Fernost-Kultur

Fernost-Kultur: Big in Japan

Big in Japan - Die westliche Popkultur im Bann fern-östlicher Bildwelten

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Ein altes japanisches Schwert fällt, offenbar schlecht angebracht, 1884 von der Wand eines Arbeitszimmers. Der Hausherr hält dies für ein Zeichen. Er beginnt, sich mit der japanischen Kultur, soweit sie ihm im beschaulichen South Kensington zugänglich ist, genauer zu befassen. Gemeinsam mit seinem Kompagnon wird er eine „japanische“ Operette schreiben – und mit ihr Musikgeschichte: eine grelle Travestie fernöstlicher Anmut, ein bizarres Bühnenspektakel als Remix westöstlicher Theatralik. Der Mann heißt W. S. Gilbert, sein Partner Arthur Sullivan und das Werk „The Mikado“. Mike Leighs „Topsy-Turvy“ (1999), eine filmische Rekonstruktion der Entstehung dieser Operette, hat die (historisch verbürgte) Anekdote von der fallenden Antiquität überliefert – und die unvermeidlichen Reibungsverluste in der Transformation von japanischer in europäische Kultur lustvoll vorgeführt.

Gewaltphantasmen. In Hollywood fällt heute nichts mehr von der Wand, Schwerter schon gar nicht: Sie sind im amerikanischen Unterhaltungsfilm längst zu Hauptdarstellern avanciert. Wer die Klinge nicht zu führen weiß, also von asiatischen Kampfsporttechniken wenig Ahnung hat, wird im US-Actionkino des frühen 21. Jahrhunderts auf verlorenem Posten stehen. Von den kathartischen Gewaltphantasmen des in Amerika arbeitenden Hongkong-Stilisten John Woo („Face/Off“) bis zur „Matrix“-Trilogie, deren Martial-Arts-Szenen der chinesische Meisterchoreograf Yuen Wo Ping gestaltet hat, von „Kill Bill“, Quentin Tarantinos Hommage ans wüste Hongkong-Kino der sechziger und siebziger Jahre, bis zu dem neuen, inferioren Cruise-Kriegskitschfilm „The Last Samurai“ (siehe Filmkritik-Kasten): Fernöstliche Bilder, Techniken und Fantasien sind im amerikanischen Mainstreamfilm mittlerweile allgegenwärtig. Aber das Kino steht damit nicht allein da; in ihm wird nur anschaulich, was in größeren Zusammenhängen inzwischen die westliche Populärkultur – und mit ihr auch Literatur und Kunst – erfasst hat.

Die Anfänge dieser Entwicklung liegen indes schon einige Zeit zurück: Das ganz eigene japanische Verständnis von Pop etwa – geprägt von Extremen, von Kindlichkeit und Aggression, von Naivität und Kalkül – ist auch hierzulande seit den siebziger Jahren dauerpräsent. Es könnte allerdings sein, dass man das seinerzeit gar nicht bemerkt hat: Populäre Zeichentrick-Fernsehserien wie „Heidi“ und „Die Biene Maya“ vermittelten Weltbilder und Bildwelten, denen man ihre Herkunft nicht ohne weiteres ansehen konnte, die sich aber doch markant vom westlichen Kinderfernsehen unterschieden – auch in ihrer betont industriellen, dennoch nicht lieblosen Machart. In jenen Tagen vollzog sich ein Paradigmenwechsel: Das Kinderspielzeug wurde virtuell, unangreifbar, weil es als Fantasieware in der Bildermaschine hergestellt wurde. Später schlugen Pokémon und Tamagotchi in dieselbe Kerbe, prägten die Kindheiten nachrückender Generationen.

Kugelaugen. Dabei ist es stets auch zu einem ästhetischen Wechselspiel zwischen West und Fernost gekommen: Heidis weit aufgerissene Kugelaugen signalisierten nicht nur das heftige Interesse japanischer Anime-Designer, am Weltmarkt zu reüssieren, sondern auch westlich geprägte asiatische Schönheitsideale. Die Superstars der gegenwärtigen Popkultur von Tokio bis Taipeh passen da bestens ins Bild: Den Schauspieler Ken Takakura etwa nennt man „Japans Clint Eastwood“, Cantopop-Größe Andy Lau erinnert an den jungen Alain Delon, und die chinesische Filmgrazie Gong Li genießt in Europa und Amerika seit einigen Jahren Supermodel-Status.

Zum Austauschverfahren gehört aber auch der Übertritt westlicher Filmstars in den Fernen Osten. Er findet, bewusst oder unbewusst, derzeit sogar in den Erzählungen selbst statt: Tom Cruise wird in „The Last Samurai“ ebenso wie Bill Murray in „Lost in Translation“ ins fremde Japan berufen, wo man für westliches Charisma viel Geld auszugeben bereit ist. Und Tarantino, ein Virtuose der Stilfusion, verpflanzt in „Kill Bill“ Rächerin Uma Thurman in einen alten chinesischen Schwertkampfthriller, einen wu xia, in dem ganz mühelos noch Motive des japanischen Yakuzafilms und des amerikanischen Western Platz finden.

Die erhöhte ästhetische Attraktion asiatischer Bildwelten im Auge des westlichen Betrachters ist auf zwei Qualitäten zurückzuführen: Sie sind „fremd“ genug, um als modische Oberfläche schnell wirksam zu werden – und sie unterliegen rigorosen Ordnungen, sind in der Regel als streng ritualisiert zu erkennen, womit sie sich reizvoll von den Chaoszuständen der westlichen Unterhaltungskultur unterscheiden. Action erscheint hier als komplexe Choreografie, nicht als Detonation, als Tanz, nicht als blanke Zerstörungswut. Die feinere Klinge ist sogar in der Literatur noch zu spüren, in den Romanen des Japaners Haruki Murakami etwa oder des chinesischen Autors Ha Jin (siehe auch Literatur-Kasten rechts außen): Die stilistische Simplizität dieser Schriftsteller führt zu erstaunlichen Verkaufszahlen, die erhöhte Zugänglichkeit zu ungeahnter Popularität.

