die EU-Politik. Im Zuge der Europawahlen blickt er auf versäumte Chancen zurück und analysiert die Ursachen für den Aufstieg von Populisten.

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"Ohne EU-Mitgliedschaft wäre Polen fast schon eine Diktatur. Doch bisher hat sich unsere Regierung noch immer an Urteile des Europäischen Gerichtshofs gehalten." Ein hoher Richter hat mir dies vor Kurzem in Polen erklärt. Die rechtsautoritäre Regierung in Warschau hat die Justiz zu einem großen Teil unter ihre Kontrolle gebracht, dazu noch einen Großteil der Medien. Das staatliche Fernsehen gleicht schon lange einem Propagandasender. In den Debatten vor den Europawahlen kamen oppositionelle Politiker so gut wie nie vor -und wenn doch, dann nur als Karikaturen.

So wurde kürzlich EU-Ratspräsident Donald Tusk, ein Lieblingsgegner von PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński, mittels Fotomontage in SS-Uniform dargestellt -in Polen die schlimmste Beleidigung. Bei all ihren Attacken auf die EU verschweigt die rechte Regierung eine Tatsache: Polen hat seit dem Beitritt im Jahr 2004 bereits über 100 Milliarden Euro an Förderungen der EU erhalten. Und diese Geldströme aus Brüssel haben Polen zu einem erstaunlichen Aufschwung verholfen: Das Land weist seit Jahren ein stetes Wirtschaftswachstum auf, die Arbeitslosigkeit ist gering. Wohl auch deshalb zählt die EU-Zustimmung der Bevölkerung zu den höchsten in der EU. Warum kommen die antieuropäischen Parolen der Regierung trotzdem so gut an?

Es ist ein Phänomen, das ich schon als Korrespondent in Brüssel vor 30 Jahren und bis heute immer wieder beobachten konnte. Wohltaten der EU werden von den nationalen Politikern als ihr Verdienst ausgegeben. Unangenehme Entscheidungen haben dann die "Bürokraten in Brüssel" verschuldet. Notfalls wird erklärt, dass man dort leider überstimmt worden sei.

Mir ist in Erinnerung geblieben, wie der frühere Bundeskanzler Wolfgang Schüssel nach einem EU-Gipfel triumphierend erklärte, er habe sichergestellt, dass die Asylpolitik weiter nationale Angelegenheit bleibe. Zehn Jahre später kam die Migrationswelle syrischer Flüchtlinge, und heimische Politiker machten der EU zum Vorwurf, dass sie keine Regelungen im Asylbereich verabschiedet habe. Es läuft immer nach dem gleichen Schema ab, auch in der Finanzkrise ab 2008: Zuerst gibt man der EU keine Kompetenzen, weil man lieber allein national entscheiden will; im Ernstfall schreit man dann nach europäischen Lösungen.

Das Europäische Parlament, dessen Abgeordnete an diesem Sonntag neu gewählt werden, wird von nationalen Regierungen und Abgeordneten nach einem ähnlichen Muster bewertet: Regulierungswahn, intransparente, bürgerferne Entscheidungen, Spesenritter. Dass mehr als 80 Prozent der österreichischen Gesetze einen europäischen Ursprung haben, wird meist verschwiegen. Dabei kommen von dort oft Regelungen, die den Alltag der Europäer positiv beeinflussen.

So hat das Europaparlament die teuren Roaminggebühren abgeschafft und erst vorige Woche die Tarife für Auslandsgespräche auf ein Drittel gesenkt. "Die Telekom-Konzerne haben mich zuerst ausgelacht", erinnert sich der österreichische EU-Abgeordnete Paul Rübig (ÖVP), der dann eine wirksame Allianz mit der luxemburgischen EU-Kommissarin Viviane Reding schmieden konnte. "Wir haben EU-Bürgern damit viel Geld erspart", zieht Rübig stolz Bilanz.

EU-weite Garantiebestimmungen, gleiche Bedingungen für Käufe im Internet, Regelungen für Lkw-Fahrer und Tiertransporte, strenge Umweltschutzauflagen -die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Sogar die umstrittene Glühbirnenverordnung, die ein Lobbying-Erfolg der Hersteller von Energiesparlampen war, habe bisher die Leistung zweier Atomkraftwerke eingespart, betont Othmar Karas, ÖVP-Spitzenkandidat. Und die Pommes-Verordnung soll eigentlich nur das krebserzeugende Acetylamid reduzieren helfen.

Erst vorigen Monat hat das Europäische Parlament den verpflichtenden Einbau von Abbiegeassistenten für neue Lastautos beschlossen. Nach dem tödlichen Unfall eines Schülers in Wien konnte der nun abgelöste Verkehrsminister Norbert Hofer eine solche nationale Regelung gegen die heimische Lobby der Lkw-Unternehmen nicht durchsetzen.

Die EU hat in allen Mitgliedsländern zu wenige Fürsprecher. In Großbritannien haben sich kaum Personen oder Institutionen gefunden, die auf die schlimmsten Lügen der Brexit- Befürworter reagiert hätten. Dass sich die EU-Kommission nie in die Diskussion vor dem Referendum eingemischt hat, sei der schlimmste Fehler seiner Amtszeit gewesen, räumte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein.

Es fehlen heute auch Politiker, die nicht immer zuerst an das eigene Land und die eigenen Wähler denken. Der deutsche Kanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident François Mitterrand brachten über die deutsch-französische Achse vieles für das gemeinsame Europa in Bewegung. Kohl setzte sich zudem wiederholt für die Interessen kleinerer Länder ein. Belgiens Außenminister Paul-Henri Spaak hat es so formuliert: In der EG gebe es zwei Kategorien von kleinen Staaten: kleine Länder und solche, denen ihre Kleinheit im weltweiten Maßstab noch nicht bewusst sei.

Dass die EU-Regierungschefs lieber schwächere Politiker als EU-Kommissionspräsidenten auswählten, erfolgte mit voller Absicht: Die "Reichsfürsten" (©Johannes Voggenhuber) wollen keine starke Konkurrenz an der Spitze der EU-Kommission. Wahrscheinlich war Jacques Delors einer der letzten Kommissionschefs mit Weitblick und Durchsetzungskraft. Der französische Sozialdemokrat trat sein Amt an, als die Europäische Gemeinschaft noch hauptsächlich mit landwirtschaftlicher Überproduktion beschäftigt war. Als ich Ende 1988 nach Brüssel übersiedelte, lieferten noch Butterberge, Milchquoten und Demonstrationen von Bauern in Brüssel Schlagzeilen. Manchmal kippten erboste Landwirte Gülle oder Zuckerrüben vor dem Charlemagne-Gebäude des Ministerrates auf die Straße.

Gegen alle nationalen Widerstände verwirklichte Delors den grenzenfreien Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Noch bis in die 1990er-Jahre gab es Zölle und Grenzkontrollen, an denen die jeweilige Mehrwertsteuer fällig wurde.

Nationaler Protektionismus musste zuerst überwunden werden. Das ging nur mit Hunderten Richtlinien, die bis heute zum Vorwurf der Regulierungswut beitragen. Frankreich sperrte angeblich zu laute Rasenmäher aus England aus. Also sorgte eine Richtlinie für maximal zulässige Lautstärke dafür, dass alle Fabrikate, welche diese Norm einhielten, in allen Ländern der Gemeinschaft verkauft werden durften. Italienischer Panettone-Kuchen enthielt einen angeblich gesundheitsgefährdenden Konservierungsstoff. In der Folge gab es eine verpflichtende Liste aller zulässigen Aroma-und Zusatzstoffe.

Delors sah Österreichs Beitrittswunsch lange als Störmanöver für seinen Binnenmarkt. Außenminister Alois Mock überreichte im Juli 1989 trotzdem den Beitrittsantrag. Und ich sorgte für Schlagzeilen mit einem Interview mit dem belgischen Außenminister Mark Eyskens, der einen seltsamen Vorschlag machte: Die EG sollte mit der Sowjetunion Verhandlungen über unsere Neutralität beginnen, im Gegenzug für ein Handelsabkommen mit den Sowjets.

Das Europäische Parlament hatte damals noch nicht viel mitzureden. Aber mich faszinierten schon damals die freien Abstimmungen ohne Klubzwang und die unterschiedlichen Persönlichkeiten: Da saß Otto Habsburg als CSU-Abgeordneter friedlich neben dem deutsch-französischen 68er-Grünen Daniel Cohn-Bendit.

Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 wandelte sich auch die Europäische Gemeinschaft. Nach Österreich klopften nun die Efta-Staaten Norwegen, Schweden, Finnland und sogar die Schweiz in Brüssel an. Und auch Delors gab seinen Widerstand auf, nicht zuletzt im Hinblick auf neue "Nettozahler". Beeindruckt habe ihn das geschlossene Auftreten der Österreicher für den Beitritt, etwa beim Besuch der vier Sozialpartner-Präsidenten in seinem Büro, erzählte er mir später.

Die Geschlossenheit endete jäh nach der EU-Volksabstimmung im Juni 1994. Trotz des legendären Bussis von Außenminister Alois Mock für die SPÖ-Staatssekretärin Brigitte Ederer durfte diese den EU-Vertrag nicht mitunterzeichnen.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus kamen bald die neuen, frei gewählten Politiker aus Mittel-und Osteuropa nach Brüssel, darunter Václav Havel, Lech Wałęsa, Jiří Dienstbier, József Antall. Sie alle hatte ich in den 1980er- Jahren, als sie Dissidenten waren, regelmäßig besucht und interviewt. Dass sie mich in Brüssel wiedererkannten, freute mich.