Die Zeichenhaftigkeit, die vor allem die japanische Gesellschaft durchdringt, scheint prädestiniert für ihren Einsatz in der Trivialkultur. In einem Land, in dem – wie 1970 schon der Philosoph Roland Barthes in seinem Japan-Bändchen „Das Reich der Zeichen“ fasziniert festgehalten hat – selbst die Lebensmittelzubereitung grafischen Richtlinien folgt, liegt es vergleichsweise nahe, ästhetisch dominante und vielfach benutzbare Formen zu entwickeln. Dabei geht der Einfluss asiatischer Ästhetiken über die Popkultur weit hinaus: Zwar scheint dieser Tage eher die kindlich-bizarre japanische Gegenwartskunst – repräsentiert von Künstlern wie Yoshitomo Nara und Takashi Murakami – eine neue Hochkonjunktur im Westen zu erleben; in den vergangenen Jahren war es eher die sozialpolitisch brisantere chinesische Kunst, die bei allen wesentlichen Ausstellungen, von der Kasseler documenta bis zur venezianischen Biennale, ein visuelles und gedankliches Zentrum bildete.

Die Grenzen zwischen high und low in der Kunst haben sich in Japan längst erledigt. Die japanischen Comics, genannt Mangas, verdeutlichen dies: Über zwei Milliarden Mangas gehen in Japan jährlich über die Ladentische – und anders als hierzulande gelten diese Comics, trotz bisweilen pornografischer Schlagseite, als absolut salonfähig. Der Transfer nach Europa ist hier jedenfalls geglückt: Die deutschen Verlage Carlsen und Ehapa publizieren seit 1996 Manga-Serien im Dutzend, hergestellt nach traditioneller Art, also vorzugsweise in sprödem Schwarz-Weiß – und auch in deutscher Fassung von hinten nach vorne zu lesen. Nach der einsamen Erfolgsgeschichte der „Akira“-Serie vor gut zehn Jahren verkaufen heute Serien wie „Dragon Ball“ oder „Sailor Moon“ allein in Deutschland weit über 60.000 Exemplare. Mangas kennen weder Genre- noch Lesergrenzen, sprechen mit spezialisierten, genau berechneten Serien jeden und jede an – Kinder, Teenager, Männer und Frauen: Die so genannten „Redisu komikku“ (japanische Version des englischen Begriffs „Ladies’ Comic“) etwa richten sich in Japan höchst erfolgreich, übrigens gern auch mit expliziten Sexdarstellungen, an erwachsene Frauen.

Naiver Futurismus. Der Welterfolg der Mangas wiederum hat die Popmusikindustrie nicht unbeeindruckt gelassen. Die französischen Club-Superstars Daft Punk beispielsweise haben einen legendären Manga-Designer verpflichtet, Bilder zu ihrer Musik zu kreieren: Leiji Matsumotos naiv-futuristische Zeichnungen prägen die soeben erschienene Clip-Sammlung „Interstella 5555“. Auch der asiatische Zeichentrick, in Japan mit dem schönen Namen Anime belegt, hat seinen Siegeszug im Westen angetreten. Seit den späten siebziger Jahren sind Animes auch im Kino erfolgreich. (Eine der ersten dieser Arbeiten, „Galaxy Express 999“ (1979), deren visuelles Design ebenfalls Leiji Matsumoto überwacht hat, ist nun erstmals auch in Wien zu sehen.) Der derzeit wohl berühmteste Anime-Regisseur heißt Hayao Miyazaki; seine kunstvoll inszenierten Fantasyfilme – „Prinzessin Mononoke“ oder „Chihiros Reise ins Zauberland“ – passen in den Rahmen renommierter Filmfestspiele ebenso gut wie in die Kinos europäischer und amerikanischer Großstädte.

In Stimmung. Grundsätzlich kommt heute kein Filmfestival, das auf seinen Ruf Wert legt, ohne neues asiatisches Kino aus: Wong Kar-wai und Jia Zhangke, Hou Hsiao-hsien und Takeshi Kitano heißen die Regiestars des fernöstlichen Autorenfilms. Deren Produkte haben keineswegs nur in den geschützten Werkstätten der Kunst eine Chance, sondern durchaus auch im Kinoregulärbetrieb: Wongs „In the Mood for Love“ geriet 2001 sogar zu einem veritablen Welterfolg.

„Mono no aware“ heißt es in einer gängigen japanischen Wendung: Alle Dinge, alle Gedanken sind stets in Bewegung, und am Ende ist alles vergänglich. Es ist wohl auch solch sicheres Wissen, das dazu beiträgt, gute Kunst herzustellen; vielleicht macht auch dies die Faszination jener Bilder aus, die der fernöstliche Blick auf die Welt liefert. Der Einfluss asiatischer Sichtweisen wird in New Yorks Kunstszene demnächst dennoch zu den wirklich harten Fakten gehören, wird sich zu Beton, Glas und Metall verdichten: Das neue Museum of Modern Art, das in Manhattan gerade entsteht, hat der Architekt Yoshio Taniguchi entworfen, das New Museum of Contemporary Art an der Bowery errichtet Kollegin Kazuyo Sejima zusammen mit Ryue Nishizawa. Wenn die beiden Häuser 2005/2006 eröffnet werden, wird die japanische Kunst, so vergänglich sie letztlich sein mag, erneut unübersehbar sein.