Die erste schwarz-blaue Regierung in Österreich war ein europäischer Tabubruch - erstmals war mit Jörg Haiders FPÖ eine rechtspopulistische Partei in einer nationalen Regierung vertreten. Lob gab es damals von der späteren deutschen Kanzlerin Angela Merkel. "Bei allen Beschwernissen, die man mit einer Partei wie der FPÖ sicher auch hat, war diese Regierung für die Entwicklung Österreichs doch sehr hilfreich", sagte mir Merkel in Berlin.

Gelähmt von den Sanktionen der 14-EU-Partner, versäumte die Regierung eine Allianz mit den neuen EU- Beitrittskandidaten. Die "Strategische Partnerschaft", die Außenministerin Benita Ferrero-Waldner schmieden wollte, blieb ein Papiertiger. Und Erhard Busek, der als bester Kenner dieser Länder Regierungsbeauftragter für die Osterweiterung wurde, fiel bald einer FPÖ-Intrige zum Opfer.

Mit EU-Experten taten sich alle österreichischen Regierungen schwer. Der erfolgreiche EU-Kommissar Franz Fischler, die Generalanwältin beim Europäischen Gerichtshof, Christine Stix-Hackl, der Eurogruppen-Chefexperte Thomas Wieser und viele andere wurden nach ihrer Rückkehr aus Brüssel oder Luxemburg eher verräumt und nicht auf adäquate Posten gehievt. So wurden auch Chancen auf europäische Top-Positionen versäumt.

Österreichs Regierungen folgten bei vielen Themen ihren Kollegen in Berlin, statt eigene Initiativen vorzulegen und dafür Verbündete zu suchen. So wurde wertvolles Know-how in Mitteleuropa und auf dem Balkan nicht umgesetzt. Dabei hatte die EU schon in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsantrag auf die Brückenfunktion Österreichs hingewiesen. Zuletzt präsentierte Bundeskanzler Sebastian Kurz beim EU-Gipfel in Sibiu Ideen für Reformen des EU-Vertrags, Monate nach seinem EU-Vorsitz und ohne sich vorher mit Kollegen abzustimmen - ein Lehrbeispiel dafür, wie man in der EU Vorschläge nicht einbringen soll.

Seine Kritik am Asylkurs der deutschen Kanzlerin Angela Merkel kam auch nur in deutschen TV-Talkshows und bei antieuropäischen Parteien gut an. Merkel hatte in ihrer Amtszeit zwar viele proeuropäische Initiativen gesetzt, doch sie ging dabei oft zu zögerlich vor. In der Finanzkrise und der folgenden Euro-Krise rund um Griechenland hätte ein schnelleres Eingreifen die nachfolgenden Milliardenzahlungen reduzieren können. Dass nur ein harter Sparkurs verordnet wurde, mit schweren Einschnitten im Sozialbereich, war rückblickend ein schwerer Fehler der EU.

Und dieser setzte sich fort, als mit EU-Geldern für Griechenland hauptsächlich deutsche und französische Banken vor der Pleite bewahrt wurden. Viele enttäuschte Bürger wandten sich von Europa ab und den Populisten zu. Diese profitierten dann auch von der Migrationskrise. Mehrere Länder - von Polen bis Ungarn -lehnten die von Juncker vorgeschriebenen Aufnahmequoten ab. Jetzt rächte sich, dass Brüssel nichts gegen die Ost-West-Kluft unternommen hatte. Die EU braucht Reformen und muss wieder handlungsfähiger werden, vor allem in zentralen Themen.

Am vergangenen Mittwoch hielt Hugo Portisch bei der Präsentation der neuen ORF-III-Dokumentation über die "Geburt Europas" in der Wiener Hofburg ein flammendes Plädoyer für Europa. Er warnte vor "Populisten und Demagogen ", die den nationalen Weg als allein seligmachenden Pfad predigen. Dieses Denken habe zu zwei Weltkriegen geführt. "Leider gibt es jetzt auch bei uns eine solche nationale Bewegung", klagte die Journalistenlegende. "Es ist die FPÖ, die Sebastian Kurz zu zähmen versucht hat. Das ist ihm nur teilweise gelungen, am Ende dann doch nicht."

CHRONIK DER EU

1987 François Mitterrand und Helmut Kohl brachten Europa voran

Bauern-Demonstrationen prägten seit 1957 das Image der EU

1989 Fall der Berliner Mauer am 9. November

1992 EU-Kommissionspräsident Jacques Delors (mit profil-Redakteur Otmar Lahodynsky) verwirklichte den Binnenmarkt

1994 Brigitte Ederer und Alois Mock beim Abschluss der Beitrittsverhandlungen

2002 Euro-Einführung mit EU-Kommissar Franz Fischler, EU-Kommissionschef Romano Prodi und Bundeskanzler Wolfgang Schüssel zu Neujahr in Wien

2015 Der griechische Premierminister Alexis Tsipras und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel in der Euro-Krise

2019 Die britische Premierministerin Theresa May scheitert mit dem Brexit-Vertrag und gab nun ihren Rücktritt bekannt